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<strong>BA</strong>D<br />
ALCHEMY<br />
<strong>55</strong><br />
1
Everything is confused, not mysterious, but lost like a set of car<br />
keys or the meaning of a cliché. We look to our roots, sort of retrace<br />
our steps. Find some sort of primal self-awareness. We look<br />
to varying degrees of alterity, our own journey to the East. But<br />
metaphysics just aren't in vogue any more. We need a medium. Some<br />
means of connection. Some language bridging the gap between<br />
action and belief... Rhythm, steady beating...<br />
It is a language even if our people's politicians and business execs<br />
can't hear it... But what does it mean to us? Does it mean anything<br />
or are we inventing some sense to it does it matter?... We allow ourselves<br />
to be confused by it. But in the shared sound is the familiarity<br />
of not being alone in our loneliness; connection with something.<br />
A sense of something beyond the self. Music, rhythm, freedom,<br />
and spirituality all blend together in a way unique to the listener,<br />
the culture, and create the listener-already-in-culture.<br />
Jazz is the crossroads, the journey to and in one's culture/self.<br />
Tim Duggan Street Gospel Intellectual Mystical Survival Codes<br />
www.angelfire.com/jazz/masada/jazz23.html
...Jacopo Battaglia (Zu), Gregg Bendian (The Mahavishnu Project), Daniel Denis (Univers<br />
Zero), Hamid Drake (DKV, Spaceways Inc.), Lou Grassi, Paul Lovens, Paul Lytton, Sean<br />
Noonan (The Hub), Ray Sage (W.O.O. Revelator), Dave Smith (Guapo), Chad Taylor<br />
(Chicago Underground Duo, Sticks and Stones), Claudio Trotta (Testadeporcu), Christian<br />
Vander (Magma), Weasel Walter (The Flying Luttenbachers), Tatsuya Yoshida (Ruins, Painkiller),<br />
Michael Zerang (Survival Unit III)... Die Godz of Rhythm meinen es offenbar gut mit<br />
mir, denn all diese Taktzersplittrer und Helterskeltergroover<br />
brachten mich in den letzten Jahren live zum<br />
Staunen und vor allem zum Headbangen.<br />
Einer jedoch fehlt noch, MEIN persönlicher<br />
21 Century-Drummer, der, der mitmischt<br />
beim Sten Sandell Trio und Scorch Trio,<br />
der Territory Band und dem Peter Brötzmann<br />
Tentet, bei FME, Powerhouse Sound<br />
und nicht zuletzt The Thing. Geboren am<br />
24.12.1974 in Molde, aber aufgewachsen<br />
in einem Jazzclub in Stavanger, den seine<br />
Eltern leiteten. Mit 19 gründete er an seinem<br />
Studienort Trondheim seine eigene<br />
Band - Element. Ab 1996 in Oslo wurde<br />
er schon von den Jazzgrößen Håkon Kornstad<br />
und Frode Gjerstad in die norwegische<br />
Premier League aufgenommen und <strong>als</strong><br />
Nächstes spielte er mit schwedischen<br />
NowJazz-Originalen wie Sten Sandell<br />
und Mats Gustafsson. Am liebsten aber<br />
mit seinem Studienzeitbuddy, dem Kontrabassisten<br />
Ingebrigt Håker Flaten. Die beidsind<br />
überall dort anzutreffen, wo der spriwörtliche<br />
Hund in der Pfanne verrückt wiund<br />
der Bär tanzt. Ach, den Namen habe<br />
noch nicht genannt? Der Mann heißt<br />
P A A L N I L S S E N - L O V E<br />
kurz PNL, und ist unter den Anheizern des aktuellen skandinavischen Avantfeuers<br />
der feurigste und gleichzeitig facettenreichste. Z. B. mit ATOMIC. Obwohl<br />
dieses Quintett zu den Speerspitzen des Nordland-Nowjazz zählt, kannte ich<br />
bisher nur ihre Nuclear Assembly Hall-Kollaboration mit School Days. Den schwedischen<br />
Saxophon- & Klarinettisten Fredrik Ljungkvist (*1969, Kristinehamn) hörte ich<br />
zudem mit der Territory Band. Und was Ingebrigt Håker Flaten & PNL angeht, da bin<br />
ich Groupie. Dazu kommen der auch mit Free Fall bekannte Pianist und, neben Ljungkvist,<br />
Hauptideenlieferant Håvard Wiik und der 1965 im schwedischen Huskvarna geborene<br />
Magnus Broo mit seinem flexiblen Trompetenton. Aber Knowhow allein macht<br />
es nicht und Cage‘sche Weisheiten ebensowenig. Entscheidend ist der Tropfen im Blut,<br />
der verursacht, dass einem die schöne neue Welt nicht schön und neu genug erscheint.<br />
Die erlöste Welt ist bekanntlich wie die unerlöste, nur ein wenig anders. Wie sich dieses<br />
‚ein wenig‘ anhören kann, wenn man es auf Jazz anwendet, darum dreht sich Happy New<br />
Ears (Jazzland Recordings, 987 6<strong>55</strong>-4). Beispielhaft beim lyrischen ‚Poor Denmark‘ mit<br />
seinen melodiösen Konsonanzen und Unisonopassagen. Nur klappert PNL dazu seltsames<br />
Zeug, bis auch er sich dem Blue Note-Bop der Bläser anschließt, die aber plötzlich wieder<br />
von ‚hard‘ auf poetisch umschalten, während im gleichen Moment die Rhythmik wieder<br />
zersplittert. Die fünf beherrschen dieses In-Out-Spiel mit kleinen Abweichungen virtuos.<br />
So dass einen gleichzeitig immer ein Déjà vu am Haken hat, Links in alle Ecken der Jazzgeschichte,<br />
mit Vorlieben für Giuffre oder Bill Evans, und doch ein Element ein wenig aus<br />
dem Ruder läuft. Mitwippseligkeit wie beim Ohrwurmmotiv von ‚Roma‘, traumhaft Schönes<br />
wie das Arcointro zum schönen ‚Sooner of later‘ oder wie Broos Trompetensolo bei ‚Crux‘<br />
und wie ‚Closing Stages‘ insgesamt, aber durchschauert von Frischeschocks. Denn hört<br />
euch nur an, wie PNL dazu trommelt - <strong>als</strong> ob er sich gegen Cecil Taylor behaupten müsste!<br />
Selbst wenn er Süßholz raspelt, fliegen Splitter. Durch diese spannungsvollen<br />
und leicht irritierenden Diskrepanzen, mit dem quirligen<br />
‚Two Boxes Left‘ <strong>als</strong> Merkur und dem brummigen ‚Cosmatesco‘<br />
<strong>als</strong> Saturn, macht Atomic tatsächlich happy.<br />
3
PNL hat mit LASSE MARHAUG einiges gemeinsam,<br />
den Jahrgang 1974, Norwegen <strong>als</strong> Brutstätte und<br />
eine Vorliebe für Noise, nicht <strong>als</strong> Nebeneffekt, sondern<br />
<strong>als</strong> Stoff. Bei Marhaug ist das Faible für<br />
SchMerzPunkDaDa à la Merzbow bekannt, durch Origami<br />
Replika oder Jazkamer. Er und PNL kennen<br />
sich spätestens seit 2003, <strong>als</strong> sie auf dem NuMusic<br />
Festival in Stavanger zusammen spielten (Personal<br />
Hygiene, Utech), seit 2004 agieren sie auch gemeinsam<br />
in der Territory Band. Gemeinsam ist ihnen definitiv<br />
auch der Spaß an Höllenkrach und entsprechend<br />
gebärden sie sich auf Stalk (PNL Records,<br />
PNL001) <strong>als</strong> ‚Paranoia Agenten‘ in einem ‚Satanico<br />
Pandemonium‘. Zuerst hört es sich an, <strong>als</strong> ob PNL<br />
hier auch zu elektronischen Waffen greift, um kakophon<br />
zu dampfen und zu spritzen. Aber dann erkennt<br />
man doch deutlich inmitten von Marhaugs<br />
Sampling- und Feedbackknurschen wie er Alarm<br />
schlägt, wie seine Becken beben und rauschen, wie<br />
er mit Holz und Bronze schabt und kratzt und mit<br />
Ketten rasselt. Bei ‚The Last Exile‘ und ‚The Lodger‘<br />
interagiert er mit splittrigen Flirrschlägen und rasenden<br />
Snarewirbeln mit Marhaugs Cut-up-Schnipseln<br />
von Stimmen oder aggressiv pochenden, stechenden<br />
Noisefetzen. ‚Tenebrae‘ ist ein nahezu manischer<br />
Trommel-Strepitus, zu dem Marhaug einen<br />
brüllenden Loop-Twister immer näher rücken lässt,<br />
bis man in den Mahlstrom mitgesaugt wird. ‚I Will<br />
Walk Like a Crazy Horse‘ lässt in der Ferne Panzer<br />
vorüber rollen, die Schrottteile klackernd beben lassen,<br />
während ein Funkgerät nur verstümmelte Laute<br />
spotzt. Das Grollen rückt immer näher, das gestörte<br />
Funkgerät prasselt ohne Kontakt. Und ich möchte<br />
wetten, dass zu dem, was die beiden Norweger verbindet,<br />
auch eine Vorliebe für nervenzerrende Action-<br />
und Schauerfilme gehört.<br />
PNL, der für Stalk sein eigenes Label installierte, hat<br />
zwar mit Sticks & Stones (SOFA, 2001) und 27 Years<br />
Later (Utech, 2005) demonstriert, wozu er alleine in<br />
der Lage ist, lieber aber sucht er die Herausforderung<br />
im Dialog mit Saxophonisten wie Vandermark,<br />
Gustafsson, Håkon Kornstad oder John Butcher,<br />
dem Moha!-Gitarristen Anders Hana, sogar mit einem<br />
Kirchenorganisten (Pipes & Bones, 2005). In<br />
der Transparenz der Trios mit Sandell & Berthling<br />
oder Vandermark & McBride zeigt er sich <strong>als</strong> agiler<br />
Teamspieler, kein Drescher, immer mit quicken, abrupten<br />
Bewegungen, starkem Vorwärtsdrang und<br />
übersprudelnder Klangvielfalt. Da zeigt sich schon<br />
sein vulkanisches Temprament, das ihn dorthin<br />
drängt, wo die Schmerzlust am grössten zu sein verspricht.<br />
Das flirrend Abrupte und ein sarkastischer<br />
Unterton erinnern an Lytton, aber PNL mischt dazu<br />
Free Form-Rockabilly und Hardcore. Diesen Neigungen<br />
entspricht auch sein halbstarker Outfit und seine<br />
Mimik, wenn er sich so richtig ins Zeug legt, etwa<br />
mit Raoul Björkenheim im Scorch Trio und beim rasanten<br />
Neo-No Wave von The Thing. Da explodiert er<br />
<strong>als</strong> Selbstmordattentäter für eine Erlösung der Welt<br />
durch Rhythm & Noise, wie es sich Stockhausen<br />
nicht besser erträumen könnte.<br />
4<br />
Eine absolute Herkulesaufgabe meisterte<br />
Nilssen-Love bei The First Original<br />
Silence (Smalltown Superjazz,<br />
STSJ124) von ORIGINAL SILENCE.<br />
Unter diesem unscheinbaren Namen<br />
probt ein Allstarteam den Aufstand<br />
gegen die Trägheit der Herzen, das<br />
sich zusammensetzt aus dem Zu-<br />
Bassisten Massimo Pupillo, den Gitarristen<br />
Terrie Ex und Thurston Moore,<br />
Jim O‘Rourke an Electronics und<br />
Mats Gustafsson an Bariton- & Slidesaxophon<br />
+ Effekten. Letztere bilden<br />
<strong>als</strong> Diskaholics Anonymous Trio die<br />
Keimzelle dieses Noisemonsters, dem<br />
Pupillo Säureblut durch die Adern<br />
pumpt mit seinem entsprechend<br />
monströs bratzenden Splatterfuzzbass.<br />
Im viertelstündigen ‚If Light Has<br />
No Age, Time Has No Shadow‘ legen<br />
sie <strong>als</strong> Grobschmiede ihre Eisen ins<br />
Feuer, im dreiviertelstündigen ‚In the<br />
Name of the Law‘ unternehmen sie<br />
eine Aventure und gleichzeitig eine<br />
Analyse des Bratzens. Während die<br />
Titel angeregt wurden durch Carl<br />
Frederik Reuterswärd, hierzulande<br />
bekannt durch seine verknotete Pistole<br />
vor dem Kanzleramt, saugt dieser<br />
kollektive Free Noise seine Lebensenergie<br />
aus mutierten Freakzellen,<br />
aus verzerrten Parts maudit von<br />
Rock, Jazz und Electro. ‚If Light...‘ ist<br />
hochenergetisch und PNL hat alle<br />
Hände voll zu tun, um dem schnell<br />
wachsenden Godzilla Schuppen und<br />
einen Zackenkamm zu schmieden.<br />
Man muss ein Alien sein, um zu PNLs<br />
Gepolter und dem Schrappeln der<br />
drei Stringwrestler ein Tänzchen zu<br />
wagen. ‚In the Name...‘ sammelt sich<br />
zur rasanten Schussfahrt, an deren<br />
Ende Gustafsson, von PNL angestachelt,<br />
einen Durchbruch bohrt. Nach<br />
allen Richtungen echolotend, durchqueren<br />
die Sechs eine Noiseuntiefe,<br />
bis erneut das Saxophon eine Membrane<br />
aufreißt, durch die sich bruitistische<br />
Ursuppe ergießt, die gemeinsam<br />
durchpflügt wird, um endlich ans<br />
Ziel zu kommen - das anfängliche<br />
Grundrauschen, das A und O, die<br />
Uroborosschlange, die diese Musik<br />
die ganze Zeit beschwört. PNL kann<br />
hier alles zeigen, den polternden,<br />
scheppernden Troll, vertrackt und<br />
groovig, den Kardiologen, der auf<br />
Kammerflimmern lauscht, den rasselnden<br />
Schamanen, der die Väter<br />
der Trägheit in Schach hält. An ihm<br />
beißen sich Zynismus und Borniertheit<br />
die Zähne aus.
THE THING vs ZU Live am 24. Mai 2007<br />
Wenn Boreas und Notos aufeinanderprallen<br />
Etwas Besseres <strong>als</strong> den kultigen club W71 in Weikersheim<br />
<strong>als</strong> zweite Etappe ihres Vierländerspringens<br />
mit den Stationen Schorndorf ... Wels - Stirling<br />
- Moers – Bergen hätten sich diese beiden Trios<br />
nicht wünschen können. Dazu war noch Reinhard<br />
Kager mit dem NOWJazz-Aufnahmewagen des<br />
SWR2 angereist, um die Mikrophone auf die zu erwartenden<br />
orkanartigen Böen zu richten. Vom<br />
Hausbrand der Gastgeber und Gekicke auf dem direkt<br />
benachbarten Sportplatz selber schon vorgeheizt,<br />
brauchten Mats Gustafsson, Paal Nilssen-<br />
Love & Ingebrigt Håker Flaten keine drei Minuten,<br />
um den Club von einer bereits dampfenden Sauna<br />
in eine Friteuse zu verwandeln und ihre schwarzen<br />
Ruby's Barbecue-T-Shirts noch etwas schwärzer zu<br />
färben. Harry Lachner spricht beim aktuellen SWR2-<br />
NOWJazz-Thema ‚Taktlos – vom Verschwinden des<br />
Beats’ von einer ‚Ästhetik des Zersplitterten’. Er<br />
muss dabei dieses norwegische Rhythm-Team im<br />
Ohr haben. Wenige zerhacken den Takt so fraktal<br />
und vehement wie Nilssen-Love, der mit seiner<br />
scheppernden, peitschenden Cut-Up-Ästhetik NOW-<br />
Jazz seinen Stempel aufdrückt. Håker Flaten bekrabbelt<br />
dazu seinen Kontrabass mit Fingern, so<br />
flirrend und verwischt wie futuristisch gemalt, er<br />
lässt die Saiten knallen und klatschen, kämpft wie<br />
ein Berserker, um noch die letzten Funken aus diesem<br />
Funk zu schlagen. Denn The Thing ist der unbändige Nordwind. Gustafsson bekommt<br />
einen ganz dicken H<strong>als</strong>, kniet sich mit aller Inbrunst dem Feuerdrachen auf die Brust, entflammt<br />
selbst, zerraspelt und zerplopt ein Reedblättchen nach dem andern, macht sich bei<br />
den hohen Tönen lang und dünn wie eine Rohrdommel, schürt die Glut wie ein Speedmetalgitarrist.<br />
So muss das sein.<br />
Im fliegenden Wechsel dann Zu, sprich Jacopo Battaglia – Drums, Massimo Pupillo – E-Bass<br />
& Luca T Mai – Baritonsax. Gleiche Intensität, aber ganz anderes Spiel. Wenn The Thing<br />
Free Jazz hyperventiliert, dann mischen die Italiener Melvins, NoMeansNo und Lightning<br />
Bolt. Battaglia bolzt mit der Basstrommel und rifft die ‚Muro Torto‘-Marschbeats, stakkatohaft,<br />
brachial. Mai, ein bulliger,<br />
schwarzbärtiger Ahabtyp<br />
pusht und hält Saxdrones<br />
wie ein elastisches, erdbebensicheresHochhausfundament.<br />
Aber der Gipfel, das<br />
sind Pupillos Basstraktate, so<br />
diskant, sprunghaft und rasend,<br />
so ‚Wolf Day‘-fuzzig und<br />
knurrig, dass selbst Hölle,<br />
Tod und Teufel sich ein Lächeln<br />
nicht verkneifen können.<br />
Ich muss zugeben, dass<br />
ich die Drei unterschätzt habe,<br />
Zu ist eine schwarze Maschine<br />
geworden, unaufhaltsam<br />
und mitreißend.<br />
Jetzt erst mal Pause zum<br />
Luftschnappen, mit klingelnden<br />
Ohren und nur langsam<br />
abklingendem seligen Grinsen.<br />
5
6<br />
Dann Doppelpack, Nordwind und Südwind,<br />
verabredet zur gemeinsamen<br />
Himmelfahrt, im wirbelnden, fauchenden<br />
Miteinander. Die beiden Drummer<br />
kicken in sagenhaftem Rapport immer<br />
wieder ricochettierende Synchronzuckungen<br />
los, splittern kontrapunktisch<br />
auseinander, die beiden<br />
Bassisten gehen <strong>als</strong> Einzelkämpfer<br />
durchs Feuer, die beiden Saxophonisten<br />
prusten und röhren bis die Trommelfelle<br />
an der Schädeldecke kleben.<br />
Stop & Go <strong>als</strong> Blitzgewitter, dann wieder<br />
Headbangerriffs, die man nur<br />
zustimmend abnicken kann, alles bei<br />
furiosem Gegenwind, und plötzlich<br />
sind wir mitten in ‚State of Shock’ von<br />
The Ex! ROCK’N’ROLL!!! Fast hilflos<br />
wirft man sich ungläubige Blicke zu.<br />
Ist das zu fassen!? Zwischen soviel<br />
gleisender Hymnik und Intensität<br />
stimmt Gustafsson lyrische Töne an<br />
und transferiert einen Schockzustand<br />
in einen andern. Dann wieder Noise<br />
as Noise can, von Håker Flaten per<br />
Laptop, Gustafsson mit Effekten und<br />
Pupillo mit stechenden, bratzelnden<br />
Stromkabelstörungen gekitzelt. Und<br />
schon wieder piano, Nilssen-Love<br />
boingt seinen Gong, versetzt dem Becken<br />
sanfte Stüber, lässt Bronzestaub<br />
rieseln und Gustafsson macht sich<br />
weich und leicht wie eine sanfte Brise,<br />
während der Schweiß von seiner<br />
Stirn längst nicht mehr tröpfelt, sondern<br />
rinnt. Irgendwann sind wir bei<br />
der dritten Zugabe, mit mehr <strong>als</strong> nur<br />
heißen Händen. Und das Sextett hat<br />
noch ein launiges Zackzackzackspiel<br />
in petto, die Drummer klacken im<br />
Wechsel Beatfolgen an, versuchen<br />
sich zu f<strong>als</strong>chen Einsätzen zu provozieren,<br />
aber die Band interagiert wie<br />
telepathisch auf Draht. Und geht,<br />
wenn‘s am schönsten ist.<br />
Soviel für Nichtpathetiker.<br />
Für die andern noch ein Nachsatz:<br />
Unter NowJazz verstehe ich die Art<br />
von Jazz, die nicht schon oder noch<br />
Jazz IST, sondern der Prozess eines<br />
WERDENS, getrieben vom Willen, direkt<br />
am Herzen von Musik sich die<br />
Lippen zu verbrennen. Ein Herz, das<br />
vielleicht ein weißes Rauschen ist,<br />
oder ein schwarzes Feuer. The Thing<br />
und Zu sind Zarathustrier, sowohl im<br />
Sinne von ‚Feueranbeter‘ wie von<br />
Nietzsche‘anische Dionysiker. Wer<br />
sich fragt, wie es klingt, wenn ‚alle<br />
Lust Ewigkeit, tiefe, tiefe Ewigkeit will‘,<br />
der hätte im W71 eine mögliche Antwort<br />
zu hören bekommen.
JOHN ZORNS POSSESSIONS<br />
Würde es nicht genügen, um At the Mountains of<br />
Madness (Tzadik, TZ7352, 2 x CD) zu würdigen,<br />
wenn ich einfach nur die Namen John Zorn, Marc<br />
Ribot, Jamie Saft, Ikue Mori, Trevor Dunn, Joey Baron,<br />
Kenny Wollesen & Cyro Baptista wie Perlen<br />
auffädle und feststelle, dass ELECTRIC MASADA<br />
live in Moskau und Ljubljana 2004 alle Wünsche erfüllte,<br />
die Herz & Hirn an Musik richten? Dass ich<br />
mir in den Arsch beißen könnte, weil bereits der<br />
Auftakter ‚Lilin‘ alle Register eines Updates von<br />
Jazzrock zog, ohne mich? Wobei der New Yorker<br />
Komponist & Altosaxophonist nur die dynamischsten<br />
und spannendsten Passagen von Mahavishnu<br />
Orchestra, Miles, Hancock und Zappa mit seinem<br />
Starkstromensemble an New York Now-Cracks aufgreift.<br />
Von seinen 50th Birthday-Allstars ist nur der<br />
Naked City-Drummer Baron auch ein weiterer Masada-Mann,<br />
aber mit Mori ist Zorn seit wohl 25 Jahren verbunden<br />
und was wären seine Filmmusiken ohne Ribot und Baptista? Dunn<br />
mit seiner Erfahrung <strong>als</strong> Mr. Bungle- und Fantomas-Bassist, Saft <strong>als</strong><br />
der Freak In-Keyboarder des Masada-Trompeters Dave Douglas, der<br />
New Klezmer- und Sex Mob-Trommler Wollesen, sie alle liefern die<br />
Synergie, um Zorns Fächer an Vorlieben so pfauenradmäßig aufzufalten,<br />
wie er das liebt. Jazz von Postbop bis zum schrillsten Overthe-Top-Kreischen<br />
auf dem Alto inklusive Naked City-Daumenkino<br />
(‚Hath-Arob‘), Exotica in träumerischer und schwelgerischer Opulenz,<br />
durchsetzt mit messianischer Hymnik (‚Abidan‘, ‚Kedem‘). Wobei<br />
all diese Hybridisierungen tatsächlich Zorns Vision einer New Jewishness<br />
entsprechen mögen, wenn ‚Jewishness‘ heißt, aus Allem<br />
das Beste zu machen und dabei H.P. Lovecraft mit Sabbatei Zwi,<br />
Marguerite Duras mit Mickey Spillane, Morton Feldman mit Carl<br />
Stalling und Primitiva mit Pangaea und I sing the Body Electric zu<br />
vermengen. Wer hat denn in den letzten Jahren Melodien zustande<br />
gebracht wie ‚Idalah-Abal‘ in all seiner von den Drummern zum Gipfel<br />
geprügelten Großartigkeit? Einen Blues wie ‚Yatzar‘, den Ribot<br />
herzzerreißend spielt, bevor man auf eine Enchanted Island entführt<br />
wird. Ribot ist trotz seiner Distanzierung von Zorns ideologischer<br />
Chuzpe mit ganzer Hingabe seine süßeste und seine gewaltigste<br />
Stimme. Für die Flohspringprozession ‚Metal Tov‘, im Vergleich zu<br />
der das Naked City-Original auf Radio zum folkloresken Tänzchen<br />
erblasst, schwingt er die Metal-Axt, um bei ‚Karaim‘, benannt nach<br />
dem türkischen Jiddisch und eine der innigsten Masadamelodien<br />
überhaupt, eines der schönsten Gitarrensoli der Instrumentalrockgeschichte<br />
zu erfinden. Da möchte man die Insel des vorigen Tages<br />
gleich noch einmal ansteuern und genau das geschah in Ljubljana.<br />
Sechs Stücke kehren wieder, nur zum Auftakt kommt statt ‚Lilin‘<br />
‚Tekufah‘ und beamt den 74er Miles 30 Jahre vorwärts in die Gegenwart<br />
und Ribot fetzt dazu einen Chorus nach dem anderen mit bisher<br />
unerhörten Delayeffekten. Moris Zwitschermaschine war selten so<br />
effektiv zu hören wie mit dieser phantastischen und toughen Wuxia-<br />
Musik. Jesus-Lookalike Saft läuft durch ‚Abidan‘ wie mit Katzenpfoten<br />
über Glas, dessen Splitter Mori funkeln lässt. Und Ribot, ach<br />
Ribot... Seine Gitarre killt vielleicht keine Nazis, aber sie spuckt Feuer<br />
und sie streut Rosen und manchmal bringt sie sogar die Rosen<br />
dazu, aufzuflammen. In solchen Burn, Baby, Burn-Momenten wird<br />
auch klar, wozu eine 3-köpfige Rhythmsection besonders gut ist. Wie<br />
sie bei ‚Idalah-Abal‘ Zorn auf ihren Schulten so nah ans Paradiestor<br />
stemmt, dass er ein Loch hinein bohren kann. Davon noch ganz fiebrig,<br />
federt sie durch ‚Kedem‘, das den Ljubljana-Abend mit einem<br />
Bitches Brew-Spektrum der elektrifizerten Masada-Ingredienzen beschließt.<br />
‚Jewishness‘ ist nur ein Gleichnis, das Unbeschreibliche,<br />
hier wird‘s getan.<br />
7
Die spezielle Befindlichkeit von Menschen, die ihrer ‚Jewishness‘<br />
‚entfremdet‘ sind, nannte Ned Rothenberg ‚Inner Diaspora‘. Bei John<br />
Zorn treibt dieses individuelle ‚Ausgesätwordensein‘ erstaunliche<br />
Blüten. Sein Anspielungsreichtum, unnötig belächelt, umfasst allein<br />
hier die dämonischen Töchter Liliths und Samaels (Lilin) und die 4.<br />
der Ägyptischen Plagen (Hath-Arob); Tekufah heißt (Jahres)-Kreislauf<br />
und Tagundnachtgleiche, Kedem bedeutet gleichzeitig Vergangenheit,<br />
Osten und vorwärts; ähnlich mehrdeutig ist Yatzar, erschaffen,<br />
hebr. wajjizer (1_Mos 2,7), wobei einige meinen, dass die zwei<br />
Jot auf das Zwiespältige der Schöpfung hindeuten (Jezer hara = böser<br />
und Jezer hatov = guter Trieb).<br />
Zorn ist permanent bestrebt, derart Disparates und In-Sich-Widersprüchliches zu<br />
fusionieren: The great work is the uniting of opposites - Kenneth Anger (Lucifer<br />
Rising), Antonin Artaud (Le Momo), Francis Bacon (Aporias), George Bataille (Leng<br />
Tch‘e), Hans Bellmer (Absinthe), Walter Benjamin (Angelus Novus), Joseph Beuys<br />
(The Nerve Key), Hieronymus Bosch (Chimeras), Luis Bunuel (Madness, Love and<br />
Mysticism), Ornette Coleman (Spy vs. Spy), Aleister Crowley (I.A.O.), Maya Deren<br />
(Filmworks X), Marcel Duchamp (Etant Donnes), Jean Genet (Elegy), Jean-Luc Godard<br />
(Godard), Ennio Morricone (The Big Gundown), Man Ray (Radio), Raymond<br />
Roussel (Locus Solus), Weegee (Naked City). Seine Mystic Fugu-, Number of The<br />
Beast-, Hermetic Theater- und Oulipo-Lesarten der Kabbala, die saloppe Art wie er<br />
das Buch Zohar zwischen dem Book of Heads und dem 7-bändigen Book of Angels<br />
neben das Necronomicon stellt, sein Zappen zwischen New York und Tokyo, Cartoon<br />
S/M, Manga-Bizarrerie und Jüdischer Überlebenskultur (The Port of Last Resort,<br />
Trembling Before G-d, Secret Lives) und wie er Tabu & Exil, Splatter & Romance<br />
ineinander blendet, das alles lässt sich kokett <strong>als</strong> TV-Sozialisation à la Tarantino<br />
oder Manie kurzer Aufmerksamkeitsspannen, <strong>als</strong> Chuzpe oder <strong>als</strong> dekadenter Eklektizismus<br />
abtun. Dabei folgt Zorn nur dem weißen Kaninchen von einer Faszination<br />
zur nächsten, seitdem er mit 19 sein erstes Stück komponierte und nach einem Gedicht<br />
von Coleridge ‚Christabel‘ nannte. Danach - ein wucherndes Aderngeflecht<br />
von Game Pieces, Bebop, Soundtracks, Jazzcore, Musica Nova, Fusion, Musique<br />
concrète, Exotica - Naked City (1989-92), Painkiller (1991-), Masada (1994-), Tzadik<br />
(1995-) ... William Schuman Award 2007 (mit Vorgängern wie Gunther Schuller 1989,<br />
Milton Babbitt 1992, Steve Reich 2000) ...<br />
Das Masada-Projekt ist Asher Ginzberg aka Ahad Ha‘am (1856-1927) gewidmet,<br />
dem Gründervater des Kulturellen Zionismus, der zu einer Renaissance<br />
der Jüdischen Kultur aufrief, die diasporisch verstreut, in Genisot versteckt<br />
oder durch Assimilierung kaschiert auf Schnitzeljäger wartet. Zorn zitiert dazu<br />
den Kabbala-Experten und Sabbatei Zwi-Biographen Gershom Scholem (1897-<br />
1982), der von „a treasure hunt“ gesprochen hat, „which creates a living relationship<br />
within tradition“, selbst wenn sie außerhalb des orthodoxen Rahmens<br />
stattfindet. Für Zorn kann der Rahmen nicht unorthodox genug sein - Sex, Crime,<br />
Kitsch, Werbung, Bacharach, Bolan, Gainsbourg... POWERFUL SECRETS<br />
are revealed through INTENSITY and EXTREMES of experience. Das Buch, in<br />
dem alles steht, ist zerfleddert in Fitzelchen, wie sie auf den Masada-Covers zu<br />
sehen sind. Die Gnosis des Isaak Luria (1534-1572) erklärt diesen Zustand mit<br />
dem Schebirath ha-kelim (dem „Zerbrechen der Gefäße“) und sieht den Erlösungsweg<br />
in Tikkun olam („Wiederherstellung“), von der auch das Buch Zohar<br />
spricht. Dabei geht es darum, die zerstreuten ‚Licht- / Geistfunken‘ zu sammeln<br />
- „You could call it stealing, you could call it quoting, you could call it a lot of<br />
different things.“ Soviel zu Zorns ‚Eklektizismus‘. Es geht um „spiritual possessions“<br />
im Sinne von Besitz- und Eigentum - aber vielleicht auch von Besessensein<br />
(wie im kabbalistischen Konzept des Ibbur) - , wobei Ha‘am das explizit<br />
nicht auf einen ‚Staat Israel‘ bezog, sondern auf Sprache und Literatur, auf ein<br />
‚Imaginäres Israel‘, ein ‚Inneres Israel‘. Jedes Fitzelchen Text ist dabei Teil eines<br />
größeren Puzzles, jeder Text ist Interpretation und wieder Gegenstand von<br />
Interpretation, Glied in einer Midrash-Kette, die um etwas Unnennbares kreist,<br />
das so bewusst gehalten wird. Zorn beschrieb Spillane <strong>als</strong> „a kaleidoscopic<br />
rollercoster ride through an imaginary narrative.“ Auch sein Lebenswerk <strong>als</strong><br />
Ganzes ist damit treffend charakterisiert.<br />
8
Die Six Litanies for Heliogabalvs (TZ 7361) hat Zorn Varèse, Crowley<br />
und Artaud gewidmet, aus dessen Héliogabale ou L’anarchiste couronné<br />
von 1934 er den Hinweis pflückte, den berüchtigten römischen<br />
Kaiser (+ 222) nicht <strong>als</strong> madman zu betrachten, sondern <strong>als</strong><br />
rebel. Als Marcus Aurelius Antoninus war der gerade mal 13-jährige<br />
Teenager Kaiser geworden und durch seinen Versuch, sich selbst<br />
<strong>als</strong> der androgyne Elagabal des Sonnenkultes zu vergöttlichen ein<br />
Stein des Anstoßes für alle, die Rom lieber <strong>als</strong> Phantasma aus Disziplin<br />
und ‚männlichen Tugenden‘ bewahren möchten. Zorn streut<br />
ihm mit seinen Six Litanies Rosenblätter, wie schon Lawrence Alma-<br />
Tadema, der mit The Roses of Heliogabalus (1888) eine sadomasochistische<br />
Phantasie der Decadence ausgemalt hatte - unter<br />
Rosenblättern zu ersticken. Allerdings sind Zorns Rosen perverse<br />
Blumen, wenn nicht des Bösen, dann der Schmerzlust, gepflückt im<br />
Garten der süßen Qualen. Mit Joey Baron, Trevor Dunn, Jamie Saft,<br />
Ikue Mori und dem Komponisten selbst sind 5/8 von Electric Masada<br />
im Einsatz, werden aber von Zorn über Naked City-Terrain gepeitscht,<br />
das mit Glassplittern übersät ist. Moris Werk? Safts Beitrag<br />
sind wenig geheure, LeVey‘sche Orgeldrones, ein sakral und doch<br />
schweflig angehauchtes Pathos. An Naked City gemahnt vor allem<br />
die hysterische Zickigkeit von Zorns Alto und der Yamatsuke Eye-<br />
Kecak von Mike Patton. Patton ist der Hohepriester dieses Elagabal-<br />
Kultes und die A capella-‚Litany IV‘ von gut 8 Minuten ein irrwitziger,<br />
ein wahrhaft gott-kaiserlicher Eintrag im Book of David Moss. Und<br />
eine Huldigung an Artaud, die ihresgleichen sucht. Ansonsten singt<br />
und schäkert auch ein 3-stimmiger Frauenchor zu Füßen des Kaisers,<br />
sonnenhaft und im grössten Kontrast zur unheiligen Helterskelter-Musik,<br />
die von Baron & Dunn‘schen Metal-Dämonen<br />
durchzuckt und durchstampft wird. In einem Moment silbriges Gefunkel<br />
zum Aaah und Oooh der zarten Frauenkehlen und blitzartig<br />
im nächsten zerSCHRIIIIIIILLT das Universum unter Stromschlägen.<br />
Jede der Litanies wird von solchen Kontrasten und Schocks gespalten<br />
und ist doch untrennbar wie ein Terminator T-1000. Die groteske<br />
und in meinen Ohren doch schaurig-schöne Hochzeit von Hildegard<br />
von Bingen und Fantomas, von Rosenblüten und Vulkanschlacke,<br />
von Pathos, Bizarrerie und Gelächter sollte <strong>als</strong> einer von Zorns<br />
geglücktesten Versuchen, Gegensätze zum Tanzen zum bringen,<br />
der damnatio memoria entgehen, die ihn schon zu Lebzeiten <strong>als</strong><br />
hemmungslosen Hochstapler und musikalischen Barbaren abschreiben<br />
möchte.<br />
9
B E L G I A N S O U N D S C A P E S<br />
Brüssel, 1977. Marc Hollanders und Vincent Kenis’ Gruppe mit dem mysteriösen<br />
Namen Aksak Maboul reißt thematisch, in aller Form des inszenierten<br />
Größenwahns, an, was dann wenig später in Großbritannien intellektuell en<br />
vogue sein wird, <strong>als</strong> das clever inszenierte Label PUNK vom Working Class<br />
Hero zum Art-School-Studenten transferiert wird: Eklektizismus, Internationalismus,<br />
freie und spielerische Vermischung von Formen, Kulturen und Genres<br />
(so wird das in den Anmerkungen zu Onze Danses Pour Combattre La Migraine,<br />
der ersten Platte, treffend zusammengefasst). Danach, und bis Mitte der<br />
1980er Jahre, ist Brüssel tatsächlich die ideale Stadt, um sich nochm<strong>als</strong> an<br />
den verschütt gegangenen Kunsttheorien und Utopien des auslaufenden Jahrhunderts<br />
abzuarbeiten - Situationismus, Lettristen, Debord, Dada, Artaud, Surrealismus,<br />
Futurismus, Heartfield beispielsweise - und diese musikalisch mit<br />
den Visionen des New Wave und neuen technischen Möglichkeiten zu konfrontieren.<br />
Nur logisch, dass sich mit der Gründung von Crammed Disc auch das<br />
R.I.O. / Recommended-Umfeld von der Ausrichtung und den Idealen des Labels<br />
angesprochen fühlt, denn theoretisch aufgeladen und abstrahiert kann auch<br />
die linientreue Linke sich dem Punk, bzw. im Falle von Hollander und Kenis der<br />
Freiheit des (genialen) Dilettantismus, ungefährdet annähern. Jauniaux,<br />
Berckmans, Leigh, Chenevier, Cutler und Frith spielen in den Reihen von Aksak<br />
Maboul und zum großen Teil auf dem zweiten Album Un Peu De L’áme Des Bandits.<br />
Die ersten Veröffentlichungen auf Crammed - außer den beiden Aksak<br />
Maboul-Alben z.B. Honeymoon Killers, Benjamin Lew, Minimal Compact, Tuxedomoon,<br />
Zazou/Bikaye, Deyhim/Horwitz, Hermine - sind dann vergleichbar mit<br />
der Aufbruchzeit von Rough Trade: Blueprints und Referenz für Vieles, was<br />
noch kommen wird.<br />
Michel Duval, Bennoit Hennebert und Annik Honoré rufen Les Disques Du<br />
Crépuscule 1980 ins Leben, und was zuerst <strong>als</strong> Factory Benelux konzipiert<br />
ist, schlägt schnell einen anderen, konsequenten Weg ein. From Brussels With<br />
Love, <strong>als</strong> Kassettenbeilage für den N.M.E. kompiliert und um textlastige Theorie<br />
ergänzt, gibt die Richtung vor, die später Labels wie Touch und Leaf mit einer<br />
ähnlichen Verschmelzung von Ästhetik und Musik verfolgen werden. Und auch<br />
heute noch erscheint das, was für diesen Sampler an Ideen in die Waagschale<br />
geworfen wurde, aktuell, clever und zeitlos; was auch immer uns das über die<br />
letzten dreißig Jahre Musikgeschichte sagen will. Wim Mertens, Michael Nyman,<br />
Glenn Branca, Marc Ribot, Cabaret Voltaire, Current 93, Ludus, Arthur<br />
Russell, Isabelle Antena und (auch)Tuxedomoon - die auf beiden Labels veröffentlichen<br />
- sind einige der Stilisten, die den Hipfaktor zwischen Kunst und Philosophie,<br />
Pop und Avantgarde kontinuierlich neu ausloten, justieren und vor allem<br />
auch mit der entsprechenden Verpackung versehen. Über die Jahre erweitern<br />
sich die Tätigkeiten von Les Disques Du Crépuscule um Buchpublikationen,<br />
Videoproduktionen bis, konsequenterweise, zu Ausflügen in die Modewelt.<br />
Seit 2004 liegt LDDC brach.<br />
Crammed Disc pflegt seit einigen Jahren seinen Backkatalog, ist aber, wie<br />
man weiß, vor allem zu einem der etabliertesten World-Music Labels in Europa<br />
aufgestiegen. Der Nachlass (?) von Les Disques Du Crépuscule wird kompetent<br />
von James Nice, einem Schotten, der in den erwähnten wegweisenden Jahren<br />
selbst in den Reihen des Labels arbeitete, betreut und ständig erweitert. Seinen<br />
Versuch, in den 1990ern einem “richtigen Beruf” (Anwalt) nachzugehen,<br />
hat er, wie soviele andere der dam<strong>als</strong> Infizierten, wieder der Romantik der<br />
Selbstausbeutung und seinem Label mit dem bezeichnenden Namen Les<br />
Temps Moderne geopfert.<br />
In einer Stadt wie Brüssel (und in Belgien überhaupt) steht die Nostalgie allerdings<br />
nur bedingt im Kurs. Außer Carbon 7 mit seinem offenen Labelraster<br />
für Altes und Neues, das von den beiden ehemaligen Univers Zero-Musikern<br />
Andy Kirk und Guy Segers betrieben wird, und Sub Rosa, das die Industrial-<br />
Wurzeln um kontemporäre Klassik und Geräuschmusikpioniere ergänzt, gibt es<br />
bei den jungen, meist ebenfalls von Musikern gegründeten Mikro-Unternehmen<br />
wie matamore recordings., Stilll, (K-RAA-K)3 in Gent oder Ultima Eczema<br />
und Audiobot in Antwerpen wenig Bezugspunkte zur Historie.<br />
10
Blessed By Sleeplessness: Half Asleep<br />
“Langsam begegnet eine Melancholie, die eine Melancholie durchquert, einer weiter entfernten<br />
Melancholie, die vergeht und sich in eine neue Melancholie verlängert “<br />
Henri Michaux, Erste Eindrücke<br />
Mit schon drei bei verschiedenen Mikrolabels in Brüssel und<br />
Frankreich erschienenen Alben ist Valérie Leclerq alias Half<br />
Asleep für eine weitere Facette der gleichermaßen heterogenen<br />
wie individualistischen belgischen Szenerie verantwortlich. Träfen<br />
die (von der dortigen Presse behaupteten) Vergleiche mit der<br />
New Weird (?) Folkscene, dem mühsam heraufbeschworenen<br />
Hype 2007 ff, tatsächlich zu, wüßte man davon wahrscheinlich<br />
auch außerhalb des frankophonen Teils Europas. Der (musikalisch)<br />
reklusive, welt-verstreute Zirkel von Einzelgängerprojekten<br />
wie jene von Cécile Schott (Colleen), Islaya, Es, Matt Elliott,<br />
Murcof, Bark Psychosis beispielsweise, die vornehmlich von Labels<br />
wie Leaf, Fonal oder Ici D’ailleurs gehegt und gepflegt werden,<br />
scheint aber künstlerisch eher der ihrige zu sein. In der Musik<br />
von Half Asleep gibt es zwar bisweilen durchaus folkige Anleihen,<br />
aber ebenso wie auch kleine satieeske Miniaturen auftauchen<br />
haben die meist langsamen und mit Gitarre und Klavier gespielten<br />
Stücke alle mehr <strong>als</strong> einen Hauch europäischer Strenge<br />
geatmet. Der spröde, manchmal gar liturgisch schwere Grundton,<br />
und das dunkle Timbre der Stimme tun das Übrige. “Low hatten sicherlich<br />
einen großen Einfluß auf mich ausgeübt, indem sie mir<br />
den Mut gaben diese ruhige und langsame Musik zu spielen, die<br />
ich spielen wollte. Ich mag Tara Jane O’Neill, sie ist aber mehr<br />
eine Klangforscherin und kreiert musikalische Landschaften,<br />
während ich mehr an Melodien interessiert bin. Strukturen sind<br />
sehr wichtig für mich; mit zwei oder drei Akkorden kann ich nicht<br />
zufrieden sein, ich würde immer den Eindruck haben, dass der<br />
Song nicht fertig ist und etwas fehlt. Es erscheint mir deshalb<br />
auch bizarr, wenn man meine Musik <strong>als</strong> einfach beschreibt. Vielleicht<br />
bringt man da Simplizität und Minimalismus durcheinander.<br />
Klassische Musik ist nicht auf bloße Akkorde aufgebaut, sondern<br />
auf Variationen, auf erzählende Melodien, die sich ständig entwickeln.<br />
Das inspirierte mich auf die eine oder andere Weise. Ich<br />
habe keinen klassischen Background, ich kann Musik weder lesen<br />
noch schreiben, aber ich besuchte Musikstunden für fünf Jahre<br />
<strong>als</strong> ich klein war. Dies war eine spezielle Schule, in der wir lernten<br />
zu hören und zu spielen, aber keine Stücke zu lesen, es war eine<br />
sehr intuitive und spontane Annäherung.” Half Asleep's Musik hat<br />
grundsätzlich mehr eine Überwachheit <strong>als</strong> Somnolenz im Sinne.<br />
Diese scheinbar desperate Stimmung ist ähnlich den Geisterschiffelegien<br />
Elliotts' mit einem unwirklichen Unterton aufgeladen;<br />
die Geschichten Valérie Leclerqs sind zudem meist surrealironischen<br />
Gehaltes, so dass in der Kombination eine weitere Illusion<br />
einer leicht verschobenen Parallelwelt entsteht, die mich immer<br />
irgendwie an die Atmosphäre von Henry James’ Turn Of The<br />
Screw erinnert (z.B. in der Interpretation von Nicos’ Secret Side,<br />
in der der Gotikcharakter mit einer brüchigen Ambivalenz unterlegt<br />
ist). “Die Texte sind fragmentiert und visuell. Ich bin fasziniert<br />
von absurden Dramaturgen und Schreibern wie Henri Michaux,<br />
Breton, Ionesco, aber auch Gombrowicz oder Harold Pinter. Alles<br />
dort ist fragmentarisch und rhythmisch. Ich denke, Rhythmus ist<br />
mit am wichtigsten, es gibt dem Ganzen Kohärenz und Fluss. Auf<br />
der Seite der weiblichen Schreiber würde ich Virginia Woolf oder<br />
Janet Frame erwähnen, vielleicht Marina Tsvetaieva. Diese<br />
Schreiber haben mich sicherlich berührt und bewegt...Ich denke<br />
auch, dass Kristin Hersh eine briliante Texterin ist.”<br />
11
Alles beginnt mit dem Kontakt zu den umtriebigen<br />
Mikrokosmonauten von matamore.recordings.,<br />
die 2000 noch vor allem<br />
Musik-, Bücher- und Filmbestenlisten<br />
zwischen Luxemburg und der Wallonie<br />
hin- und hersenden, aber auf der Netzseite<br />
auch ein Forum für Musiker einrichten.<br />
Inzwischen auch zum Label erweitert,<br />
ist ihnen außer der Zweitauflage von<br />
Learning to Swim, dem zweiten Album<br />
von Half Asleep, die Veröffentlichung<br />
solch uneinsortierbarer Songpoeten wie<br />
V.O. (Boris Gronemberger, der sich bei<br />
Liveauftritten von Françoiz Breut <strong>als</strong><br />
sämtliche Instrumente der Welt beherrschendes<br />
Universalgenie herausstellte),<br />
Raymondo oder den Post-Rockern Some<br />
Tweetlove zu verdanken. matamore.recordings.<br />
hat sich zudem die Passion<br />
bewahrt, regelmäßig Konzerte in Brüssel<br />
und das jährliche Rhâââ-Festival zu organisieren.<br />
Für Valérie Leclerq ergibt<br />
dann das Eine das Andere. Über die Internetseite<br />
entstehen Kontakte zu Delphine<br />
Dôra, die später zur Zusammenarbeit<br />
führen sollten, und Vincent alias<br />
Dana Hilliot, einem der Betreiber von Another<br />
Record. Nach dem Zusenden einiger<br />
Demos erscheint dort das Debut<br />
Palms & Plums. Das dritte Album (We are<br />
Now Seated) In Profile wird bei dem<br />
schon semi-professionellen Toulouser<br />
Label Unique Records veröffentlicht, das<br />
Verbindungen zu den anderen beiden<br />
unterhält. “Diese drei Labels haben alle<br />
ihren eigenen Geist, den sie auch verfolgen,<br />
aber das Spezielle ist, das sie alle<br />
drei von Musikern betrieben werden. Für<br />
einen Musiker ist es gut zu wissen, dass<br />
er zu einem anderen Musiker spricht, die<br />
Freiheit und die geeignete Unterstützung<br />
erhält. Auch sind die Künstler und Betreiber<br />
der kleinen Labels sehr realistisch.<br />
Man weiß, dass man nicht reich werden<br />
wird, aber es geht darum, sich auf unserem<br />
bescheidenen Niveau an der Musik,<br />
die man liebt, zu erfreuen, und das würde<br />
man gegen nichts in der Welt eintauschen.”<br />
Zugesicherte künstlerische Freiheit heißt<br />
allerdings nicht, dass sich auch das Geschlechterverhältnis<br />
angeglichen hätte.<br />
“Matamore und Unique haben jeweils<br />
eine Künstlerin in ihrem Katalog, und das<br />
bin ich! Bei Another-Record gab es zwei<br />
Gruppen mit einer Sängerin und existiert<br />
noch das side-project musique en marge,<br />
bei dem es sich um die drei “genialen”<br />
Künstlerinnen li, Sandra und Delphine<br />
Dôra handelt. Auch ist das Publikum, das<br />
zu den Auftritten kommt, fast ausschließlich<br />
ein männliches.”<br />
Auf der Bühne wechselt sie zwischen Gitarre,<br />
Bass, Klavier und setzt ein Looppedal zur Variation<br />
ein. “Das ist noch alles sehr ruhig und<br />
amateurhaft, aber ich fühle mich zunehmend<br />
wohler. Für die Zukunft könnte es sein, dass<br />
ich das Konzept erweitere, z.B. mit einer<br />
Gruppe spiele oder mehr improvisatorisch<br />
vorgehe.”<br />
Palms And Plums (Another Record, 2003) und<br />
Just Before We Learned To Swim (matamore,<br />
2005) sind “klassische” Wohnzimmerproduktionen,<br />
aufgenommen mit Mini-Disc-Rekorder<br />
und ein bis zwei Mikrophonen, und doch läßt<br />
sich schon die Komplexitität der Kompositionen,<br />
Melodien und inszenierten Stimmungswechsel<br />
in der Musik Valérie Leclerqs heraushören.<br />
Das im Studio aufgenommene dritte Album<br />
(We Are Now) Seated in Profile (unique<br />
records, 2005) erfährt durch eine dezente Erweiterung<br />
des Instrumentariums (einige Tupfer<br />
Trompete, Glockenspiel und Perkussion)<br />
und die Beteiligung von Schwester Oriane (die<br />
auch auf dem Debut und anfangs bei Auftritten<br />
partizipierte), Thomas Boudineau und Produzent<br />
Gilles Deles bei einigen Stücken, eine<br />
selbstbewusstere Umsetzung. Die Art von Musik,<br />
die ihr vorzuschweben scheint, ist schon<br />
auf dem ersten Album klar herauskristallisiert.<br />
Während für den Moment keine neuen Veröffentlichungen<br />
von Half Asleep geplant sind,<br />
sind einige Ergebnisse von Kollaborationen<br />
mit befreundeten Musikern / musizierenden<br />
Freunden schon dokumentiert. Mit der anarchistischen,<br />
auf ihre Art einem weiblichen Jad<br />
Fair nicht unähnlichen Delphine Dôra entstand<br />
2005 die EP For Christmas. “Delph arbeitet auf<br />
eine sehr spontane Art und Weise, sie hat ihre<br />
völlig eigene musikalische Welt, verrückt und<br />
berührend zur gleichen Zeit, in der praktisch<br />
alles erlaubt ist. Ich schätze es sehr mit ihr zusammenzuarbeiten,<br />
das ist wie Alkohol trinken,<br />
die Selbstkontrolle wird beeinträchtigt<br />
und die Verkrampftheit reduziert.” Auf dem<br />
aktuellen Album besagter Delphine Dora<br />
(Delphine Dora & Friends, Greed Records)<br />
partizipiert neben ihr selbst auch Jullian Angel.<br />
Auch auf dessen eigenem, schwer psychedelisch-folkigen<br />
Album Life Was The Answer<br />
steuert sie zwei Gesangparts bei. Schließlich<br />
besteht, seit man sich auf dem Rhâââ-<br />
Festival 2005 kennenlernte, auch Kontakt zu<br />
Matt Elliott; bei einigen Auftritten in diesem<br />
Jahr spielte sie in seiner Band.<br />
weitere infos:<br />
www.halfasleep.be;<br />
http://myspace.com/halffasleep (sic!);<br />
www.uniquerecords.org;<br />
www.matamore.net;<br />
www.another-record.com/delphine;<br />
http://www.jullian-angel.tk;<br />
http://www.ikerspozio.com<br />
12
Ignatz – The Gloom Of The Darkest Day<br />
Steigt man an der Gare Du Nord aus dem Zug, bekommt<br />
man, sobald man der schmierigen Vorhalle entkommen ist<br />
und in den Himmel von Europas Hauptstadt blinzelt, einen<br />
ersten Eindruck von dem, was die Einheimischen Bruxellisation<br />
nennen. Schaerbeeck; städtebauliche Verwahrlosung,<br />
mit dem Ziel, die eigene Vergangenheit zu zerstören,<br />
um mit der Zukunft zu experimentieren; Art Nouveau, High<br />
Tech-Coolness, großangelegte Parks aus Zeiten Kaiser<br />
Leopolds II, Ruinen, wild durcheinander gewürfelt und an<br />
den Ringstraßen <strong>als</strong> gemeinsamer Nenner zur überdimensionierten<br />
Tankstellen- und Shopping Mall-Landschaft verdichtet.<br />
Von perverser Faszination, J.G. Ballard winkt vom<br />
Parkdeck um die Ecke, und natürlich wurde das alles schon<br />
längst von den ansässigen Comickünstlern aufgearbeitet.<br />
Gut vorstellbar, dass sich hier eine Maus vom Schlage Ignatz<br />
zurechtfände, die surreale Endlosigkeit der Kakteenlandschaft<br />
gegen die Stadtwüste eintauschend. George<br />
Herrimans minimalistisch-genialer Zeitungs(s)trip Krazy Kat<br />
aus den 1910-40er Jahren, in dem er mit bewundernswerter<br />
Sturheit in endlosen Variationen ein (Liebes-)Dreieckverhältnis<br />
ausleuchtet, ist in seiner untertrieben inszenierten<br />
Schlichtheit immer noch unübertroffen. Die verschlagene,<br />
aber 'very cute' Maus Ignatz wirft <strong>als</strong> Zeitvertreib vorwiegend<br />
Backsteine an den Hinterkopf von Krazy Kat, das<br />
diese (oder dieser?) <strong>als</strong> Liebesbeweis auffasst. Hund Pupp,<br />
der Polizist, sucht stets nach Gründen, die Maus einzulochen,<br />
damit er freie Bahn bei der Katze hat.<br />
Natürlich wählt Bram Devens Ignatz <strong>als</strong> alter ego für sein musikalisches Projekt.<br />
Die neunte Kunst war ursprüglich für ihn, der im beschaulich-langweiligen Hasselt, übrigens<br />
vorbildlich <strong>als</strong> Sohn kommunistischer Eltern, aufwuchs, für lange Zeit die erste<br />
und weitaus faszinierender <strong>als</strong> die Musik. Trotzdem, <strong>als</strong> Independent zum Mainstream<br />
degenerierte, landete er auch <strong>als</strong> mäßig Interessierter zwangsläufig in einer Band und<br />
versuchte sich an entsprechenden Weisen. Nach bescheidenem Amusement auf diesem<br />
Gebiet zog es ihn schnell wieder in die Abgeschiedenheit der eigenen vier Wände<br />
zurück; allerdings nun angefixt von der Welt der Töne. Über Experimente mit der Manipulation<br />
von Kassetten und exzessivem Improvisieren auf der Gitarre entwickelte sich<br />
nach und nach der Sound, der jetzt schon, nach zwei Alben, <strong>als</strong> unverwechselbar bezeichnet<br />
werden darf. Eskapismus ist dabei <strong>als</strong> Grundhaltung zu verstehen; nur so<br />
klingt die Musik wie sie klingt: Willkommen zu den magischen Klangfahrten ins Ignatzland.<br />
Bram Devens' Texte, sofern man sie aufgrund Verfremdung und Murmeln überhaupt <strong>als</strong><br />
solche wahrnehmen kann, spielen mit Phrasen und Nichtigkeiten der Populärmusik, <strong>als</strong>o<br />
dem Resultat von jahrzehntelanger anglo-amerikanischer Beschallung und sind, so Devens,<br />
“auf dem intellektuellen Stand eines Fünfjährigen, da ich ja nicht wirklich Englisch<br />
spreche”.<br />
Dass die Musik aber keinesfalls Cartooncharakter hat, sondern in gar seltsame und versponnene<br />
Soundmisanthropien führt, ist natürlich seiner Kunst geschuldet. Obwohl nur<br />
mit akustischer Gitarre gespielt, sind die Stücke mit Effekten und Bearbeitungen enorm<br />
verdichtet und mit Verfremdungen, minimalistischen Drones und irgendwo durch ferne<br />
Echokammern gejagte Melodien und bizarren Stimmen entstellt. Psychedelisch, wenn<br />
man will, aber wie alle Musik, insbesondere aber solche abstrakte, läßt sie sich nicht<br />
wirklich in Worte fassen. Es schimmert die Affinität für amerikanische Folk- und Rootsmusik<br />
- mehr aus der Faszination für deren schäbigen Low-Fi-Sound <strong>als</strong> aus Werkstreue<br />
heraus geboren – durch und gibt Struktur vor. Ignatz I [(K-RAA-K)3, KO49] ist so<br />
klaustrophobisch (und ironisch) wie nur irgend möglich; während des Entstehens von<br />
Ignatz II [(K-RAA-K)3, KO53] scheint Devens doch hin und wieder von seinem Zimmer in<br />
den Vorgarten gespäht und einen Streifen Licht abbekommen zu haben; trotzdem bleibt<br />
die vage Stimmung erhalten: irgendwie dunkel, hypnotisch, endlich und auf ähnlich unerklärlicher<br />
Weise so unheimlich wie Lynchs Hasen in Inland Empire; beispielsweise.<br />
13
Außer zwei Platten in den beiden vergangenen Jahren, veröffentlicht<br />
Bram Devens in loser Folge Momentaufnahmen aus seinem Wohnzimmer<br />
in Form der guten alten Kassette. “Der kreative Prozess ist vergleichbar<br />
mit dem beim Zeichnen. Es entstehen Skizzierungen, an denen ich herumspiele,<br />
ausbessere, ergänze etc. Intuition und innere und äußere Einflüsse<br />
tun das Übrige. Außer Gesang und Gitarre verwende ich nur einige<br />
Effektgeräte und einen Computer. Auch Samples, ohne die Auftritte nicht<br />
möglich wären, speisen sich aus eigenen Quellen. Die Möglichkeiten dieser<br />
rudimentären Ausrüstung sind für mich bei weitem noch nicht ausgeschöpft<br />
und erst, wenn ich mich wiederholen würde, müßte ich über Alternativen<br />
nachdenken. Speziell bei Liveauftritten läuft man allerdings<br />
Gefahr, bei den improvisierten Parts immer die gleiche Lösung zu<br />
wählen.”<br />
Nach dieser Schlußfolgerung ist Wiederholung <strong>als</strong>o Stillstand und daher<br />
inakzeptabel. Die Stücke für die beiden (offiziellen) Alben wurden aus einem<br />
jeweils aktuellen Fundus von ihm und dem Plattenlabel nach einem<br />
Punktesystem ausgewählt. Was nicht Gnade in den Ohren der “Jury” fand,<br />
wurde, da Devens zudem den Anspruch hat, stets Aktuelles zu veröffentlichten,<br />
vom Computer erbarmungslos gelöscht.<br />
Die Verbindung mit (K-RAA-K)3 ist eine glückliche - und für belgische<br />
Musiker abseits des Gängigen überhaupt die momentan erste Adresse.<br />
Gerade hat man im Headquarter in Gent auf den zehnjährigen Geburtstag<br />
mit Nurse With Wound, Jac Berrocal und Maher Shalal Bash Haz anstoßen<br />
können. Was mit Toothpick <strong>als</strong> Kassettenlabel begann, mündete<br />
1997 in die Gründung von (K-RAA-K)3 und mit dem Versuch Label, Distribution<br />
und Promotion für andere Musiker und Konzertorganisation parallel<br />
nebeneinander laufen zu lassen. Seit 2002 konzentriert man sich auf<br />
Label und Konzertorganisation und wird mittlerweile auch staatlich<br />
(flämisch) bezuschusst, wodurch sich nun neben der von Dave Driesmans<br />
zwei weitere Teilstellen finanzieren lassen. Auf drei ausgewiesen anspruchsvolle<br />
Festiv<strong>als</strong> – Pauze und Courtisane in Gent und (K-RAA-K)3 in<br />
Hasselt – kleinere Konzerte in Brüssel und Antwerpen, dem Herausgeben<br />
des monatlich erscheinenden Ruis-Magazin und ein halbes Dutzend Labelveröffentlichungen<br />
pro Jahr hat man sich nun eingependelt.<br />
Schnell tief im musikalischen Niemandsland von Drones, Psych, Minimalismus<br />
und Free Folk findet sich derjenige, der sich in den Katalog hineinhört.<br />
Die beiden Alben von Ignatz, spröde I und II betitelt, sind persönliche<br />
Favoriten, aber auch die sich <strong>als</strong> grimmige Vertreter des Death Metal<br />
gebärdenden, musikalisch aber merkwürdigerweise dann doom-folkigen<br />
Silvester Anfang, das zwischen Impro- und Geräuschmusik fungierende<br />
R.O.T.-Ensemble, die schön-seltsamen Psychedelic-Elektronica– und<br />
Gitarrenstücke des Einsiedlers Sami Sänpäkkilä aka ES ziehen nicht minder<br />
in den Bann. Tuk, das Projekt von Guillaume Graux geht live Verbindung<br />
mit visuellen Künstlern ein; die Stücke sind vorwiegend aus zerhäckselten<br />
und manipulierten Bausteinen aus Bekanntem entstanden<br />
und es wird zur Ratestunde eingeladen. Der Instrumentenbauer und Expunk<br />
Stef Heeren wirkt wie ein Sohn von Free-Folk Übervater David Tibet<br />
/ Current 93. Kiss The Anus Of A Black Cat läßt ein permanentes<br />
Augenzwinkern vermuten, lotet aber einen ähnlich globalen Spiritualismus<br />
aus. Greg Malcolm gehört zur jungen Generation von Gitarristen,<br />
die Improvisation im intellektuellen, Bailey'schen Sinn mit Folk verbinden.<br />
Und das nächste Ignatz–Album? Keiji Haino sei ein weiterer wichtiger Einfluss,<br />
mit Jack Rose oder Sunburned kollaborierte er schon – das<br />
(K-RAA-K)3-Netz macht es möglich - aber noch ist Devens mit Vorliebe<br />
Musiker und gleichsam talentierter Improvisierer in eigener Sache. Welche<br />
Drehungen und Wendungen das nehmen wird, interessiert hoffentlich<br />
nicht nur mich?<br />
mehr Infos: www.myspace.com/ignazt (sic!); www.kraak.net; www.mikro-wellen.net<br />
Michael Zinsmaier<br />
14
AltrOck Productions (Milano)<br />
‚Alt‘ nicht wie alt, sondern wie alternativ. Marcello<br />
Marinone stellte 2005 dieses dritte Standbein neben<br />
www.agarthaprog.com und dem Sesto Art<br />
Rock Music Festival auf die Beine, um für sein<br />
Faible für Prog Rock, Rock In Opposition, Canterbury,<br />
Avant-jazz & Contemporary einen weiteren<br />
Kanal zu installieren. Der Auftakt, YUGENs Labirinto<br />
d‘acqua (ALT001), ist prompt ein RIO-Paukenschlag.<br />
Kopf des Projektes ist der 1972 in Milano<br />
geborene Komponist & Gitarrist Francesco Zago.<br />
Und was für ein Kopf. Ein wahrer Brainiac, der<br />
musikalische Artistik von Barock & Musica Nova<br />
bis Prog (bisher mit MusiCaMorfosi & The Night<br />
Watch) vernetzt mit philosophisch-literarischen<br />
Vorlieben für J. L. Borges (abgebildet im Booklet<br />
<strong>als</strong> Musiklauscher), C. E. Gadda, Ernst Jünger,<br />
Leipniz & Wittgenstein. Zagos Hausgott scheint jedoch<br />
Erik Satie zu sein, dem er mit AltrOck-Versionen<br />
von ‚Sévére réprimande‘ und ‚Danse cuirassée‘<br />
huldigt. Kompositorisch setzt er jedoch vor<br />
allem um, was man in der Hohen Schule von Univers<br />
Zero, Motor Totemist Guild & Konsorten lernen<br />
kann. In den Bläserzuckungen von Peter A.<br />
Schmid, Markus Stauss & Marco Sorge, die das<br />
Klangspektrum von Klarinette und Sopranosaxophon<br />
bis Bassflöte, Bassklarinette, Subkontrabasssaxophon<br />
und Tubax auffächern, scheint beständig<br />
das Fagott von Lindsay Cooper oder Michel<br />
Berkmans anzuklingen. Ebenso markant und<br />
RIO-charakteristisch sind die Springprozessions-<br />
und Kniebrechrhythmen von Batteria und Bass<br />
(Mattia Signòs & Stephan Brunner), perkussiv angereichert<br />
mit Vibraphon, Marimba & Glockenspiel<br />
(Massimo Mazza). Dazu kommen noch eine<br />
Phalanx aus Piano, E-Piano, Orgel, Moog, Mellotron<br />
& Cembalo, Elia Mariani an der Geige und Zagos<br />
Gitarre und fertig ist ein mitreißendes Update von<br />
‚Electric Chamber Music‘, ein bereits von Motor<br />
Totemist Guild‘s Mastermind James Grigsby aufgegriffenes<br />
Etikett, das von Zappa seinen Ausgang<br />
nahm. Zago scheint Zappa aber auch darin nachzueifern,<br />
dass ein Orchester das ‚ultimative Instrument‘<br />
ist. Daher sind seine Arrangements ebenso<br />
dicht wie komplex, wuchtig wie wendig, dramatisch<br />
wie sophisticated. Für Letzteres mag Satie<br />
Pate gestanden haben, aber die Univers Zero‘eske<br />
Orchestralität plündert hörbar auch Strawinsky<br />
und Prokofjew. Nur dass Zago davon die Essenzen<br />
auspresst und zudem ständig zappt und flippert -<br />
selbst das Titelstück dauert nur 1:21. So entstand,<br />
bewusst verschachtelt, ein Garten der Pfade, die<br />
sich verzweigen, gleichzeitig Labyrinth und Parco<br />
dei Monstri, manieristisch und neutönerisch, wobei<br />
jeder Splitter, ob der alchemistische ‚Corale<br />
Metallurgico‘, das groteske ‚Brachilogia‘ oder das<br />
dynamische ‚Quando La Morte Mi Colse Nel<br />
Sonne‘, das Ganze spiegelt, das zwischen Babel<br />
und Helipolis zuckt. In Tlön aber gilt solche Musik<br />
<strong>als</strong> entartet.<br />
15<br />
Auch beim zweiten Streich von AltrOck,<br />
Rational Diet (ALT002) von RA-<br />
TIONAL DIET, sind Musik und Sophistication,<br />
Schweinchen und Kopf ab<br />
eins. Der Gitarrist Maxim Velvetov, der<br />
Geiger Cyril Christya & Vitaly Appow<br />
am Fagott (+ tenor sax & accordion),<br />
das Exekutivkomitee eines streckenweise<br />
durch Cello, Keyboards, Bass &<br />
Drums erweiterten weißrussischen (!)<br />
Prog-Brückenkopfs, nehmen Bezug<br />
auf die Oberiuten Daniil Charms & Alexander<br />
Vvedensky und den ‚Zaum‘-Futuristen<br />
Aleksei Kruchonykh. Deren<br />
radikale poetische Experimente liefern<br />
die Munition für die Sprechgesänge<br />
eines vierteiligen, 2004 entstandenen<br />
Mittelblocks (der schon auf Audio-<br />
TONG <strong>als</strong> The Shameless zu hören<br />
war), eingerahmt durch ‚From The<br />
Grey Notebook‘ von 1999. In allen musikalischen<br />
Aspekten ist Rational Diet<br />
ein Nach- und Widerhall von RIO, weitgehend<br />
unplugged, Geige und Fagott<br />
oft verzopft, öfters noch synchron, <strong>als</strong><br />
Doppelspitze und flügelstürmerische<br />
Leaders of the Pack, auf einem Fond,<br />
den E-Bass und Rhythmusgitarre bereiten.<br />
Stakkatohaft repetitive, folkloreske<br />
Zackenkämme, gekrähte Kinderreime<br />
oder lakonisch hingeworfene<br />
Oberiutensprüche und vor allem<br />
ein angriffslustiges Tempo bestimmen<br />
den Duktus, der fiebrig erregt flickert<br />
und krummtaktig vorwärts kapriolt.<br />
Keyboard und Schlagzeug spielen nur<br />
in der Rahmenhandlung eine Rolle,<br />
der Sound ist auch ohne sie dicht gewoben<br />
und die Rhythmik der musikalischen<br />
Sprache selbst inherent. Rational<br />
Diet, was ich mir <strong>als</strong> Kur durch<br />
Vernunft übersetze, klingt mal wie<br />
eine ‚Eastern‘ Version von Western<br />
Culture, mal wie Univers Zero, mal wie<br />
Cyberfolk oder wie aufgedrehte Verwandte<br />
von Metamorphosis. AltrOck<br />
knüpft mit dieser Entdeckung an<br />
‚Points East‘ an, eine von Chris Cutler<br />
1987 ausgegebene Parole, an die ReR<br />
heuer zum 20-jährigen mit The Points<br />
East Box erinnert. Auch wenn das<br />
neue Europa oft dem alten ähnelt, der<br />
Zusammenhang von Fressen und Moral<br />
steht immerhin wieder auf der<br />
Tagesordnung.
C I M P / C A D E N C E J A Z Z R E C O R D S (Redwood, NY)<br />
Die Familie Rusch und der Spirit Room in Rossie, NY, sind<br />
für Viele die erste, definitiv aber die heimeligste Adresse<br />
des Postbop. Wo sonst wird dieser Strang des Modern<br />
Jazz bekocht wie von Susan Rusch, bemalt wie von Kara<br />
D. Rusch, tontechnisch eingefangen wie von Marc D.<br />
Rusch und ans Herz gedrückt wie von Bob Rusch <strong>als</strong> ein<br />
Elementarteil der Great American Music, wie ansonsten<br />
nur der Blues.<br />
Auf Change-Up (CIMP #356), dem zweiten Band zu 3 The<br />
Hard Way (CIMP #346), danken es der Drummer MAT MA-<br />
RUCCI, der Soprano- & Tenorsaxophonist und Stritchspieler<br />
DOUG WEBB und der Bassist KEN FILIANO ihren<br />
Gastgebern mit ‚Riff for Rusch‘, ‚Spirit Room‘ und<br />
‚Upstate Connection‘. Um sich von Kalifornien bzw.<br />
Brooklyn aus auf den Weg in den St. Lawrence County-<br />
Zipfel New Yorks in ein Kaff mit kaum 800 Seelen zu machen,<br />
dazu braucht es ein besonderes Date. Aber Bob<br />
Rusch hatte bei Marucci die Bestellung „your origin<strong>als</strong>...<br />
maybe one standard... no compromises“ aufgegeben und<br />
da sind 3000 Meilen kein Thema. Der Mehrwert für Body &<br />
Soul besteht im absoluten Rapport der Drei und in den<br />
quicken, hellen, melodiösen Schnörkeln, die aus Webbs<br />
Rohr sprudeln wie aus einem Wasserspeier, der Freude<br />
und Überfluss symbolisiert. Den ‚Spirits‘ jedoch opfert<br />
und dankt man bluesig und innig.<br />
Gut 9 Wochen später, live in der Savanna‘s Lounge in<br />
Sacramento, CA, zupfte mit Kerry Kashiwagi wieder eine<br />
verlässliche Westcoast-Cat den Bass im MAT MARUCCI<br />
- DOUG WEBB TRIO. No Lesser Evil (CJR 1203) hatte lediglich<br />
zwei der neuen Spirit Room-Stücke im Programm,<br />
dafür aber gleich ein halbes Dutzend Oldies-but-Goodies,<br />
von ‚A Night in Tunesia‘ über ‚You‘ve Changed‘ bis ‚Take<br />
5‘. Eine typische Mischung, bereits <strong>als</strong> „tame and tuneful“<br />
gelobt, ausdrücklich weil sie Zuhörern, die wohl Jazz am<br />
liebsten in Bernstein gefasst hören, nicht zumutet, eine<br />
‚Erfahrung‘ zu machen. Schluck.<br />
Ist ein Piano involviert, dann muss CIMP in die Gilbert Recital<br />
Hall der St. Lawrence University in Canton ausweichen,<br />
ein ganzes Stück weit nordöstlich auf der US Route<br />
11. Dort entstand Ota Benga of the Batwa (CIMP #357) <strong>als</strong><br />
ein erneutes Tête-a-tête des Pianisten DAVID HANEY<br />
mit dem Posaunenveteranen JULIAN PRIESTER. Sie<br />
lassen bei ihren intimen und lyrischen Meditationen einen<br />
Gedanken an Bebop erst gar nicht aufkommen. Dafür<br />
brüten sie, meist verhalten, oft leise, in Thema und Variationen<br />
und gedämpft Gershwin‘esken Tonfarben über das<br />
Schicksal des Pygmäen Ota Benga (1884-1916), der 1906<br />
auf der Weltausstellung in St. Louis <strong>als</strong> exotisches Exponat<br />
und anschließend im Zoo der Bronx <strong>als</strong> kuriose Attraktion<br />
ausgestellt worden war, zusammen mit den Gorillas.<br />
Nach Protesten wurde er in ein Waisenhaus für<br />
Farbige abgeschoben, von einer Familie aufgenommen<br />
und <strong>als</strong> er es nicht mehr aushielt, vielleicht weil er von<br />
seinem Lebensraum abgeschnitten ‚Like Dersu Uzala‘,<br />
der kirgisische Nomade, zu ersticken drohte, da verbrannte<br />
er seine Kleider und schoss sich eine Kugel in<br />
den Kopf.<br />
16
Für The Crookedest Straight Line (CIMP #358) erweiterte<br />
der Trompeter & Flügelhornist John Carlson das von Jay<br />
Rosen an den Drums, François Grillot am Bass und dem<br />
Leader an seinem Sopranosax geformte Trio zum CHRIS<br />
KELSEY QUARTET. Mit Titeln wie ‚Post Modern Times‘ und<br />
‚Heterophonous‘ deutet Kelsey schon an, dass er die üblichen<br />
Postbopformeln gerne etwas abwandelt. Mit einer Prise<br />
Lacy im eigenen Ton und Echos der Quirkyness der Dolphy-Ervin-<br />
und Coleman-Cherry-Couples in Doppelgezüngel<br />
dieser abwechselnd swingenden und bluesigen Brass Music.<br />
Kelseys quäkige Munterkeit, „a type of folk music for<br />
smart people“, wie er selber witzelt, nimmt schon bei ‚Poor<br />
Relations‘ einen klezmeresk klagenden Unterton an, aber<br />
statt klischeehaft jämmerlich klingt das bei ihm leicht grotesk<br />
und querulant. Carlson, zuletzt schon mit dem William<br />
Gagliardi Quintet ein Ohrenzupfer, folgt Kelsey wie ein<br />
zweieiiger Zwilling, ein eigensinniger Schatten, der bei seinen<br />
Solos den Reißverschluss aufzippt und die wahre Free<br />
Range Rat zum Vorschein kommen lässt. Auf Dauer sind<br />
das aber Striche, wie sie bei mir schon nach 1 Tasse Kaffee<br />
krakeliger geraden würden. Soviel zu ‚crookedest‘.<br />
Der aus Philadelphia stammende Jay Rosen gehört quasi<br />
zum Inventar des Spirit Room. Nach der August-Session mit<br />
Kelsey kehrte er im September schon wieder ein <strong>als</strong> Taktgeber<br />
des STEPHEN GAUCI TRIO neben Michael Bisio<br />
am Bass. Substratum (CIMP #359) zeigt den New Yorker Tenorsaxophonisten<br />
einmal mehr in übersprudelnder Spiellaune,<br />
mit der er am gleichen Wochenende auch noch CIMP<br />
360: Circle This (CIMP #360) befeuerte, <strong>als</strong> zweite Spitze<br />
des MICHAEL BISIO QUARTET neben Avram Fefer. Bei<br />
seinen eigenen Tunes nuanciert er auf der Skala zwischen<br />
Schrei und Lullabye vorwiegend die feinen Gefühlsnuancen.<br />
Der Löwe von ‚Threshold‘ wird zum träumerischen Koi<br />
bei ‚Branching Streams Flow In The Darkness‘ und ‚This<br />
Cannot Be Lost‘. Geschmeidig evoziert er die Blue Notes<br />
eines Sonny Rollins und stellt sich mit beiden Füßen in das<br />
Substrat, auf dem der CIMP-Postbop weitestgehend fußt.<br />
Aber gedämpfte Töne liegen Gauci näher <strong>als</strong> halbstark<br />
vollmundige, mit Bisio und Rosen <strong>als</strong> Dream Team, das ihm<br />
selbst in die tiefe Melancholie von ‚One That Got Away‘ und<br />
‚The Dead Can Only Live‘ wie ein Schatten folgt. Bisio hüllt<br />
diese Elegien in schwarzen Samt, akzentuiert aber <strong>als</strong> Leader<br />
des Releases, der einen kompletten CIMP-Zyklus vollendet,<br />
die Vielfalt der Temperamente. Beim Bläserduett ‚Its<br />
Own Universe‘ lässt er Gauci und Fever ihre Hörner aneinander<br />
krachen, ‚By Any Other Name‘ zupft er selbst auf<br />
der lyrischsten seiner Saiten. Rosen war an diesem Wochenende<br />
wieder einmal für alles zu haben, <strong>als</strong> Seelenführer<br />
bei Gaucis Traumwandlereien in die Unterwelt, <strong>als</strong> launiger<br />
Zirkustrommler bei ‚Island Circus‘, <strong>als</strong> Swingfeder für<br />
jede Buckelpiste. Mein Lieblingsmoment auf der 360°-<br />
Scheibe ist der Auftakt zu ‚Times That Bond‘, wenn Tenor,<br />
Sopran und diskante Strings noch zusammenhangslos<br />
‚gestimmt‘ werden, um sich dann kopfüber die Doppelhelix<br />
des Postbop hinunter zu stürzen. Bisio scheint die Turbulenzen<br />
einer Herzattacke und seines Umzugs an die Ostküste<br />
ohne Weiteres umzumünzen in Spiel- und Lebensfreude.<br />
Mit ‚CRT‘, kurz für Cardiac Resynchronization Therapy,<br />
lässt er keinen Zweifel daran, dass er Musik für die<br />
einzig wahre Medizin hält.<br />
17
Die direkte Bekanntschaft des Drummers<br />
LOU GRASSI mit der Sun Ra-Legende<br />
MARSHALL ALLEN geht zurück auf<br />
dessen PoZest-Gastspiel 1999 bei<br />
Grassi‘s PoBand. Auf Einladung des Festivaldirektors<br />
Ajay Heble kamen die beiden<br />
2001 erneut zusammen, Live at The<br />
Guelph Festival (CJR 1192) in Ontario,<br />
nur drei Tage vor 9/11. Grassis Bruder<br />
entkam dem Crash der Twin Towers nur<br />
knapp und über dem familiären Schock<br />
geriet die Einspielung auf die lange Bank.<br />
Jetzt aber lässt sich mitverfolgen, wie der<br />
dam<strong>als</strong> 77-jährige Altosaxophonist das<br />
Sax-Drums-Format, wie vorher bereits<br />
Braxton mit Max Roach bzw. Andrew Cyrille<br />
oder Lyons mit ebenfalls Cyrille, auskostet<br />
in jenem Geist der Freiheit, der<br />
das Legat von John Coltranes Weltraumspaziergängen<br />
mit Rashid Ali ist. Dabei<br />
genügt Allen, ähnlich wie Coltrane, schon<br />
banaler Stoff wie ‚When You Wish Upon a<br />
Star‘ und ‚Prelude to a Kiss‘ <strong>als</strong> Sprungbrett<br />
für seine Expressionen, neben drei<br />
Ausflügen ins Blaue. Ganz vorsichtig tasten<br />
sie sich auf die ‚Far Side‘ hinüber, Allen<br />
mit zarten Flötenlockrufen, Grassi mit<br />
klappernden Muscheln und weichem Fingerspiel.<br />
Allen ist kein Wild Man from Saturn,<br />
obwohl ihn manche wegen seiner<br />
Over-the-Top-Soli im Arkestra so einschätzen.<br />
Feuerspucken ist nur die ultima<br />
ratio musikalischer Totalität, deren<br />
Kugelform Grassi & Allen ausloten. Nur<br />
um ihre Unergründlichkeit bestätigt zu<br />
finden. In ‚Blues for Two‘ verwischt Allen<br />
den Unterschied zwischen träumerischen<br />
Tönen und aufgekratzt ekstatischen<br />
in einem Atemzug. Grassis Feinarbeit<br />
dazu hat etwas Tatzenförmiges. Seine<br />
tapsige, pelzige Manier, seine Zwischensprints<br />
mit trommelnden Pfoten<br />
sind unverwechselbar. Bei ‚The Spirit of<br />
the Day‘ schiebt er tickelnd einen Vorhang<br />
zur Seite und rührt dazu sein Tambour-Trommelchen.<br />
Allen schreitet hindurch,<br />
ein feinstoffliches Geistwesen,<br />
schrill und kapriziös, aufbrausend an der<br />
langen Kette, mit der Grassi rasselt, <strong>als</strong><br />
ob er andeuten wollte: Wehe, wenn ich<br />
loslasse. Im Ellington-Song gibt sich Allen<br />
schmusig, aber nicht ohne dass sein<br />
Temperament aufblitzt, vor allem wenn,<br />
wie beim abschließenden ‚Boma‘, Grassis<br />
Gerumpel ihn noch anstachelt.<br />
Adam Lanes Zero Degree Music-Trio mit Vinny<br />
Golia & Vijay Anderson hat am 25.2.2005,<br />
direkt im Anschluss an seine Spirit Room-Session,<br />
verstärkt mit dem Trompeter Paul Smoker,<br />
gleich auch noch <strong>als</strong> ADAM LANE<br />
QUARTET Buffalo (CJR 1193) eingespielt.<br />
Kein Wunder <strong>als</strong>o, dass erneut ‚Spin with the<br />
EARth‘ erklingt, ‚Without Being‘ und das hymnische<br />
‚Free‘. Smoker war schon in Lanes<br />
Fo(u)r Being(s)-Quartett aufgetaucht. Sein<br />
schmissiger Ton neben Golias Tenorsaxgeknatter<br />
verändert Lanes ganze Taktik. Zwei<br />
Stürmer erlauben völlig andere Spielzüge,<br />
verdoppeln den offensiven Charakter und ermöglichen<br />
Zangenangriffe. Theoretisch. Aber<br />
kaum hat Golia den Ball, tribbelt er drauflos<br />
und hört nicht mehr auf. Toll anzuhören, aber<br />
halt doch das Übliche, denn Smoker macht‘s<br />
umgekehrt genauso. Primadonnen und tüchtige<br />
Wasserträger. Zwei starke Trios, aber ein<br />
Quartett? Spannend wird es, wenn sich die<br />
Bläser überschneiden, erstm<strong>als</strong> nach 10 Minuten<br />
und das nur beim fliegenden Wechsel<br />
zum Trompetensolo. Das schon nach zwei Minuten<br />
von einem federnden Zupfbasssolo abgeschnitten<br />
wird. Die Bläser biegen synchron<br />
auf die Zielgerade ein, Golia bringt noch ein<br />
paar Verzierungen an und die Erdumdrehung<br />
ist komplett. Die Aufnahme ist im Unterschied<br />
zum idiosynkratischen O-Ton aus dem Spirit<br />
Room absolut bassfreundlich. Lanes Arcointro<br />
zu ‚Without Being‘ ist auch unter diesem<br />
Aspekt erstaunlich. Die Bläser intonieren diese<br />
Elegie anfangs gemeinsam und lenken den<br />
Blick dorthin, wo die Erde sich von uns wegkrümmt.<br />
Smokers schnattriges Zackenkammsolo<br />
ist eines aus dem goldenen Buch. Wenn<br />
Golia dann <strong>als</strong> Sopranolerche aufsteigt, ist<br />
immerhin der Kontrast so bemerkenswert,<br />
dass man die Plattenbauweise dieser Musik<br />
eine weitere Viertelstunde wie die Himmelsschraube<br />
von Samara anstaunt. Beim dunklen<br />
Memento ‚In Our Time‘ in seiner dröhnend kakophonen<br />
Konsonanz kehrt endlich Magie in<br />
diese Musik ein. Die sich aber mit dem abschließenden<br />
Uptempo-Ständchen ‚Lucia‘s<br />
First Breath‘ gleich wieder auf das hohe Niveau<br />
ihrer Routine eingroovt. Nicht dass ich<br />
glaube, dass man diese Musik besser spielen<br />
könnte und dass sie das Leben nicht angenehmer<br />
macht. Aber when it was all over I<br />
said to myself, is that all there is? If that's all<br />
there is my friends, then let's keep dancing.<br />
Let's break out the booze and have a ball. If<br />
that's all there is to magic music.<br />
18
CREATIVE SOURCES RECORDINGS (Lisboa)<br />
Thomas Pynchons Against the Day, dem mit „It‘s always night, or we<br />
wouldn‘t need light“ ein Ausspruch von Thelonious Monk voran gestellt<br />
ist, beginnt mit dem Start des ‚hydrogen skyship‘ Inconvenience mit den<br />
Chums of Chance an Bord. Als GROSSE ABFAHRT haben sich ebenfalls<br />
gleich acht ‚Freunde der Fährnis‘ zusammengetan, um sich mit erstes<br />
Luftschiff zu Kalifornien (CS 065) den Balken des Himmels anzuvertrauen.<br />
Das nicht sattelfeste Deutsch scheint gewollt und ist wohl den Copiloten<br />
Serge Baghdassarians & Boris Baltschun (beide electronics) geschuldet.<br />
Zusammen mit Chris Brown (piano & electronics), Tom Djll<br />
(trumpet), Matt Ingalls (clarinet), Tim Perkis (electronics), Gino Robair<br />
(analog synthesizer) und John Shiurba (guitar) brechen sie mit einer<br />
Handvoll Strohhalme einem 450 Fuß langen Proto-‚Zeppelin‘ das ‚Genick‘.<br />
Die überwiegend kalifornische Crew nimmt nämlich mit den Titeln ‚am anfang<br />
Zerstörung‘ und ‚Morrell remained hopeful‘ Bezug auf the first<br />
airship disaster in the U.S. In 1908 in Berkeley, Cal. a 450-foot long balloon<br />
collapsed and exploded, injuring 15 passengers and the inventor,<br />
John A. Morrell. Statt Action und Abenteuer vermittelt das Oktett jedoch<br />
nur die seltsam dünne Luft im Innern von ‚ein dicker gas bag‘. Ihre extrem<br />
rationierte Geräuschwelt scheint permanent auf Notstrom zu laufen. Jeder<br />
einzelne Klang ist ein Phänomen, das im Vorüberdriften einem zuwinkt<br />
wie eine verlorene Seele, leichter <strong>als</strong> Luft, durchsichtig und schon<br />
nicht mehr von dieser Welt. Mich, eh nicht schwindelfrei, beutelt doppelter<br />
Höhenkoller in solch gespenstischen Höhen, nur durch eine dünne,<br />
poröse, fadenscheinige Schallfolie vom Nichts getrennt.<br />
Dass E. Rodrigues die diskrete Ausrichtung seines Label nicht puristisch<br />
hütet, zeigt sich einmal mehr mit The Long And The Short Of It (CS 091).<br />
Denn der Sopranino- & Altosaxophonist STEFAN KEUNE (*1965) und<br />
seine Partner, der Drummer ACHIM KRÄMER (*19<strong>55</strong>) und der Kontrabassist<br />
HANS SCHNEIDER (*1953), sind alle drei altgediente Bergleute<br />
und Froschmänner im Who is Who des Plinkplonk. Keune, der mit seinem<br />
Solo Sunday Sundaes (CS 030) bereits das Lissabonner Terrain sondiert<br />
hatte, ist im Duo mit John Russell und mit dessen Projekt Quaqua seit<br />
Jahren direkt verlinkt mit dem britischen Way of Improvising. Krämer &<br />
Schneider sind sogar seit noch Längerem schon Kumpel im Georg Gräwe<br />
Quintett und im Grubenklangorchester, Schneider ist daneben auch noch<br />
in Quatuohr zu finden und immer wieder an der Seite von Paul Lytton,<br />
Krämer heuer in Moers bei Eckard Koltermanns Border Hopping. Die<br />
Hauptparameter ihrer Ästhetik <strong>als</strong> Trio sind daher nicht ‚Geräusch‘ und<br />
‚Reduktion‘. Im Gegenteil. Weitgehend maximalistisch spritzen sie mit quicken<br />
und quirligen Klangverwirbelungen um sich, interagieren mit abrupten<br />
dynamischen Changes. Im Austausch der Incus- & Bead-Versuchsreihen<br />
mit Soundaspekten der kontinentalen King Übü Orchestrü-Schule<br />
des Ungehorsams werden quasi Lachenmann‘sche Partituren mit der<br />
Virtuosität von Varietékünstlern oder F<strong>als</strong>chspielern wie Asse aus den<br />
Ärmeln geschüttelt. Das Cover zeigt Stapel alter Säcke. Nichts könnte irreführender<br />
sein, um das ständige Funkeln und Blitzen in der Trioretorte<br />
zu illustrieren. Selbst abgeflachte und gepresste Passagen wie etwa der<br />
lange Ausklang von ‚In due form‘ oder das molekular ausgedünnte ‚Three‘<br />
und selbst ‚On the quiet‘ sind noch durch ihre Äquivalenz zu<br />
Pollock‘scher Expressivität geprägt. 19
Das Schweizer SIGNAL QUINTET hat von seiner Japantour<br />
2006 Yamaguchi (cut 021) mitgebracht, einen Livemitschnitt<br />
aus der gleichnamigen Stadt an der äußersten<br />
Südwestspitze der japanischen Hauptinsel Honshu, genauer,<br />
aus dem dortigen Center for Arts and Media. Das YCAM<br />
operiert mit der Agenda, Zugang zu bieten to the world<br />
view of the 21st century, that is, a new universe of information,<br />
which is made possible through the fusion of information<br />
society, electronic and networking technologies.<br />
Das Quintett, bestehend aus Jason Kahn, Tomas Korber,<br />
Norbert Möslang, Günter Müller & Christian Weber, ist elektroakustisch<br />
bestückt mit Analogsynthesizer & Percussion,<br />
Gitarre & Electronics, geknackter Alltagselektronik, Ipods<br />
& Electronics und Kontrabass. Fasst hätte ich ‚einfach<br />
Kontrabass‘ geschrieben, aber was Weber mit seinem Instrument<br />
hier macht, ist alles andere <strong>als</strong> schlicht. Etwas<br />
anders zwar <strong>als</strong> sein Spiel mit Day & Taxi, WWW oder Olaf<br />
Ton und anders auch <strong>als</strong> im Spiel mit Meursault und TGW,<br />
mit Kahn oder Yamauchi, wo er sich aufs Feinste auf<br />
Dröhnminimalismen einpendelt. Während seine vier Partner<br />
einen Elektronensturm anfachen, ein anschwellendes<br />
Sirren, Knurschen, Zwitschern, Schleifen, Pulsieren, Splittern<br />
und was sonst an subatomaren Delirien, in Schallwellen<br />
verwandelt, denkbar ist, meine ich Weber herauszuhören<br />
mit dunklen Plonks. Sie sind nur identifizierbar durch<br />
die paar Sekunden an der Rückseite des vorübergezogenen<br />
Sturmes, <strong>als</strong> stoische Noten, die Stand hielten, weil sie<br />
dem Sturm zugeneigt waren. Der dritte Flügel dieses Mikronoise-Triptychons<br />
zeigt, wie auch der Auftakt schon,<br />
wieder die Alltagsgeräusche am knisternden und wabernden<br />
Ground Zero des Krauchens & Flauchens, des Aasens<br />
& Wesens der werdenden und vergehenden Dinge. Und ist<br />
fast so prickelnd, wie wenn man das Ohr über ein Glas<br />
Sprudel neigt.<br />
Ellen Fullman + Sean Meehan (cut 022) beschert die Begegnung<br />
mit einer der Größen des Long String-Sounds.<br />
ELLEN FULLMAN, 1957 in Memphis, Tennessee geboren<br />
und heute in Seattle zuhause, mag zwar <strong>als</strong> Baby von Elvis<br />
geküsst worden sein und am College Janis gemimt haben.<br />
Berühmt wurde sie ab 1981, <strong>als</strong> sie in Brooklyn die Faszination<br />
dröhnminimalistischer Vibrationen entdeckte und<br />
ihr Long String Instrument erfand. Sie erzeugt mit 14 Meter<br />
langen Drähten, die sie mit kolophoniumbestäubten Fingern<br />
bespielt, Mikrotonschwingungen, die im Klangbild<br />
zwischen Glasharfe, Mundharmonika, Akkordeon und Orgelhaltetönen<br />
vexieren. Ihr Partner, SEAN MEEHAN, ist in<br />
New York aktiv <strong>als</strong> ‚abstract drummer‘ und Ultraminimalist.<br />
Nur mit Snaredrum und Cymbal macht er Sachen, wie sie<br />
auf Sectors (For Constant) (SoSEDITIONS) zu hören sind.<br />
Während Meehan ansonsten einem gerne zumutet, auch<br />
lange Stille auszuhalten, gibt es hier drei je durchgängige<br />
Haltetonbeben. Nur zwischendurch hört man kurz die Außenwelt.<br />
Fullman formt wie ein Glasbläser riesige Tonblasen,<br />
Kugeln und Glocken, wie sie im Garten der Lüste <strong>als</strong><br />
Lustspender zu sehen sind. Meehan bringt seine Schnarrtrommel<br />
zum Beben oder nutzt das Sustain und das Wash-<br />
Rauschen eines Beckens (vermutlich, indem er mit einem<br />
Geigenbogen über die Kanten streicht). Sagte nicht einer<br />
mal: Die Welt ist Klang? Zumindest ist Physik a many-splendored<br />
thing, so simpel und ungeheuer effektvoll.<br />
20<br />
C U T (Zürich)
empreintes DIGITALes (Montréal)<br />
Der nickelbebrillte DARREN COPELAND, 1968 im kanadischen<br />
Bramalea geboren, fungiert <strong>als</strong> Artistic Director of<br />
New Adventures in Sound Art (NAISA) in Toronto. Die Kollektion<br />
Perdu et retrouvé (IMED0683, DVD-A) umfasst 6 Arbeiten<br />
der Jahre 2001-03, ergänzt mit zwei früheren Werken<br />
von 1991-92. Der Auftakt ‚They‘re Trying to Save Themselves‘<br />
ist ein übler Fall von Ploitation, der den hysterischen<br />
CNN-O-Ton einer Augenzeugin von 9/11 verwurstet. Find<br />
ich Scheiße, sorry. Eigentlich tendiert Copeland auch zu<br />
eher abstrakten Sound- und Dreamscapes, wobei er<br />
‚f<strong>als</strong>chen Fehlern‘, unerwünschten Anomalien, ein Gastrecht<br />
einräumt oder sogar ein ganzes Stück daraus baut<br />
(‚The Wrong Mistakes‘). ‚Streams of Whispers‘ hastet haspelnd<br />
über eine wordsoundartistische Wendeltreppe aus<br />
Gewisper; ‚On Schedule‘ dreht sich um Eisenbahngeräusche<br />
und die Strecke von London nach Moskau; das prasselnd<br />
überrauschte ‚Early Sign<strong>als</strong>‘, entstanden zum 100.<br />
Jahrestag der ersten transatlantischen Radioübertragung,<br />
um die Radiopioniere Marconi und Eckersly; ‚On a Strange<br />
Road‘ mit seinem Dröhn-‚Gesang‘ aus Regengeräuschen<br />
und Dopplereffekten ums Dahin-Fahrn-Fahrn <strong>als</strong> Autobeifahrer.<br />
‚Faith-Annihia‘ verdichtet <strong>als</strong> ‚urban soundscape‘ im<br />
abrupten Wechsel krachige Attacken und stille Löcher zu<br />
Großstadtstress. In Alltagsstoffen öffnen sich leichter die<br />
Freiräume, in die Copeland die Imagination locken möchte,<br />
<strong>als</strong> im schockästhetischen Effekt. Seine abstrakten, vagen<br />
oder ‚unmöglichen‘ Phantasielandschaften mögen sogar<br />
<strong>als</strong> „new ground of experience... to cultivate sensitivity“<br />
taugen mit dem Idealziel ‚Always Becoming Somebody Else‘.<br />
<strong>BA</strong>s letzte Begegnung mit ADRIAN MOORE liegt auch<br />
schon wieder gut 5 Jahre zurück, <strong>als</strong> wir Traces belauschten,<br />
frühe Arbeiten des Akusmatikers aus Nottingham, der<br />
bei Jonty Harrison studierte und nun selbst <strong>als</strong> Lecturer in<br />
Music an der University of Sheffield den akademischen<br />
Nachwuchs elektroakustisch düngt. Rêve de l‘aube<br />
(IMED0684) präsentiert nun zwei ca. 14-min. Kompositionen<br />
von 2004, ‚Dreaming of the Dawn‘, das mit Emily Dickinson-<br />
Flair orchestrale Klänge einkocht, während das heftige<br />
‚Power Tools‘ auf den transformierten Geräuschen von Rasenmäher,<br />
Heckenschneider und eines Stahlwerks in Sheffield<br />
basiert. Das nur 7-min. ‚Piano Piece (for Peter)‘ für Piano<br />
und Tonband entstand, mit Denis Smalleys Piano Nets<br />
und der Klaviersonate No.6 von Skrjabin im Hinterkopf, für<br />
den Pianisten Peter Hill. Die zweite Hälfte nimmt dann das<br />
gut halbstündige, 6-teilige ‚Sea of Singularity‘ ein, eine farbenprächtige<br />
Arbeit von 2001-03, die inspiriert wurde<br />
durch die Malerei der Fauves. Aus Moores Leinwand brechen<br />
Pferde, ein Akkordeon, Wassergeplätscher, Parkszenen,<br />
Trommler in der Berliner U-Bahn, die Glocken von<br />
St. Markus und die Gondeln von Venedig, ein Volksfest, Vögel,<br />
Grillen, blökende Schafe und nochm<strong>als</strong> Pferdehufgeklapper.<br />
Die Kontraste tendieren absichtlich ins Surreale.<br />
Moores Stillleben erfassen das Leben, wie wir es kennen,<br />
mit Augen und Ohren, <strong>als</strong> ob wir es nicht kennen. Harmonie<br />
ist weder so noch anders im Preis inbegriffen. „The white,<br />
fluffy clouds of a permanent ecstasy are stained with the<br />
grease of commercialism“ und die daraus resultierende<br />
Bizarrerie schmeckt nach Pfefferminzsoße.<br />
21
EXTREME (Preston)<br />
Extreme setzt seine Antripodean-Reihe fort mit Devic Kingdom (XCD-059) von Dr. RO-<br />
BERT VINCS. Der Australier, der heute am Victorian College of the Arts in Melbourne<br />
lehrt, hat <strong>als</strong> Fairlight CMI-Pioneer seit 1983 seine Spuren auf so mancher Hochglanzproduktion<br />
hinterlassen, aber auch für Tanztheater und Dergleichen komponiert und seit 15<br />
Jahren spielt er im Trio Zeno‘s Wig auch noch Jazz. Hier geht es um seine Virtuosität an<br />
Saxello, Tenorsaxophon und der koreanischen Knochenflöte, wobei er die Klänge mit interaktiver<br />
Elektronik aufmotzt. Dazu wird die Soundpalette noch erweitert durch Garry<br />
Greenwood mit einem ‚Lederhorn‘ & MAX processing-Rhythmik und beim letzten Track<br />
spielt Scott Dunbabbin einen extrem knurrigen Six String Upright Bass zu Vincs ätherischer<br />
Flöte. Was Trompeter von Toshinori Kondo bis Andy Diagram oder Carlos Bechegas<br />
schon mit elektronisch frisierter Flöte anstellten, das überträgt Vincs in unterschiedlichen<br />
Verfremdungsgraden (extrem bei ‚Body without Organs‘) auf Saxophon & Co., mit<br />
faszinierenden ‚Possible Music‘-Effekten. Beim Titelstück gleich zu Beginn, bei ‚Vision<br />
Quest‘, ‚Light Bomb‘ und ‚The Trainman‘ klappert dazu ein Drum‘n‘Bass-Programm vertrackte<br />
Tribal-Beats. Vincs beruft sich auf die Stringtheorie, wonach die Welt deshalb<br />
Klang ist, weil sie sich aus vibrierenden Objekten zusammensetzt. Das M der M-Theorie,<br />
ansonsten <strong>als</strong> Matrix, Master, mystisch oder Mutter gedeutet, steht bei ihm für Music<br />
Technology im Allgemeinen und für Mannigfaltigkeit im Besonderen. Stellt euch Elton<br />
Dean in Matrix-Virtualität vor, der in einer Cyberlandschaft, die ein wenig dem australischen<br />
Outback ähnelt, futuristische Songlines tiriliert.<br />
Mit The Garden of Forking Paths (XCD-061), einer<br />
weiteren Antripodean-Einspielung, lernt man den<br />
jungen Pianisten und Borgesleser MARC<br />
HANNAFORD kennen. Die komponierte Sonate<br />
‚I‘ll Go Down...‘ ist seine Visitenkarte, ‚222 1/2‘<br />
spielt er verhalten-nachdenklich im Duett mit dem<br />
Drummer Ken Edie, die weiteren Stücke dann zu<br />
dritt oder viert mit Philip Rex am Kontrabass<br />
und/oder dem Trompeter Scott Tinkler. Die kantig<br />
intonierten Pianotrios brauchen Vergleiche mit<br />
den spritzig-abstrakten Modernismen des Pandelis<br />
Karayorgis Trios oder Eric Zinman Ensembles<br />
nicht zu scheuen. Tinkler brilliert bei allen seinen<br />
drei Auftritten, wie nicht anders zu erwarten,<br />
wenn man sein experimentierfreudiges Andripodean-Solo<br />
Backwards kennt. Aber hier ziert er<br />
vor allem Hannafords Opus maximus, die 17-min.<br />
Komposition ‚G.E.B.‘ (Gödel, Escher, Bach?) mit<br />
schneidigen Postbopphrasierungen allererster<br />
Güte. Der Pianist zieht bei diesem Stück alle Register<br />
seines Thinking Man-Third Streams und<br />
verfolgt im anschließenden ‚Pure Evil‘ mit noch<br />
einmal betonter Lust am ‚absolut Bösen‘ die<br />
‚Weiße Linie‘, die atonikale Wien-Connection, um<br />
sie mit einem epileptischen Nicht-Swing so zum<br />
Tanzen zu bringen, wie es sich der Fluch des<br />
‚Don‘t mean a thing‘ nicht hätte träumen lassen.<br />
Das Solo ist pure Op.23-Schule, verschlippenbachter<br />
Schönberg. Danach müssen die einen ihren<br />
Kopf durchchecken lassen (‚Head Check‘),<br />
während wir andern gleich weiter zu krummen<br />
Takten Bocksprünge machen. Dass Monk ein<br />
Leitstern für Hannaford ist, dem er im Monk Project<br />
mit Jamie Oehlers folgt, versteht sich dabei<br />
von selbst. Bei ‚What was that?‘ (gute Frage)<br />
schmettert nochmal Tinklers Trompete und verkündet<br />
Australiens Ansprüche auf Jazzlorbeer.<br />
22
FARAI-RECORDS (Berlin)<br />
Nach den ersten Minuten von Grid Mesh (frec2) zu urteilen, scheint GRID<br />
MESH darauf aus zu sein, das weite Feld geräuschverliebter Improvisation zu<br />
beackern. Nach 6 Minuten bin ich mir aber da nicht mehr so sicher. Das in Berlin<br />
aktive Trio aus dem 1977 in Oberösterreich geborenen Rudi Fischerlehner,<br />
der mir mit Odd Shot schon seine Trommelstöcke zwischen die Füße geworfen<br />
hat, dem Saxophonisten Frank Paul Schubert, den 1999 die Berliner von der<br />
Frankfurter Szene weg lockte, und dem ‚Gitarrenwilden‘ Andreas Willers<br />
gleicht Thomas Crown, es ist nicht zu fassen. Willers ist hier der einzige Berliner,<br />
mit seinen Gibsons der Mann mit der meisten Erfahrung und einer Bandbreite<br />
von Hendrix bis Giuffre, denen er mit Experience bzw. In the North gehuldigt<br />
hat, wie auch der Blechtrommel mit den Tin Drum Stories und Max<br />
Frisch mit Montauk (letztere allesamt auf Between The Lines). Wie man bei<br />
‚Wucher‘ hört, verbindet er, da wo es passt, sein Fingerpicking mit elektronischen<br />
Rauschwolken, um daraus dann wieder mit Figuren aufzutauchen,<br />
so virtuos, wie sie ansonsten Kevin O‘Neil für Braxton von den Saiten pflückt.<br />
Und sich anschließend kopfüber in fuzzige, feedbackumjaulte Drones zu stürzen.<br />
Schubert gibt dafür seine guiffre‘neske Abgeklärtheit, seine feinen Alto- &<br />
Sopranolyrismen preis und zeigt unvermutete Reißzähne. ‚10.KM 2_5‘ schlägt<br />
nach all den eklektischen Exkursionen dann wieder den Bogen zum Auftakt,<br />
<strong>als</strong> eine gedämpfte Undefinierbarkeit, voller surrealer Widersprüche, rasend<br />
klackernden Beats zu zwielichtigem Gitarrenschimmer - Willers ist wirklich ein<br />
Stupor mundi-Gitarrist - und einer Saxophonhummel, die im Raum Achterbahn<br />
brummt. Gleichzeitig kontrolliert und intuitiv, kalkuliert und mit Lösungen, die<br />
überraschen und unmittelbar einleuchten.<br />
Puristen rümpfen die Nasen, während ich große Ohren bekomme, wenn Drummer<br />
& Farai-Macher Rudi Fischerlehner mit PINX erneut seinen Piefkeaffinitäten<br />
frönt. Das Gemälde von der totalen Mobilmachung einer Metropole auf<br />
dem Cover von Milieu (frec3 / NRW 3051) stammt von Katrin Plavcak, vorm<strong>als</strong><br />
Sängerin von Blendwerk, dem ‚Streßcore‘-Quartett, in dem Fischerlehner übte,<br />
bis 4 zu zählen und dass Volxmusik mit x geschrieben wird. Wie Pinx, ebenfalls<br />
ein Vierer, mit Fabian Kalbitzer am E-Bass, Sebastian Borkowski am Tenorsax<br />
und dem Trompeter Nikolaus Neuser. Fischerlehner rührt seine Trommelstöcke<br />
auch noch in Almut Schlichtings Sextett Shoot The Moon und im Sonic Fiction-Trio<br />
nhf. Kalbitzer kann auch Kontrabass und bedient mit Fischerlehner in<br />
Belleville Swing-, Musette- & Tango-Nostalgie. Borowski ist TIAO und tanzt <strong>als</strong><br />
solcher bei Brothers Keepers und liveDEMO auf wieder ganz anderen Hochzeiten.<br />
Neuser groovt ansonsten im Nu Jazz-Duo Trondheym und mit der Balkan-Disco-Truppe<br />
eto-x und macht meine Verwirrung, aber auch meine Freude<br />
komplett, dass derart disparate Elemente unter einen Hut passen. ‚Be a<br />
don‘t be a part of‘ ist dafür der paradoxe Leitspruch, ‚Schlaf ist keine Lösung‘<br />
sowieso. War Grid Mesh improvisiert, so ist der Pinx-Stoff von Fischerlehner<br />
notiert und arrangiert. Anfänglich uptempo, aber gleich auch schon im Stau<br />
und auf Umleitungen dirigiert. Trotz des E-Basses nicht fusion-orientiert, eher<br />
von abrupten Tempowechseln bestimmt, von cooler oder angerauter Trompetenpoesie,<br />
kontrastiert mit dringlichen Saxophonsturmläufen. Und mit der allerzartesten<br />
Coda (‚Waste‘). Fischerlehners Kniebrechtakte bestimmen den<br />
Antrieb. Sein krummtaktiger Swing ist total abgespeckt, Ockhams Rasiermesser<br />
in Aktion. Rhythm, isn‘t it? Manchmal reduziert auf eine bloße Schmauchspur<br />
wie beim Bartleby-Auftakt zu ‚Be a don‘t be...‘. Wobei sie Bartlebys „I would<br />
prefer not to“ in ihr ‚It‘s not not‘ verwandeln. Ein eigener Weg <strong>als</strong> Ausweg aus<br />
der Unmöglichkeit zu wählen, wenn auch mit prekären Momenten im Unwegsamen,<br />
die Bass und Trommelstöcke vorsichtig, aber entschlossen überbrücken.<br />
Bei ‚Xeno‘ könnte Fischerlehner an seine Wiener Jahre gedacht haben und an<br />
Karl Valentins Überlegung, dass der Fremde nur in der Fremde fremd ist. Mit<br />
‚Copy me‘ endet Pinx mit einem weiteren Paradox. Ein Koffer in Berlin scheint<br />
hier tatsächlich Allerhand für sich zu haben. Oder war es die Linzer Schule?<br />
23
FIREWORK EDITION RECORDS (Hägersten)<br />
Die Kingdoms of Elgaland-Vargaland, kurz<br />
KREV für KonungaRikena Elgaland-Vargaland,<br />
haben seit ihrer Gründung am 27. Mai<br />
1992 durch Subversion und Annektion ihr<br />
Herrschaftsgebiet ständig erweitert, zuletzt<br />
am 10.6.2007 durch die Okkupation<br />
der Isola di San Michele, der Toteninsel,<br />
ehem<strong>als</strong> Teil der Stadt Venedig und der<br />
Republik Italien. Das Reichsgebiet aus „all<br />
border territories between all countries on<br />
earth, and all areas (up to a width of 10<br />
nautical miles) outside all countries’ territorial<br />
waters ... including the Hypnagogue<br />
State (the state between being awake and<br />
being asleep), the Escapistic Territory<br />
(conscious, mental space travel akin to<br />
daydreaming, telepathy, and so on), and<br />
the Virtual Room (a borderless digital<br />
space)“ ist <strong>als</strong>o in beständigem Shapeshifting<br />
begriffen. Und es gibt dazu immer wieder<br />
Versuche, Kontakte zu Geistes- und<br />
Seelenverwandten unter sublimeren Intelligenzen<br />
zu knüpfen. So etwa mit dem Projekt<br />
“Angels via Spirits”, realisiert in der<br />
Robert Berman Gallery, Los Angeles, July<br />
17, 1999. Die KREV-Schlagzeile dazu lautete:<br />
LEIF ELGGREN and CM VON<br />
HAUSSWOLFF, founders of The Kingdoms<br />
of Elgaland-Vargaland and all the citizens of<br />
the Kingdoms of Elgaland-Vargaland establish<br />
contact with the angels. Live in LA (FER<br />
10<strong>55</strong>) dokumentiert, wenn ich die etwas<br />
kryptischen Mizinvormazions recht verstehe,<br />
den vorbereitenden Kraftakt der beiden<br />
Majestäten im Verbund mit PER<br />
SVENSSON, seit Juli 1998 KREV-Konsul in<br />
Smedsby, am 14.7. in den Räumen der<br />
Beyond Baroque Foundation im benachbarten<br />
Venice, CA. Wir hören Atemzüge,<br />
Stimmen, anrufende Morsesignale, dröhnminimalistisches<br />
Grundrauschen und<br />
Wummern beim Versuch, die dimensionalen<br />
Membranen über der Stadt der Engel<br />
durchlässig und die Atmosphäre leitfähig<br />
zu machen. Holziges Klappern lässt vermuten,<br />
dass auch bestimmte rituelle Handgriffe<br />
vorgenommen wurden. Wellen ziehen<br />
mit Dopplereffekt durch den Hörraum,<br />
der in seiner konservierten Schizophonie<br />
‚hier‘ & ‚jetzt‘ von sirrenden Mauerseglern<br />
und den Glocken von St. Adalbero zusätzlich<br />
durchstoßen wird. Eine Automatik beginnt<br />
gebetsmühlenartig zu rotieren, verlangsamt<br />
sich zu einem ‚Trommeln‘. Nach<br />
35 Minuten tatsächlich eine gurgelnde<br />
Stimme: ...I ....was ...born ...under ...a<br />
...wandering ...star. Die Luft wird weicher<br />
und harmonischer, die Kurbelwelle stampft<br />
und bohrt. Bis nur noch keuchende Atemzüge<br />
zu hören sind.<br />
CUNT 69 (FER 1063) ist nach Zzz..., Cod Fish<br />
Suit, 9.11, Two Thin Eating One Fat, The Party<br />
und Experiments with dreams ein weiteres<br />
Werk der Produktionsgemeinschaft von LEIF<br />
ELGGREN och THOMAS LILJENBERG. 66<br />
bruitistisch prasselnde, anfangs wie von<br />
Tambourgetrommel oder Gitarrenlärm durchzogene<br />
Minuten, in denen der Geist von Charles<br />
Bukowski herum gurgelt. Bei ‚Traumreich<br />
vers 2‘ lädt eine Stimme ein dorthin, wo schon<br />
berühmte Vorgänger der beiden Schweden,<br />
Swedenborg, Strindberg und Jürgenson, ihre<br />
Nasen hinein steckten. Bukowski war mehr<br />
der ‚Nose in your pants‘-Typ. Er wird beschworen<br />
<strong>als</strong> eine rau verzerrte Geisterstimme,<br />
die auf paranormalen Kanälen ‚Letzte<br />
Gedichte‘ stammelt (‚Röst‘). Nach diesem 24min.<br />
EVP-Kontakt, rezitieren und instrumentieren<br />
Elggren & Liljenberg Bukowski‘sche<br />
‚Nachlass-Gedichte‘, die ihnen 1996 in Kassel<br />
von einem Künstlersaufkumpan in die Hände<br />
gedrückt worden waren. Lakonisch kurze wie<br />
‚X‘ oder ‚1989‘, ‚(schl)echte‘ wie ‚Alcohol‘<br />
(and pussies / masturbating in front of the Television).<br />
Das 3-teilige ‚Opera‘ rumort mit<br />
Tonbandnoise und paranormalen Gesängen<br />
des Phantoms der Oper. ‚Cuca Cuka‘ träumt<br />
einen apokalyptischen Coca Cola-Alptraum,<br />
‚Nose in your pants‘ und ‚Gold‘ vertauschen<br />
Freudianisch den Johannes des Mannes bzw.<br />
Gold und Scheiße. Aaaaaaiiij!!!<br />
PER SVENSSONs Performance- & Klangkunst<br />
kreist auch bei EL/ELEMENT 1 (FER<br />
1064) um Energie, Element, Alkemi. EL<br />
entstand am 6.10.1987 auf dem Gelände des<br />
AKWs Forsmark I-III <strong>als</strong> Aktion gegen die nukleare<br />
Verschmutzung. Untermischt sind industriale<br />
Klänge aus dem alten Kanonenwerk<br />
in Skeppsholmen bei Stockholm, Gehämmer,<br />
Schweiß- und Mahlgeräusche, Theaterblechdonner.<br />
ELEMENT 1 war eine Aktion am<br />
17.9.1987 vor den Mauern des Königlichen<br />
Schlosses, an die Svensson, von Polizei und<br />
den Wachposten beargwöhnt, Weapon Death<br />
Heat Food Life schrieb. Elementare Geräusche<br />
von Erde, Luft, Feuer, Wasser und Metall<br />
mahnen, dass der Umgang mit ihnen heikel<br />
und zweischneidig ist. Eine Frage von Macht<br />
und Verantwortung. Der Anspruch schwedischer<br />
Elektroakustiker, <strong>als</strong> Neoschamanen<br />
und moderne Alchemisten auf Augenhöhe zu<br />
Göttern und den Mächten dieser Welt zu<br />
sprechen, wird dabei einmal mehr deutlich.<br />
Symbole ersetzen keine Politik? Letztlich sind<br />
auch die Aktionen des schwarzen Blocks, der<br />
Öko-Terrorismus eines Unabombers oder<br />
John Zerzans neo-primitivistische Scherbengerichte<br />
nur handfeste Zeichensprache.<br />
24
HIGH MAYHEM (Santa Fe, NM)<br />
Inzwischen überrascht es mich schon nicht mehr, dass das, was mich<br />
da aus Santa Fe erreicht, bezaubert und erstaunt. Mit The Defector<br />
(CD-R EP) debutieren THE BRILLIANT DULLARDS, ursprünglich ein<br />
Duo des Desertsongwriters Alex Neville mit dem Bassisten<br />
und Trompeter Chase Haynes. Ihre ausgedörrten<br />
Countrysongs mit Gitarren- oder Banjogeklampfe<br />
bekommen inzwischen einen federnden Untersatz<br />
durch das Tickling und die Besenshuffles von Grilly<br />
Biggs-Drummer Milton Villarrubias, der zusätzlich<br />
Staub mit seinem Laptop aufwirbelt. Den herzensbrecherischen<br />
Clou bringt jedoch der ziegenbärtige Jeremy<br />
Bleich ins Spiel, ansonsten Bassist von Birth und<br />
Oudspieler mit Eftah. Hier aber fiept er auf einer Melodica<br />
und verströmt mit ihrem ‚Mundharmonika‘-Quäken<br />
Melancholie und Untergangsstimmung. Wenn Haynes<br />
zu Nevilles heiserem Pathos noch Trompetentöne<br />
presst wie beim Abschiedslied ‚Sequester‘, dann wird<br />
die ‚Southern Tristesse‘ zäh und schwarz wie Teer.<br />
Was mit dem traurigen ‚Reveille March‘ beginnt, zieht<br />
wie ein geschlagener Haufen vorüber. Dass diese geprügelten<br />
Hunde dabei von einem wehmütigen Musette-Walzer<br />
träumen, bei ‚The Infraction‘ bittersüßen Klängen von South<br />
of the Border lauschen und doch noch mit einem weiteren kleinen Walzer,<br />
‚Children‘s Poems‘, schwanzwedelnd wieder Tritt fassen für den<br />
lärmigen, trompetendurchschmetterten ‚March Taps Out‘, das ist eine<br />
unerwartete Wendung. Die Southern Melancholie von Giant Sand, The<br />
Black Heart Procession, South San Gabriel, Souled America bekommt<br />
hier eine eigene Note.<br />
THE LATE SEVERA WIRES sind ein ganz besonderes Quartett und<br />
liefern mit three minutes a second (LP) die Argumente, um diese Besonderheit<br />
zu untermauern. Carlos Santistevan (bass), Mike Rowland<br />
(drumset), Ultraviolet (turntables, guitar) und Yozo<br />
Suzuki (guitar), außer Rowland allesamt noch mit<br />
Electronics verkabelt, klöppeln und häkeln anfangs<br />
nur fingerspitz an ihrem elektroakustischen Gewebe.<br />
Aber bald schraffiert Santistevan schon hitzigere<br />
Klangflächen und bei ‚Mass Over Volume‘ setzen Uptempodrumming<br />
und aufrauschender Gitarrennoise<br />
die Klangmoleküle massiv unter Druck. Die Wires entpuppen<br />
sich <strong>als</strong> Feuer spuckende Drachen mit einer<br />
Aversion gegen Kälte und Erstarrung. ‚No More Icebergs‘.<br />
Rowland klopft und tickelt, aber Struktur in<br />
dieses Grollen bringen allenfalls noch einige der<br />
plumpen Tanzschritte dieses Godzilla aus der Gila<br />
Wilderness von New Mexico. Bei ‚On/Off‘ zuckt er wie<br />
von elektrischen Schlägen gekitzelt, es macht ihn<br />
übermütig. ‚I‘m Feeling Lighthearted‘. In diesen vierpoligen<br />
Kollisionen zählt nicht mehr das Individuum,<br />
sondern der Überschuss an unvorhergesehenen<br />
Sounds. Godzilla schält und schuppt sich, sein Herz ist phosphorizierende<br />
Weißglut. ‚Like Shedding‘. ‚White Phosphorus‘. DJ Ultraviolet lässt<br />
sich zu mexikanischen Karnev<strong>als</strong>turbulenzen inspirieren, Mariachi on<br />
speed. Kinderstimmen, klappernde Hufe, der Bass brummig summend,<br />
Singsang und näselnde Blasinstrumente, die Tonhöhe wirft Falten, die<br />
Gitarre krabbelt auf der Tonleiter. Glaubt man die Wires zu kennen,<br />
wandeln sie mit ihrem Soundmorphing schon wieder selbst die Gestalt.<br />
Sicher ist hier nur die Anmutung des Phantastischen, beständig nur<br />
der Konjunktiv, garantiert nur das Abenteuer.<br />
25
I N T A K T<br />
(Zürich)<br />
FRED FRITH und CHRIS BROWN<br />
sind sozusagen ‚Mills Brothers‘. Frith<br />
lehrt an diesem bemerkenswerten<br />
College in Oakland Komposition & Improvisation,<br />
sein 1953 in Chicago geborener<br />
Kollege elektronische Musik.<br />
Entsprechend ist auch dessen perlendes<br />
oder gehämmertes Pianospiel bei<br />
Cutter Heads (Intakt CD 124) um ein E<br />
erweitert, das für interaktive Resonanzen<br />
und rätselhafte Phantomklänge<br />
sorgt. Saitenklang vexiert mit Innenklaviereffekten,<br />
perkussive Schläge<br />
traktieren den Gitarren- oder den<br />
Pianokörper, elektronisches Sirren<br />
könnte Brown, aber auch Friths E-Gitarre<br />
zum Ausgangspunkt haben.<br />
Selbst wenn Frith eine Akustische bekrabbelt,<br />
bleiben ununterscheidbare<br />
Sounds. Zu Browns Profil gehören neben<br />
Improvisationen mit Room und<br />
dem Glenn Spearman Double Trio, Interpretationen<br />
von Cowell, Ferrari, Riley<br />
und Zorn, Kompositionen wie Lava<br />
(Tzadik), Invention#7 & Alternating<br />
Currents (Ecstatic Peace) und Installationen<br />
wie Talking Drum und Transmission<br />
Temescal speziell Live Electronics-Performances.<br />
Die Duette mit<br />
Frith scheinen über die Synergie<br />
spontaner Erfindungskraft hinaus an<br />
jenem Faktor interessiert, auf den mit<br />
‚Dust‘, ‚Riddle‘ oder ‚Thick Air‘ hingedeutet<br />
wird. Dass ein drittes Element,<br />
unsichtbare Hände, mit ins Spiel kommen,<br />
wenn Browns Live Electronics<br />
auch Friths Gitarre mit transformieren,<br />
dem gemeinsamen Dritten einverleiben,<br />
an dem auf der vordergründigen<br />
Ebene weiter gezupft, geschrappt<br />
und getrillert wird. Wobei<br />
dieser Faktor, bei ‚Sings the Foundation‘<br />
allerdings erst, nachdem halluzinatorische<br />
Loops und Drones ganz<br />
allmählich ausdünnen, immer wieder<br />
und beim abschließenden ‚The Way<br />
You Do The Things‘ sogar besonders<br />
transparente und zarte Formen annimmt,<br />
<strong>als</strong> sirrendes Gitarrenfeedback,<br />
zirpiges Geflirr, diskantes Schaben<br />
und träumerische Pianotropfen.<br />
Seit dem Deutschen Jazzpreis 2005 hat sich herum<br />
gesprochen, dass ULRICH GUMPERT<br />
(*1945, Jena) einiges mehr geleistet hat, <strong>als</strong> im<br />
Zentralquartett Klavier zu spielen. Obwohl das<br />
ausreichen müsste für ein Plätzchen in der Jazz-<br />
Ruhmeshalle. Aber zu seinen Meriten gehören<br />
eben auch Satie-Interpretationen, auf den Punkt al<br />
dente, oder die Filmmusik für den von Günter<br />
Lamprecht verkörperten Berliner Tatort-Kommissar<br />
Markowitz (1991-95). Eine Folge hieß Berlin -<br />
Beste Lage und dieser Werbespruch scheint insbesondere<br />
junge Jazzer angesprochen zu haben,<br />
den Drummer Ulrich Griener, der 1994 aus Nürnberg,<br />
oder Jan Roder, Bassist von Die Enttäuschung,<br />
der ein Jahr später aus Lübeck kam, sogar<br />
den Tenorsaxophonisten Ben Abarbanel-Wolff,<br />
den es 2001 von Washington, D.C. an die Spree<br />
zog und der dort im Sirone Quartett und <strong>als</strong> Leader<br />
eines eigenen Fuß gefasst hat. Diese Drei<br />
spielen nun zusammen mit Gumpert seine Quartette<br />
(Intakt CD 127), darunter, in Reminiszenz an<br />
alte Brainstormingtage mit den Synopsis / Zentralquartettfreunden<br />
Sommer, Petrowsky und Bauer,<br />
die ‚Conference at Baby‘s‘, ‚...at Luten‘s‘ & ‚...at<br />
Conny‘s‘, verqualmte, hochprozentige Liebeserklärungen<br />
an die Cats, von denen die inspirierenden<br />
Impulse- und Blue Note-Klassiker stammen,<br />
die sich dabei auf den Plattentellern in der Christburger<br />
Straße am Prenzlauer Berg bei Baby oder<br />
Conny drehten oder bei Petrowsky, der Richtung<br />
Flughafen Schönefeld hauste. Gumpert hat sich<br />
mit seiner Sammlung von Vinylpreziosen am<br />
Schiffbauerdamm festgekrallt, mit Blick auf<br />
Brechts Hinterkopf, und beschreibt sein Lebensumfeld<br />
in ‚Blue Circus‘. ‚Von Hier und Anderswo‘<br />
pfeift mit Wehmut ein Lied aus vergangenen Tagen.<br />
‚Circulus Vitiosus‘ ist, was es heißt, ein 18-faches<br />
Play it again von 16 Takten, so wie Gumpert<br />
in endlos blauen Stunden die Motive seiner Helden<br />
umkreist, Coltrane, Coleman, Mingus, Miles, Cherry.<br />
Er kopiert keinen und doch sind sie alle gegenwärtig,<br />
die quecksilbrigen Geister aus dem Five<br />
Spot Cafe oder dem Village Vanguard. Die Quartette<br />
geben dem Stoff jeweils einen Dreh, der das<br />
Original aufschimmern und wie neu erscheinen<br />
lässt, wobei Abarbanel-Wolff vollmundig wie ein<br />
‚Alter‘ auftrumpft. Gumpert splittert dazu stahlblanke<br />
Pingkapriolen, grobe Richtung: Mengelberg<br />
oder Schlippenbach. Er war die treibende Kraft<br />
hinter Aus teutschen Landen gewesen und konnte<br />
dabei zeigen, dass Jazz im Grunde eine bestimmte,<br />
durch Erfahrungen der Migration und Verstädterung<br />
hindurch gegangene Weise ist, Volksmusiken<br />
rhapsodisch aufzupeppen, zu ‚Verzigeunern‘,<br />
zu ‚Amerikanisieren‘. Ganz Berlin könnte davon ein<br />
Lied singen. Statt dessen gefällt man sich <strong>als</strong> überdimensioniertes<br />
Sandbrötchen aus Hirschhornsalz<br />
und Zuckerguss. Bei Gumpert gibt es kein ‚Hier‘<br />
ohne ein ‚Anderswo‘.<br />
26
LAST VISIBLE DOG (Providence, RI)<br />
Chris Moon und sein mir mehr und mehr sympathisches Label in<br />
Providence, RI, stellen auf Crows of the World vol.1 (LVD<br />
099/100, 2 x CD) schräge Vögel vor, die den äußersten Rand<br />
des LVD-Biotops bewohnen. Als Vertreter der intelligenten Familie<br />
Corvidae begegnen einem da The Family Players aus<br />
dem finnischen Lutakko; <strong>als</strong> Western Automatic ein Soloprojekt<br />
des Zeniople-Mannes Matt Christensen in Chicago; das Organ-Duo<br />
Ilya Monosov/Preston Swirnoff; Andrea Belfi &<br />
Friends, immerhin ein Name, der in <strong>BA</strong> schon gefallen ist anlässlich<br />
seines Häpna-Releases Between Neck & Stomach; sowie<br />
Paper Wings, zu denen sich die Gitarristen Anthony Guerra<br />
& Antony Milton zusammentaten. Ebenfalls ein Gitarrenduo<br />
ist Northern Cross mit Geoff Mullen aus Providence & Kris<br />
Lapke; Brasil and the Gallowbrothers Band kommen aus<br />
Polen, finden erst keinen Anschluss unter dieser Nummer, bevor<br />
sie mit Gitarre, Korg, Orgel, Oszillator und hingehauchtem<br />
Sprechgesang in ihre Tristesse eintauchen lassen; mit Sunken<br />
geht ein weiteres Projekt des neuseeländischen PseudoArcana-<br />
Machers Antony Milton an den Start, diesmal mit Orgel, sakralem<br />
Murmelgesang und diskanten Rückkopplungen; daneben<br />
wirkt Kawaguchi Masami‘s New Rock Syndicate wie ein<br />
70s Rocktrio auf dem LSD-Marsch. Und abschließend hört man<br />
noch die weirden Freerocker Oaxacan aus Oakland mit Mike<br />
Guarino an den Drums, Derek Monypeny an der Gitarre und<br />
Amy Turgors „oo|o|oo||oo.o.oo. o.o.o....oo..o.oo.||||.ooo.o.o.o“-Vocalizing.<br />
Aufgefächert werden verschiedene Spielarten von<br />
dröhnminimalistischer Psychedelic und Ansätze von Freak Folk,<br />
etwa bei Digitalis-Macher Brad Rose in Tulsa, der unter dem Namen<br />
The North Sea zu mittelalterlichem Getrommel sein Banjo<br />
(?) <strong>als</strong> Laute pickt. Durch die Bank erklingt starker bis sehr<br />
starker Stoff, ob lo-fi, semiakustisch oder <strong>als</strong> dröhnender Feedbackmulm.<br />
Neuseeland ist definitiv eine Brutstätte für Freerock. THE IDLE<br />
SUITE ist ein Konglomerat von Leuten, die aus ihrer insularen<br />
Inzucht eine musikalische Tugend entwickelt haben und einen<br />
entsprechenden Humor: ‚We are the Urns from Undr‘. Mark Williams<br />
& David Hall von MarineVille spielen auf Up Two Sticks<br />
Road (LVD 110) Gitarre & Bass, Greg Cairns von Sferic Experiment<br />
und James Kirk von Sandoz Lab Technicians abwechselnd<br />
und im Doppelpack Drums, nur Keyboarder Kristen Wineea<br />
scheint ein halbwegs noch unbeschriebenes Blatt zu sein. Die<br />
improvisatorischen Daddeleien und Clashes kulminieren im 9minütigen<br />
‚Sphyma Zagaena‘, nicht zufällig benannt nach dem<br />
Glatten Hammerhai, und den 23 Minuten von ‚Forcefield‘. Es gibt<br />
sicher Musiken, die schneller auf den Punkt kommen, aber genau<br />
an diesem Punkt scheinen die Neuseeländer am wenigsten<br />
interessiert. Rock, der so ohne Netz und ohne Ziel umher<br />
streunt, lässt vor allem Williams die Freiheit mit seiner Gitarre<br />
zu tagträumen, bevor die Rhythmsection, allen voran der druckvolle<br />
Hall, ihn mit ihrem Acceleranto mit ins Rollen bringen.<br />
Aber gerade wenn der Zug abgeht, wird wieder umgeschaltet<br />
auf bekiffte Träumerei.<br />
27
Neuseeland ist eine Insel. James Kirk trommelt auch im Freerocktrio THE<br />
STUMPS (nicht zu verwechseln mit Kev Hoppers einst <strong>als</strong> ‚Trout Mask Replicants‘<br />
gelobten Stump). Die Downunder-Stumps formierten sich 2003<br />
aus Kirk, dem umtriebigen Antony Milton again und Stephen Clover am<br />
Bass, wenn man so will, in der klassischen Guru Guru-Besetzung. The<br />
Black Wood (LVD 111) lässt aus den Boxen ausschließlich instrumentale<br />
Psychedelic dröhnen, zäh wie Teer. Die Klänge stagnieren in ihrem halbflüssigen<br />
Zustand, ölige Schlieren blecken ihre bizarren Paisleyzungen.<br />
Rock ist das nur, wenn man die Zeit von Dali‘schen Uhren abliest. Kirk<br />
schlägt oft minutenlang keine Beats, sondern lässt nur perkussiven Hall<br />
im Hintergrund morphen. Darüber wölbt Milton metallic-schimmernde<br />
Wellen (die bei Trk 7 besonders prächtig aufwallen). Sporadisch knickt<br />
und knittert Kirk den Zeitstrom, nur um gleich wieder zeitlupig dahin zu<br />
hinken, <strong>als</strong> ob er in eine überreife, klebrige Riesenkiwi getreten wäre. Miltons<br />
Gitarrensounds verziehen sich wie in einem alchemischen Ofen,<br />
verfärben sich vom Rötlichen ins Weißliche, knurren und wummern,<br />
durchmischt mit einem Bass, an dem sich ebenso wenig ein Puls fühlen<br />
lässt. Statt dessen hüllt sich Clover in Tintenfischwolken. Wenn sich die<br />
Drei mal rockig eingrooven (Trk 3), scheint Stumps Elevator Noir seine<br />
Tür mitten in den 70er Jahren zu öffnen. Zottelmähnige Japaner steigen<br />
zu und die Luft versuppt wie das Wasser des Toten Meeres. Strange.<br />
Providence ist uns Würzburgern ein Begriff durch die urigen, leider aufgelösten<br />
Urdog. Ihr Keyboarder Jeff Knoch tauchte seither in Eyes Like<br />
Saucers auf und nun an der Seite von Erik Carlson in AREA C. Dessen<br />
Loops & Gitarre und Knochs Farfisa- & Harmoniumgepumpe geben Haunt<br />
(LVD 113) das ganz spezielle Klangbild. Der Titel korrespondiert mit einem<br />
gleichnamigen Gedichtband von Keith Waldrop, Chevalier des arts et<br />
des lettres in Providence. Ob man sich auf Space-Trip mitgenommen fühlt<br />
oder in eine meditative Stimmung versenkt wird, das bleibt der jeweiligen<br />
Imagination überlassen. Mir scheint Area C hier näher bei Town & Country<br />
<strong>als</strong> bei Popol Vuh. Dröhnminimalistisch brummende Mäander, durchsetzt<br />
mit pulsierenden Schüben und stotternden Impulsen, atmen zuallererst<br />
die seltsamen Orgel- oder Akkordeonklänge von Farfisa & Harmonium.<br />
Das ist ‚strange‘ per se. Und entfaltet einen fast unwiderstehlichen<br />
Sog ist Träumerische und Geheimnisvolle, halb Exotica, halb Nostalgie,<br />
Fernweh und Flucht aus der Zeit. ‚Names of Places‘ bringt für knapp 3 Minuten<br />
eine Drummachine ins Spiel, bevor ‚Circle Attractor‘ mit hypnotisch<br />
repetierten Keyboardfiguren drehwurmartig hinter der Zirbeldrüse zu rotieren<br />
beginnt. Der Monstertrack, durchsetzt mit regnerisch tröpfelnden<br />
oder schleifenden Loops, spaltet sich in zwei Teile, verfällt im zweiten in<br />
ein schwermütiges Brüten, aus dem die Gitarre am Ariadnefaden einer<br />
sehnsuchtsvollen Melodie wieder hinaus führt. Absolut ‚haunting‘.<br />
Andrew Moon, ein weiterer Neuseeländer, spielte in den 80ern Schlagzeug<br />
in Goblin Mix, bevor er ab Mitte der 90er <strong>als</strong> rst monumentale Werke<br />
für Dröhngitarre zu erschaffen begann - The Acceleration Station (1995),<br />
R136a (1997), Warm Planes (2000) - , mit denen er bei Ecstatic Peace und<br />
Corpus Hermeticum auf offene Ohren stieß. Mit Axes (LVD 114) versucht<br />
er einmal mehr, die Schwerkraft zu überwinden. Dazu braucht er sich nur<br />
mit Mondlicht voll zu saugen und sich ganz auf den Stern zu konzentrieren,<br />
zu dem er sich aufschwingen möchte. Energie liefern ihm brummende<br />
Grundtöne, verschieden getöntes fuzziges, knurriges, wummerndes<br />
Dauerfeedback, auf das er eine kleine Melodie tupft oder ein weiteres, allerdings<br />
ganz helles Dröhnen, wie der Singsang einer Glasharmonika.<br />
Oder eine pulsierende Schwingung, ein zwitscherndes Sirren. Ein Titel<br />
wie ‚Return to the Stars‘ macht klar, was Moons kosmonautisches Streben<br />
antreibt - Heimweh. Seine Gitarre verwandelt sich vollständig in ein<br />
Sternenschiff. Was sich sonst Dröhnminimalistik oder Dark Ambient<br />
schimpft, will doch nur den Weltinnenraum gemütlich machen. rst ist darüber<br />
erhaben. Sein Mondstrahl ist stabil genug, um darauf hinaus und<br />
davon zu reiten.<br />
28
THE TERMINALS sind Veteranen des Neuseeland-<br />
Rocks. Im selben Jahr 1986 wie The Dead C traten sie<br />
auf die Flying Nun-Szene. Die aktuelle Besetzung besteht<br />
seit 1990 aus den Gitarristen Stephen Cogle &<br />
Brian Crook, die auch die Musik beisteuern, aus Mick<br />
Elborado (keyboards), John Chrisstoffels (bass) und<br />
Peter Stapleton (drums). Crook, Elborado & Metonymic-Macher<br />
Stapleton bilden zusammen auch noch<br />
Scorched Earth Policy und Stapleton stünde schon allein<br />
von The Pin Group bis Flies Inside The Sun für ein<br />
Vierteljahrhundert Downunderground. Dunkel glühendes,<br />
eng verzahntes Doppelgitarrenriffing, tribale<br />
rhythmische Stoik und eine Stimme mit Brian Ferry-<br />
Vibrato beschwören den Geist der Gründerjahre der<br />
Termin<strong>als</strong>, <strong>als</strong> punkgefilterte Rückkopplung von Joy Division<br />
an Velvet Underground. Melodramatik, in<br />
schwarzem Feuer geläutert, bei ‚Different Air‘ keyboardbestimmte<br />
Dark Wave-Tristesse, die bei ‚Last<br />
Days of the Sun‘ ungeniert käsig nach 80s duftet. Eine<br />
von Erfahrung gegerbte Monotonie dient <strong>als</strong> Front,<br />
aber hinter Cogles Gesang wühlen die Gitarren und<br />
schüren die Glut zu White Heat, während Stapleton<br />
sein Maureen Tucker-Tamtam klopft. Hymnen aus den<br />
letzten Tagen der Sonne, der Mond blau angelaufen,<br />
die Liebe nur noch Asche, John Cales Fear <strong>als</strong> letzter<br />
Freund, doch der Sound bäumt sich auf, dass man sich<br />
in seiner wilden Mähne festkrallen muss.<br />
Still Living in the Desert (LVD 117) hat Ex-Urdog Jeff<br />
Knoch aka EYES LIKE SAUCERS ausgebrütet, während<br />
er sich allein mit seinem Hund Parmalee in einem<br />
VW-Vanagon in die Wüste von Nordarizona zurückgezogen<br />
hatte. Mit dabei hatte er sein indisches Harmonium,<br />
seine Farfisa, Glockenspiel und ein 4-Spur-Aufnahmegerät.<br />
Nicht nur das Harmonium erinnert an Nico,<br />
der Titel stammt aus ihrem Tagebuch und meint<br />
die Wüste inside my head und das Gefühl, ein Alien im<br />
Exil zu sein. Der Volkswagen und Nico sind nicht die<br />
einzigen Spuren, die Knoch nach Deutschland legt. Er<br />
zitiert Heidegger, Wilhelm v. Humboldt und Meister<br />
Eckhart, wenn er von der Suche nach mystischer Abgeschiedenheit<br />
und Gelassenheit spricht. Wie Bruce<br />
Chatwin sieht er ‚travel‘ und ‚travail‘, Reisen und Arbeiten,<br />
<strong>als</strong> etwas Verwandtes. Er verweist auch auf<br />
den von Dharma Bum Gary Snyder vermuteten etymologischen<br />
Zusammenhang von ‚wild‘ und ‚Wille‘, sprich,<br />
freier Wille im Sinne von ‚proud and free... resisting<br />
any oppression... spontaneous, unconditioned‘ (The<br />
Etiquette of the Wild). Mit Robert Wyatts ‚Sea Song‘ besingt<br />
Knoch „a seasonal beast“ (So until your blood<br />
runs to meet the next full moon You're madness fits in<br />
nicely with my own), in ‚Frühling der Seele‘ zitiert er<br />
Georg Trakl: Dunkler umfließen die Wasser die schönen<br />
Spiele der Fische. Stunde der Trauer, schweigender<br />
Anblick der Sonne; Es ist die Seele ein Fremdes<br />
auf Erden. Knochs Musik gleicht wenigem auf dieser<br />
Welt, aber sie ähnelt doch dem minimalistischen Pulsieren<br />
von Town & Country, <strong>als</strong> pumpendes, summendes,<br />
schnarrendes Dröhnen, das mit Hingabe und all<br />
seiner sanften Gewalt ins Erhabene strebt. Von allen<br />
psychedelischen Trips ist das einer der intensivsten,<br />
der mir je zu Ohren gekommen ist.<br />
29
LEO RECORDS (Kinkskerswell, Newton Abbot)<br />
* Diese Zusammenarbeit der aus Tuva stammenden Vokalistin<br />
SAINKHO NAMCHYLAK mit ROY CARROLL (Electronics)<br />
stellt – wie der Titel Tuva-Irish Live Music Project (LR 480) vermuten<br />
lassen könnte – gottseidank keine Weltmusik-Fusion a la<br />
‚Kehlkopfgesang trifft auf Irish Folk’ dar. Die Seelenverwandtschaft<br />
dieser beiden Kulturkreise zeigt sich eher auf spiritueller<br />
Ebene, die Wurzeln in der grauen Vorzeit zu haben scheint. Zum<br />
Konzept dieser Live-CD gehört die Idee, ihre „Songs“ (streng genommen<br />
sind es keine) so aufzuführen, wie es in der prä-medialen<br />
Zeit üblich war: bei jeder Aufführung wurde das Liedgut der<br />
jeweiligen Situation angepasst und verändert. Selbst der Laptop<br />
von Carroll wurde so programmiert, dass die Electronics bei jeder<br />
Aufführung anders daher kommen. Dies ist auf den in Warenform<br />
starr gepressten Konzertmitschnitten naturgemäß nicht<br />
nachvollziehbar. Hier trifft Namchylaks Stimme, die sich zwischen<br />
tuvanischer Gesangstradition, Textrezitation und teilweise<br />
eher flächigem Gesang bewegt, auf elektronische Sounds.<br />
Diese hauen selten (und dann auch nur dezent) auf die Pauke,<br />
knacksen und kruschpeln gerne und gemahnen auch mal an<br />
Neue Musik aus der Ferne. Spannung kommt dabei leider keine<br />
auf.<br />
Anlässlich des 50. Geburtstages von SAINKHO NAMCHYLAK<br />
ließ es sich Leo Feigin nicht nehmen, ihr zu Ehren eine Compilation<br />
namens Nomad (LR 482) zu veröffentlichen, die ihre Wanderschaft<br />
zwischen Folk, Weltmusik, Jazz und Improvisation illustriert.<br />
Wobei wir wieder mal bei einer Aufzählung von Schubladen<br />
sind, die es eigentlich zu ignorieren gilt – auch für Namchylak<br />
sind diese Abgrenzungen zwischen den Genres offensichtlich<br />
nicht relevant. Zu hören ist sie hier nicht nur solo sondern<br />
auch mit Tri-o, Kieloor Entartet, The Moscow Composers<br />
Orchestra und vielen anderen. Wobei sie zwischen den faszinierenden<br />
tuvanischen Obertongesängen und easy Exotica in der<br />
Tat eine große Bandbreite vorzuweisen hat. Nicht alle Facetten<br />
stoßen da auf Gegenliebe. Aber wenn sie dann beispielsweise<br />
mit dem verstorbenen Peter Kowald im Duett zu hören ist, weiß<br />
man ihre Kunst wieder zu schätzen. GZ<br />
* Das Konzept dieser Zusammenkunft unter dem Motto Tenderness<br />
of Stones / Zärtlichkeit der Steine, Parts 1 – 10 (CD LR 481)<br />
von LAUREN NEWTON, JOACHIM GIES und Gästen (Michael<br />
Walz, Koho Mori) dreht sich um ein achtzeiliges Gedicht von Michael<br />
Speier, das hier in vier verschiedenen Übersetzungen (3x<br />
ins Englische, 1x ins Japanische) dargeboten wird – ohne die<br />
deutschsprachige Ursprungsversion zu rezitieren (ob da wohl<br />
einer in seinem früheren Leben Germanistik studiert hat?). Wobei<br />
mich diese Lyrik genauso wenig anspricht wie Rilke, den Gies<br />
bei einem seiner früheren Projekte beehrte. Newton benutzt ihre<br />
Stimme zumeist <strong>als</strong> Instrument, das selten Worte artikuliert. Wobei<br />
sie die volle Bandbreite zwischen geräuschhaftem, flächigem<br />
Vokal-Klang und extrovertiertem non-verbalen Gesang und<br />
klarer Text-Rezitation drauf hat. Und einmal sogar in unvermutete<br />
Tiefen vorstößt, aber auch in Konkurrenz zu den Saxophonen<br />
ihres Duo-Partner Gies tritt – in manchen Fällen fragt man sich,<br />
wer von beiden da denn jetzt so kiekst. Als Grundierung dienen<br />
diskrete Electronics zwischen Knistern und ruhigen Klangflächen,<br />
die für eine unaufdringliche Geräuschkulisse sorgen; nur<br />
zwei Stücke dieser knapp 58 Minuten kommen ohne diese aus.<br />
Insgesamt für mein einfaches Gemüt etwas zu verkopft, mehr<br />
Spontanität und Energie hätte diesem Werk gut getan. GZ<br />
30
2004 hatte Leo Records sein 25-jähriges Bestehen gefeiert, mit einem Leo-Festival<br />
im Kölner Loft. Während Joachim Gies & Denis Silke ganz leise in ihren Reeds-<br />
Drums-Dialog einsteigen, nutze ich die Gelegenheit, um daran zu erinnern, dass<br />
Leo nicht nur <strong>als</strong> Synonym für New Music from Russia steht und <strong>als</strong> treues Forum<br />
für Anthony Braxton, John Wolf Brennan oder Eugene Chadbourne; Leo Feigin hat<br />
auch immer wieder unverdrossen Delikatessen angeboten wie Joe & Mat Maneri,<br />
Pandelis Karayorgis, Metamorphosis, Gaël Mevel, The Remote Viewers, Wally<br />
Shoup, Who Trio. Delikatessen sag ich, auch wenn sie oft kaum beachtet vom Tisch<br />
gewischt und nur von Vögeln aufgepickt wurden. Einige seiner so geförderten Lieblinge<br />
spielten im Loft nun auf, um Leo Feigin zu gratulieren und zu danken, Gebhard<br />
Ullmann mit seinem Clarinet Trio, Frank Gratkowski im Duo mit Xu Fengxia<br />
und ihrer Guzheng und im Trio mit Paul Lovens und dem Pianisten Simon Nabatov,<br />
einem weiteren Leo-Favoriten, der Peter Ustinov immer ähnlicher wird. Das<br />
Trio erweiterte sich dann noch zum Quartett mit der wie eh gertenschlanken und<br />
zickenterroristischen Vokalistin Lauren Newton, die zudem ein Soloständchen<br />
zum Besten gab, für mich die ideale Pinkelpause. Und Aki Takase begoss im Rapport<br />
mit dem einmal mehr sensationellen Rudi Mahall die Purity & Sweetness von<br />
Musik mit Bier und macht Leo Records 25th Anniversary Loft, Köln (LR 483/484, 2 x<br />
CD) <strong>als</strong> aktuelle Leistungsschau der kompromisslosen Leo-Familie komplett.<br />
Celebrations (LR 485), ein weiterer Loftabend Anfang 2006, hatte einen anderen<br />
Anlass zum Feiern, den 47. Geburtstag von SIMON NA<strong>BA</strong>TOV an diesem 11.1.<br />
In seiner Partyband, die zum ersten Mal in dieser Besetzung antrat, standen dem<br />
Poeten am Klavier, der sein Instrument einsetzen kann wie ein Erzsucher seinen<br />
Prospektorhammer (Nietzsches berühmten Philosophenhammer) oder mit E-bows &<br />
Cracklebox erstaunliche Sachen macht, nur alte Bekannte zur Seite, der tiefgründige<br />
FRANK GRATKOWSKI mit seinem Altosax & Klarinetten, der gedankentrunkene<br />
Trompeter & Kornettist HERB ROBERTSON und der erfindungsreiche DIETER<br />
MANDERSCHEID am Kontrabass. Das Cover zeigt vier tote Heringe, zwei mehr <strong>als</strong><br />
Jesus für die Speisung von 5000 benötigte. Aber statt nun zwei Improfans in 5000<br />
zu verwandeln, würde er ihnen wohl eher die Dämonen austreiben wollen. Die Daimones<br />
sind Wesen, die, wie Plato schrieb, man sich selber <strong>als</strong> Schutzengel oder Totems<br />
wählt und keine Zeit und keine Macht zerstückelt, laut Goethe, diese geprägte<br />
Form, die lebend sich entwickelt. Obwohl an den Dämonenhaaren herbei gezogen,<br />
scheinen mir doch die Celebrations wie eine Verlebendigung jener ‚dunklen Kraft‘,<br />
in der Freiheit und Notwendigkeit oxymoronisch eins werden. Formgebung und Geformtes,<br />
Suchen und Finden vibrieren in Unschärferelationen, Lauschen und Hörbarmachen<br />
und wiederum Belauschen erzittern in Zeitparadoxien so paradox wie<br />
Nietzsches Werde, der du bist. Für den war letztendlich alles nur ein Singen und<br />
Tanzen, ein Feiern und Bejahen der Daimones, des lebendigen Sich-Entwickelns,<br />
mit einem Wort: Improvisation.<br />
Philosophisch geht es auch zu beim DIETRICH EICHMANN ENSEMBLE und The<br />
Hot Days (LR 486). Eichmann, ebenfalls Pianist und ebenso wie Nabatov & Co. ohne<br />
Scheu vor dem Paradoxen und Komplexen, unternimmt sogar explizit ‚tests of<br />
ethics‘, mit musikalischen Mitteln und politischem Beigeschmack. Worüber er sich<br />
Gedanken macht, zeigen Titel wie ‚sweets from above‘, ‚low income seniors‘,<br />
‚fingerprint of new security trend‘, ‚five star tragedy‘, Titel, die manchmal erst auf<br />
den zweiten Blick ihre Stoßrichtung offenbaren. Eichmann beginnt und endet in Duetten<br />
mit Gunnar Brandt-Sigurdsson, der mit Electronics & Hörgerät (?) jämmerlich<br />
jaulen kann. Zwischendurch wechselt er vom Piano zum Cembalo und mit dem<br />
Drummer & Perkussionisten Michael Griener zu einem weiteren Duopartner, der<br />
seinen gehämmerten Stakkati oder Innenklavierpizzikati mit aufrauschendem Getrommel<br />
begegnet. Chris Heenan an Altosax & Kontrabassklarinette stößt hinzu und<br />
für die 8 Min. von ‚the worm from the void‘ erweitern die beiden Kontrabassisten<br />
Alexander Frangenheim und Christian Weber Eichmanns flexibles Ensemble sogar<br />
zum Quintett. So auf subtile Weise spitz und kritisch wie seine Ethik, so diskant und<br />
ruppig, schnarrend, spotzend und rappelig ist die zugehörige Ästhetik. Der Kapitalismus<br />
scheißt und die New Security-Sheriffs bewachen vielleicht die größeren<br />
Haufen. Aber man muss kein ‚public servant‘ und low income senior in spe (wie ich)<br />
sein, um zu kapieren, dass Süßigkeiten schon lange nicht mehr vom Himmel fallen.<br />
31
ANTHONY BRAXTON ist inzwischen so etwas wie der Leo-Star,<br />
obwohl seine Kreativität über das Fassungsvermögen eines Label<br />
hinaus geht. Mit Trio (Glasgow) 2005 (LR 487 / 488, 2 x CD)<br />
sind wir im Kalender nur 4 Tage weiter gerückt seit 4 Compositions<br />
(Ulrichsberg) 2005 Phonomanie VIII (-> <strong>BA</strong> 52) und begegnen<br />
Braxton selbst an Altosax & Electronics im Verbund mit dem<br />
Kornettisten & Flügelhornisten Taylor Ho Bynum und der neuen<br />
Gitarrenentdeckung Tom Crean. Zusammen<br />
performen sie in zwei einstündigen Sets die<br />
‚Composition 323 a & b‘. Crean verdiente sich<br />
die Möglichkeit, in diesem ‚Diamond Curtain<br />
Wall Musics‘ Trio die Rolle eines Kevin O‘Neil<br />
oder einer Mary Halvorson zu spielen, durch<br />
sein Studium bei Braxton an der Wesleyan University,<br />
einer Reihe von Kompositionen wie ‚4<br />
Maps of Infinite Possibility‘ and ‚XXXX‘ für Gitarre<br />
& Computer, sein Mitwirken an Braxtons<br />
‚Sonic Genome‘-Project 2003 und der Aufführung<br />
mehrerer seiner Ghost Trance-Werke für<br />
Quartett 2004. So erlebt man nun das Phänomen,<br />
dass Ho Bynums stupende Virtuosität,<br />
die allein schon Aufmerksamkeit erregen<br />
könnte, nur ein Pol in einem Dreieck ist, das in<br />
Creans struppigem, unjazzigem Gitarrenspiel<br />
und in Braxtons auffällig zarten und quecksilbrigen Altoklängen<br />
ebenso starke Anziehungs- wie Abstoßungskräfte ausstrahlt.<br />
Und damit des Besonderen nicht genug, legt Braxton über weite<br />
Strecken mit seinen interaktiven Supercollider-Electronics einen<br />
irisierenden Schleier über diesen Tripol, schimmernde Gespinste<br />
aus feinen, leicht diskanten Drones. Crean kratzt und plückt<br />
dahinter auffällig stottrige, aleatorisch gestreute und rasante<br />
Kürzel von seinen Saiten, Ho Bynum sprudelt dazu ebenso<br />
schnelle, meist gepresste Linien. Dass Braxton sich aufs Alto beschränkt,<br />
stand eigentlich nicht auf dem Programm. Aber all seine<br />
übrigen Intrumentenkoffer gingen auf der Tour verschütt.<br />
Nach einer Dreiviertelstunde von ‚323a‘ keucht er Worte durchs<br />
Mundstück, eine weitere Irritation, die aber den freien Umgang<br />
dieses Trios mit flüchtigen, undefinierten Klängen und seinen<br />
Spaß an Noise, an Tempo und unvermuteten Träumereien demonstriert.<br />
Nicht umsonst hebt Ho Bynum unter seinen Erfahrungen<br />
mit Braxton zwei Punkte besonders hervor, „his insistence<br />
to keep challenging himself and his audience, and his refusal<br />
to accept any boundaries on his work.“<br />
Diese Suche nach Selbstherausforderung und Grenzüberschreitung<br />
ist wohl der Motor für Braxtons unermüdlichen Selbstbefragungen.<br />
Die aber ähnlich wie bei Picassos oder Max Beckmanns<br />
Selbstporträts nie bloß Suche nach dem eigenen Wasauchimmer<br />
oder eitle Blicke in den Spiegel sind, selbst wenn man dabei das<br />
Publikum <strong>als</strong> Spiegel ansieht. Solo (Pisa) 1982 (Golden Years, GY<br />
28) ist wie Solo (Köln) 1978 oder Solo (Milano) 1979 in erster Linie<br />
eine Befragung und ein Härtetest des Materi<strong>als</strong>, eigenem<br />
und ‚klassischem‘ - ‚Round ‘Bout Midnight‘, ‚You Go to My Head‘<br />
und vor allem ‚Giant Steps‘. Coltranes Eckstein war für Braxton<br />
die Herausforderung, um daran seinen Schnabel zu wetzen und<br />
seine gleichzeitige Nähe und Distanz zur Jazztradition im allgemeinen<br />
und zur Saxophonartikulation im Besonderen mit kreativer<br />
Spannung aufzuladen. Das Publikum in Pisa brachte er mit<br />
seiner rasenden, flatterzüngelnden, schädelbohrenden Hypervirtuosität<br />
völlig aus dem Häuschen, zu einer nicht enden wollenden<br />
Ovation.<br />
Im Übrigen ist ‚323 b‘ ebenso verblüffend und entgrenzt wie ‚323<br />
a‘, ein funkelnder Diamant in der Braxtonia-Krone.<br />
32
Weiß der Teufel, der sie reitet, warum Akkordeonisten oft eine manische<br />
Ader haben. ‚El Acordéon del Diablo‘ ist zu einem festen Begriff<br />
für diesen diabolischen Pakt geworden. Auch EVELYN PE-<br />
TROVAs Temprament lässt einen infernalischen Antrieb für ihr extrovertiertes,<br />
rauschhaftes Spiel auf der ‚Quetschkommode‘ vermuten.<br />
Ihre Leo-Scheibe Year‘s Circle (2004) hatte ihr internationale<br />
Nachfrage eingetragen. Für Upside Down (LR 489) konnte Alex Kan<br />
ihren Wunsch nach einem Teufelsgeiger <strong>als</strong> Partner übererfüllen,<br />
indem er ihr die Bekanntschaft mit ALEXANDER <strong>BA</strong>LANESCU<br />
vermittelte. So kann sich nun ihre slawisch-folkloristische Furiosität<br />
reiben und immer wieder entflammen an dessen rumänisch-jüdischen<br />
Tiefenerinnerungen. Der 1954 in Bukarest geborene Violinist<br />
kam zu Weltruhm mit seinem Balanescu Quartet und in der Michael<br />
Nyman Band im Crossover von Klassik, Film- und Popmusik. Die sieben<br />
von Petrova komponierten Duette erfinden mit meist rhythmisch<br />
pumpender und schneidender Uptempoverve eine<br />
‚Imaginäre Folklore‘ aus stürmischer Fiedelvirtuosität und akkordeonistischer<br />
Artistik à la Piazzolla. Petrovas Akkordeonfuror reimt<br />
sich auf Tribe und ebenso auf ‚crazy‘, schwelgt in dramatischen<br />
Verwicklungen (Journey‘, ‚Hungry Wind‘) oder heizt Party- (‚Torn<br />
Dress‘) und Feststimmung (‚Mouse Wedding‘) an und manchem wird<br />
dabei die ‚File under popular‘-Stoßrichtung einer Iva Bitova oder<br />
Amy Denio in den Sinn kommen. Nur ‚Shout‘ und ‚Dream‘ lassen im<br />
Bann von dunklen Stimmungen oder Sehnsüchten das ständige<br />
Stampfen und Wirbeln ganz. Petrova setzt durch Vokalisation zusätzliche<br />
Akzente, besonders effektvoll <strong>als</strong> keckernde Hexe bei<br />
‚Hungry Wind‘.<br />
Eigentlich hatte ich die leise Hoffnung, dass es bei Radio Free Europe<br />
(LR 490) zwischen mir und dem Gitarristen Mark O‘Leary endlich<br />
funken könnte. Immerhin hat er im UNDERGROUND JAZZ TRIO<br />
den Tortoise- und Powerhouse Sound-Drummer John Herndon und<br />
den Isotope 217-Bassgitarristen Matt Lux an der Seite. Er vermeidet<br />
es jedoch, in die Stiefel eines Jeff Parker steigen zu wollen und<br />
macht sein Ding. Das ist sowohl gut <strong>als</strong> auch schlecht. Gut, weil eigenständig,<br />
weniger toll, weil O‘Leary wie immer seine quecksilbrigen<br />
Singlenotetiraden nudelt oder die Sounds zieht und dehnt wie<br />
Kaugummi und in beiden Fällen in meinen Ohren Scheiße klingt. Es<br />
muss am Gitarrenklang, an der Art sie zu stimmen oder an mir liegen.<br />
Herndon und Lux sind leider nur brave Staffage für O‘Learys<br />
Geblubber aus dem ECM-temperierten Jazzmesolithikum. So wird<br />
das wieder nichts mit uns beiden.<br />
RAMON LOPEZ, wie O‘Leary ein typischer Leo-Act, hatte zuletzt<br />
im Trio mit Agustí Fernández & Barry Guy mit dem äußerst lyrischen<br />
Sound von Aurora (Maya) überrascht. Mit Swinging with Doors (LR<br />
491) knüpft der Spanier, wie der Untertitel Drums Solo II hervor<br />
hebt, an sein Leo-Debut Eleven Drum Songs an. Rhythmik spielt dabei<br />
nur eine Nebenrolle. Indem er zwei, drei Geräuscherzeuger herauspickt<br />
aus einem Riesenfundus an Perkussionskrimskrams, dessen<br />
Namen schon Musik machen - Balafon, Bamboo Chimes, Brushes,<br />
Cajon, Castanets, Cowbell, Darbouka, Djuju, Drumsticks, Kasa<br />
Kasa, Metal Chimes, Metallophone, Plastic Mallets, Ratatak, Sleigh<br />
Bells, Tabla, Talking Drum, Temple Block und sogar eine Okarina -,<br />
erzeugt Lopez kuriose Geräuscheffekte und phantasievolle Soundscapes.<br />
Er ‚malt‘, manchmal sogar nur mit bloßen Händen, wie mit<br />
Fingerfarben zwölf Variationen von Exotik oder rappelt in seinem<br />
Sammelsurium wie im sprichwörtlichen Karton. Der Clou ist jedoch<br />
Teppo Hauta-Aho <strong>als</strong> Türschwinger. Der finnische Kontrabassist<br />
knarrt und quietscht in Reminiszenz an Pierre Schaeffers Variationen<br />
für eine Tür und einen Seufzer, dass sich einem die Zehennägel<br />
rollen. Für Perkussionsliebhaber ein Gedicht.<br />
33
Der seit 1999 in Los Angeles ansässige Neuseeländer<br />
ANDREW PASK hatte mich schon<br />
<strong>als</strong> Choir Boy beeindruckt im Duo mit dem<br />
pfMentum-Macher Jeff Kaiser (-> <strong>BA</strong> 46). Sein<br />
Spiel auf Sopranosax oder Bassklarinette, obwohl<br />
pur schon ausdrucksstark und poetisch,<br />
bekommt durch feines Liveprocessing Schatten<br />
oder Spiegelreflexionen, unscharfe Konturen,<br />
Fransen, wallende Schleppen. So auch bei<br />
Griffith Park (pfMENTUM CD041), Spaziergängen<br />
mit dem Pianisten JONATHAN BESSER.<br />
Die beiden kennen sich schon von Down Under,<br />
wo der 1949 in New York geborene Besser seit<br />
1974 lebt, waren sich zuletzt aber 1996, während<br />
Pasks Zeit <strong>als</strong> Cantopopbegleiter in Hongkong,<br />
in Macao begegnet, <strong>als</strong> Besser mit den<br />
Triphonics auf Chinatour gewesen war. Der<br />
Pianist ist in seiner Wahlheimat ein profilierter<br />
Komponist, von Tangos bis zu Opern, und präsentiert<br />
mit dem Ensemble Bravura ein ‚Arts on<br />
Tour‘-Programm. Die Impressionen und Meditationen<br />
mit Pask frischen gegenseitig Erinnerungen<br />
auf an das ‚Auenland‘. Mit Titeln wie ‚Steam<br />
Engine Love Letter‘, ‚Dust Bunny Meditation‘,<br />
‚Coldwater Lightbulb‘ oder ‚Cloud Formation<br />
Microscope‘ kitzeln sie die Einbildungskraft, die<br />
alles Mögliche assoziieren kann, nur, von den<br />
52 erruptiven Sekunden von ‚Geosynchronous<br />
Hibernation‘ abgesehen, keinen Jazz. Allenfalls<br />
lässt Pask mal den Ausnahmetonfall von Lol<br />
Coxhill anklingen. Bessers Schachzüge und<br />
Tagträumereien sind ‚einfach Musik‘, sparsam<br />
und doch reizvoll durch das Wechselspiel markanter<br />
Anschläge mit gezielten Atempausen,<br />
exemplarisch bei ‚Chessboard Cowboy‘. Die<br />
Spaziergänger entwerfen Bilder, Landschaften,<br />
Stimmungen, und dann verschwinden sie darin.<br />
Wer ihnen gefolgt ist, muss sich fragen, ob er<br />
das alles selber träumt, oder ob er im Traum<br />
von jemand anderem gelandet ist.<br />
34<br />
pf MENTUM (Ventura, CA)<br />
Auf Sulphur (pfMENTUM CD046) präsentiert<br />
STEUART LIEBIG mit seinem Kammermusikquartett<br />
MINIM drei neue Kompositionen.<br />
Das dreiviertelstündige ‚Kaleidoscope‘<br />
besteht aus 23 auf Haikus basierenden<br />
Miniaturen. ‚The Cherry Blossom Is<br />
Only Perfect When It‘s Falling From The<br />
Tree‘ ist ein harmonisches Palindrom aus<br />
13 Teilen in einem durchgehenden Satz<br />
und operiert dabei mit Terzinen, dem von<br />
Dante erfundenen Terza Rima-Reimschema<br />
a-b-a, b-c-b, c-d-c, d-e-d. Das kurze<br />
Quasirequiem ‚Necrological Pieties‘, für<br />
eine Choreographie geschrieben, hat seinen<br />
Titel von J.L. Borges entliehen. In Minim<br />
begegnet man erneut Andrew Pask an<br />
Klarinette & Bassklarinette, Sara Schoenbeck<br />
spielt Fagott, Brad Dutz Marimba,<br />
Percussion & Drums und der Composer<br />
selbst ist an seinen, zum Teil präparierten<br />
Kontrabassgitarren zu hören. Liebig<br />
macht die ‚Kaleidoscope‘-Miniaturen betont<br />
transparent und, der Haikupoesie<br />
entsprechend, frei von allem Überflüssigen,<br />
indem er die Vierstimmigkeit immer<br />
wieder ausdünnt. Der Klangfächer<br />
wird gebunden durch die Bass- und Kontrabasstonlagen,<br />
die oft holzigen Percussiontupfer,<br />
das schnarrende Röhren des<br />
Fagotts, das Schoenbeck selten in die Tenorlage<br />
aufhellen darf. Drei- & vierstimmige<br />
Momente wie XI und gleichzeitig quicke<br />
wie XII, XIII oder XVI wirken prompt opulent<br />
und übermütig. Mimin komplett, wie bei<br />
XIV, XVIII oder XXIII, ist fast schon Artrock.<br />
Der Gesamteindruck ist der einer originellen<br />
Simplizität, einer skurrilen Nyktophilie<br />
mit einer Vorliebe für die 17 (den 5-7-5<br />
Moren eines Haiku) und den sprunghaften<br />
Humor eines Kobayashi Issa. Eine sprung-<br />
und geräuschhafte Pointillistik bestimmt<br />
auch den Charakter der pietätischen Miniatur.<br />
Der Tod schleift seine Sense, die<br />
Uhr tickt, die Noten tropfen von Stimme zu<br />
Stimme. Diesen Effekt nutzt Liebig auch<br />
zum Auftakt des Kirschblütenstücks und<br />
setzt dann die Terza Rima-Spirale in Bewegung,<br />
durchwegs animiert. Der Minim-<br />
Ton und Liebigs Konzept verschütteln die<br />
66 Minuten miteinander zu einem einzigen<br />
Sulphur-Kaleidoskop. iTunes spielt schon<br />
die ganze Zeit ein Bisschen at random und<br />
ich merke es erst jetzt.
psi records (London)<br />
Music from ColourDome (psi 07.01) führt die Imagination in die<br />
‚Fabulous Sound Machines‘, die der Eyemusic-Artist Peter Jones<br />
mit seinen aufblasbaren bunten Röhren und Kuppeln erschaffen<br />
hat, zusammen mit dem Liveelektroniker LAWRENCE CASSER-<br />
LEY und dem Flötisten SIMON DESORGHER, die sie beschallen.<br />
Auch schon hierzulande, in Kaiserslautern 2001 oder in Köln<br />
2006. Seit Ende der 80er ziehen die beiden bereits mit ihrer Music<br />
in Colourscape durch die Lande und organisieren Colourscape<br />
Music Festiv<strong>als</strong>, zu denen sie befreundete Künstler einladen wie<br />
Evan Parker mit seinem Sopranosaxophon, den Geiger Philipp<br />
Wachsmann oder den Elektroniker David Stevens. So geschehen<br />
zum ColourDome in Exeter, wo vorliegende Einspielungen im Juli<br />
2006 entstanden sind. Sowohl der im Kontext mit Psi-Macher Parker<br />
bereits mehrfach begegnete Casserley <strong>als</strong> auch Stevens verwenden<br />
nur Instrumentalklänge <strong>als</strong> Livesamples, wobei Casserley<br />
mit ‚drum-pad controlled delay lines and frequency shifters‘ operiert,<br />
während Stevens Processing auf Granulation und real-time<br />
sequencing basiert, wobei seine Sensoren sogar durch die Körperbewegungen<br />
der Musiker beeinflussbar sind. Und natürlich<br />
auch Geräusche von außerhalb der Gummiwände und von Passanten<br />
mit einfangen. Nur die Farben muss man sich noch selber<br />
einbilden. Da Casserleys Zwitschermaschinenspeicher mit Flöten-,<br />
Geigen- und Sopranosounds gespickt sind, hört man ‚Parker‘ oder<br />
‚Wachsmann‘ auch, wenn sie nicht persönlich mitmischen. Insofern<br />
könnten selbst die Duos von sich sagen: Wir sind viele. Nicht<br />
wirklich vermittelbar ist freilich die räumliche, farbliche, sinnliche<br />
Dimension. Aber es gibt schließlich auch Telefonsex. Hier gibt es<br />
quick zuckende und wischende Klangschraffuren zu hören, permanent<br />
und eifrig morphende Frequenzbänder einer aus Flöte,<br />
Geige etc. destillierten Sonic Fiction, Kammermusik aus der Zukunft,<br />
die längst begonnen hat.<br />
La lumière des pierres (psi 07.02) führt einen in die Kappelle zum<br />
Guten Hirten nach Montréal, wo es im Rahmen der Konzertreihe<br />
‚Innovations‘ zur Begegnung des Klarinettisten FRANÇOIS HOU-<br />
LE und von EVAN PARKER mit BENOIT DELBECQ am präparierten<br />
Klavier gekommen war. Der Pariser Pianist hat sich Mitte<br />
der 90er mit The Recyclers (w/ Akchôté & Argüelles) profiliert und<br />
dabei auch einigen Eindruck auf Houle gemacht, woraus dann<br />
zwei Duoeinspielungen für Songlines resultierten. Houle, der mit<br />
seinem kanadischen Quintett eine eindrückliche Aufnahme für<br />
Between The Lines gemacht hat (Cryptology, 2000), ist ein starker<br />
Vertreter der, wenn man so will, ‚europäischen‘ Schule und Parker<br />
beschränkt sich neben ihm ausschließlich auf sein Tenorsax, was<br />
ich <strong>als</strong> Zeichen des Respektes auffasse. Und außerdem erweitert<br />
es das Klangspektrum. Dem hellen Sonnen- und Mondlicht der Titel<br />
stellt Parkers Tenor das Gewicht von Steinen entgegen, etwas<br />
Raues und Schartiges. Dazu kommen die Splitter, die Delbecq aus<br />
seinen Tasten meiselt, meist mit Bedacht wie ein Bildhauer, der<br />
mit Marmor arbeitet, aber sporadisch rüttelt er auch Kies im Pianokasten<br />
hin und her. Nur zeigen die drei Klangbilder ‚stone<br />
through sunlight‘, ‚moonlight through stone‘ und ‚stone on stone‘,<br />
dass Stein Licht speichert und selber lichthaft wird und dass andererseits<br />
auch Licht bricht. Die Gegensätze werden leicht und<br />
flüchtig, wie Staubpartikel, die im Licht tanzen. Wenn Houle ganz<br />
hoch und hell pitcht, muss man die Augen zukneifen. Parker wiederum<br />
spielt gern den Demosthenes, der mit Kieselsteinen im<br />
Mund gegen sein Stottern angeht und über die Meeresbrandung<br />
hinweg seine Philippiken deklamiert.<br />
35
<strong>BA</strong>RK! formierte sich 1991 in Manchester<br />
<strong>als</strong> Kollaboration des Stock, Hausen & Walkman-Mitbegründers<br />
Rex Caswell (an der E-<br />
Gitarre) mit dem Perkussionisten Philip<br />
Marks, der seit 1995 auch im Grew Trio<br />
agiert. 1999 kam der von Furt her bekannte<br />
Knöpfchendreher Paul Obermayer dazu, der<br />
mit seinen Samples das Bark!-typische bruitistisch-quecksilbrige<br />
‚Pollocking‘ kongenial<br />
komplettiert. Je weiter man aber in Contraption<br />
(psi 07.03) hinein taumelt, desto undurchsichtiger<br />
wird das Ganze. Das Plinkplonking<br />
mit Stricknadeln, Stöckchen oder<br />
Krimskrams, das ist Marks, die knurpsigen<br />
Mad Movie-Sounds, die kommen vermutlich<br />
von Obermayer, aber was heißt hier E-Gitarre?<br />
Sie geistert <strong>als</strong> Phantom in der Rappelkiste<br />
herum, <strong>als</strong> schnurriges, blinkendes, zirpendes<br />
Psi-Phänomen. Wer es spleenig mag,<br />
der kommt hier garantiert auf seine Kosten,<br />
insbesondere, wenn er ein Faible hegt für<br />
nervöse Tics oder polymorph-perverse<br />
Heimlichkeiten unterhalb der Grasnarbe.<br />
Musik für Köpfe, die schon mit ihrer Buchstabensuppe<br />
das Scrabblen anfingen und<br />
kryptische Hinweise herauslesen, dass die<br />
Welt vertrackter und das Leben übler ist, <strong>als</strong><br />
Eltern ihren Kindern gegenüber zugeben<br />
möchten. Mr. Pointy, übernehmen Sie!<br />
36<br />
Auf dem FREE ZONE APPLEBY 2006<br />
(psi 07.04) hatten sich Paul Rutherford,<br />
Evan Parker, Rudi Mahall, Philipp Wachsmann,<br />
Alexander von Schlippenbach, Aki<br />
Takase und Paul Lovens zu 5 ‚Favourite<br />
Fruit Trios‘ und 4 ‚Favourite Fruit Duos‘<br />
formiert, benannt nach einem Gemälde<br />
des Psi-Hofmalers Phil Morsman. Einmal<br />
bekommt man sogar einen Vierling aus 4<br />
älteren Buben auf die Pokerhand: R + P + S<br />
+ L. Anders gesagt, die Klänge von Posaune,<br />
Soprano- oder Tenorsaxophon, Bassklarinette,<br />
Violine + Electronics, 2 Pianos<br />
und Drums mischen sich zu einem Best of-<br />
Plinkplonk-Kaleidoskop, mit Takase &<br />
Schlippenbach <strong>als</strong> Pianopärchen zum Abschluss.<br />
Dem gehen derart facettenreiche<br />
Improvisationen voraus, dass, ob für abgebrühte<br />
Kenner oder neugierige Anfänger,<br />
alle Perspektiven zu Entdeckungen führen.<br />
Man kann der Spur der Klaviere folgen in<br />
ihrer jeweiligen Handschrift, oder viermal<br />
über Lovens und sein Geklapper staunen.<br />
Keine Vermutungen möchte ich jedoch anstellen,<br />
warum das Duett von Wachsmann<br />
und Takase keine 4 Minuten dauert und<br />
warum er auf dem Gruppenbild mit Dame<br />
derart Sicherheitsabstand zu ihr hält und<br />
Madame dabei fast den Rücken zudreht.
Wie schon beim George Lewis-Projekt Sequel für das NEWJazz<br />
Meeting 2004 gab der SWR2-Jazz-Redakteur Reinhard Kager<br />
auch den Anstoß für die spin networks (psi 07.06, 2 x CD) von<br />
fORCH beim Meeting 2005. Kagers Vorliebe für Grenzüberschreitungen<br />
zwischen Improvisation, Komposition und Elektronik hat<br />
nicht nur etwa das Otomo Yoshihide Quartet nach Donaueschingen<br />
gebracht, er regte auch das Electro-Duo Furt (Richard Barrett<br />
& Paul Obermayer) dazu an, sich mit John Butcher (soprano &<br />
tenor saxophones), Rhodri Davies (harps), Paul Lovens<br />
(percussion), Wolfgang Mitterer (prep. piano & electronics) und<br />
den Vokalisten Phil Minton & Ute Wassermann zu einem<br />
‚Orchester‘ auszudehnen. Das Projekt sprengte prompt alle Dimensionen,<br />
so dass die prallen 146 Min. vorerst nur 2/3 ausmachen<br />
(das dritte folgt demnächst <strong>als</strong> equ<strong>als</strong>). Furt zapft einerseits<br />
die neuen KollegInnen <strong>als</strong> Klangquellen an. Andererseits sind in<br />
die voluminösen Oktettblöcke kleinere Verbindungen eingefasst,<br />
ein Duo von Davies & Wassermann, zwei Furt-Trios mit Minton bzw.<br />
Mitterer <strong>als</strong> drittem Mann und zwei elektrofreie Quartette, ein<br />
stimmloses und eins mit Minton & Wassermann. Den Oktetten liegen<br />
16 ‚basic improvisational models‘ zugrunde und entsprechende<br />
Proben. Statt eines bloßen Ad hoc-Jams steuert <strong>als</strong>o, ähnlich<br />
wie bei Mitterers 2002 in Donaueschingen aufgeführter elektroakustischer<br />
Collage Radio Fractal / Beat Music für 7 Improvisatoren<br />
und 8-Kanal-Tonband, der Versuch das Geschehen, Automat<br />
und Physis, Computerspeicher und Spontaneität kreativ zu<br />
verschalten. Das fORCHT‘sche Orchestrion <strong>als</strong> ‚Organische Konstruktion‘<br />
konstituiert sich durch Parameter wie ‚temperature‘ und<br />
‚pressure‘ und <strong>als</strong> ‚nekton‘, ‚plankton‘ oder Spinnennetz bio-metaphorisch.<br />
Die Klangwucherungen und Elektronenflüsse, abwechselnd,<br />
meist aber gleichzeitig fraktal, algorithmisch und biomorph,<br />
klingen entsprechend fiebrig, dicht, verwirbelt oder mild, entropisch.<br />
Mit den Vokalismen <strong>als</strong> Geist in der Maschine und speziell<br />
Minton in seinem Element. Caliban meets Cybertech in einem bizarren<br />
Total Music Meeting. Der Grad der Integration ist dabei<br />
ebenso erstaunlich wie die Klangoberfläche schillernd und prismatisch.<br />
Wenn Bark sich Bark! schreibt, dann fORCH mindestens<br />
fORCH!!!!!!!!<br />
Hook, Drift & Shuffle (psi 07.07), ein Livemitschnitt von EVAN<br />
PARKER, GEORGE LEWIS, <strong>BA</strong>RRY GUY & PAUL LYTTON vom<br />
4.2.1983 in Brüssel, hat die LP Incus 45 am Haken. Einen dicken<br />
Fisch, dem Meer des Vergessens entrissen. Nicht einmal überkritische<br />
Nasen werden daran Es war einmal-Geruch wittern. Die<br />
Scheibe, in der sich Parkers Erfahrungen in den Zwiesprachen mit<br />
Lytton (seit 1971), mit Lewis 1980, mit Guy (seit 1981) und im<br />
Parker/Guy/Lytton Trio (seit 1983) verzahnen, hat in allen Aspekten<br />
das Format des Zeitlosen. Dem Brüsseler Konzert im Februar<br />
zu viert war nur die Tracks-Studiosession im Januar voraus gegangen.<br />
Es gab somit Vertrautheiten und gleichzeitig den Reiz von<br />
etwas noch relativ Neuem, der durch Lewis durch Devices und<br />
von Guy durch Electronics noch zusätzlich gekitzelt wurde. Tatsächlich<br />
wird man dazu verführt, meist zu vergessen, dass Lewis<br />
Posaune spielt, so geräuschhaft ist sein Zuspiel, das von Guy mit<br />
Allem, nur nicht gewöhnlicher Pizzikato- und Arcotechnik<br />
durchwebt wird, während Lytton mit Cymb<strong>als</strong>, Gongs, Woodblocks<br />
und ebenfalls Verstärkung anstelle einer perkussiven oder gar<br />
rhythmischen die bruitistische Seite hervor kehrt. Wer ein Missing<br />
Link der Energy Play-Linie sucht, wird auch diesen Moment finden.<br />
Aber eigentlich ist Incus 45 ein Vorläufer und Evolutionsschritt<br />
der Impro-Bruitistik mit extremen, mehr <strong>als</strong> einmal schmerzhaft<br />
schrillen Spitzen ins Diskante und genüsslicher Wühlarbeit am<br />
Fundament, auf dem die abendländische Wohltemperiertheit ruht.<br />
37
RuneGrammofon (Oslo)<br />
Der Bassist Eivind Opsvik stammt ursprünglich aus Oslo, lebt aber seit 1998 in New<br />
York und ist dort mit seinem eigenen Projekt Overseas (w/ Kenny Wollesen, Craig<br />
Taborn, Jacob Sacks & Tony Malaby) zugange und daneben noch in Dave Binney's<br />
Out of Airplanes oder mit Tone Collector und mit Rocket Engine spielt er sogar<br />
Black Sabbath-Kracher, „in an effort to find the missing link between early heavy<br />
metal and free jazz.“ Commuter Anthems (RCD2062)<br />
zeigt ihn erneut zusammen mit Aaron Jennings, einem<br />
Gitarristen, den es von Tulsa nach New York gezogen hat<br />
und der mit Opsvik auch noch in Hari Honzu groovigen<br />
Nowjazz spielt. OPSVIK & JENNINGS werden bei ihren<br />
handkolorierten Träumereien noch unterstützt von Rich<br />
Johnson an der Trompete und Ben Gerstein, einem Posaunisten<br />
mit einer denkwürdigen MySpace-Visitenkarte.<br />
Aber je mehr ich aufzähle, desto weiter drifte ich ab von<br />
der Simplizität der so smooth dahin fließenden ‚Pendler-<br />
Hymnen‘. Die wird man wohl <strong>als</strong> Folktronic oder Easy Listening<br />
etikettieren dürfen, wenn man im gleichen Atemzug<br />
die Software und die Sophistication erwähnt, die dafür<br />
aufgewendet wurden. Ganz entspanntes und federleichtes<br />
Postrockdrumming, Dadada-Singsang, Banjo,<br />
Concertina, Lap Steel- und Thereminwellen, ein Piano<br />
oder Percussion, die wie Spieluhren ticken, liefern feine Farbtupfer, einen Hauch<br />
von Country oder Hawaii, Melodienseligkeit in Exoticagefilden, der Van Dyke Parks-<br />
Bläser zwei-, dreimal einen fast wirklich hymnischen Schwung verleihen. Dann<br />
streicht Opsvik auf seinem Bass wieder mollige Töne, die Stimmung am ‚Silverlake‘<br />
oder der ‚Lorinda Sea‘ wechselt mit den Wolken. ‚Ways‘ schwelgt in Harfenarpeggios<br />
und Streicherschmelz, bevor trockene Banjozupfer zu einem schlaffen Posaunentrott<br />
abbiegen und ‚I‘ll scrounge along‘ anschließend sogar in einen Trip-<br />
Hopgroove verfällt. Aber vielleicht sollte ich gar nicht soviele Worte machen, um<br />
diese Musik nicht aus ihrer Tagträumerei aufzuschrecken.<br />
Mit Amateur (RCD2063) legen Dag-Are Haugan & Espen Sommer Eide ihre bereits<br />
vierte Scheibe aufs Rune-Grammofon. Ihren ALOG-Erstling Red Shift von 1999 fand<br />
ich kürzlich second-hand, Duck-Rabbit (2001) und Miniatures (2005) vertieften inzwischen<br />
noch ihre spezielle Mischung aus organischer Electronica und handishem<br />
Gekruspel mit Found Objects und Selbstbauklangerzeugern. Der Ansatz ist in doppelter<br />
Hinsicht minimalistisch, <strong>als</strong> Arte Povera mit immer<br />
wieder repetitivem Duktus. ‚Exit virtuoso‘, Hallo simplicity.<br />
Der Cellist Nicholas H. Mollerhaug mischt mit, wie auch<br />
schon bei Sommer Eides Phonophani, explizit mit Vocoder-Singsang,<br />
aber ansonsten ebenso undefiniert wie<br />
Alog selbst. ‚Son of king‘ zum Auftakt gibt in seiner hingeklimperten<br />
Pascal-Comelade-istik die abgespeckte und<br />
verspielte Richtung vor, die ‚a throne for the common<br />
man‘ mit perkussivem Gedonge und monotoner Schrammelgitarre<br />
stoisch fortsetzt. Animal-Collectives Freakdom<br />
ist gleichzeitig der Weg und das Ziel. Romantisch? Der A<br />
capella-Song ‚Write your thoughts in water‘ spielt immerhin<br />
auf Keats an. SOPHISTICATION wird, wenn auch nur<br />
auf Wasser, definitv groß geschrieben. Dafür sprechen<br />
Titel wie ‚a book of lightning‘, das ausnahmsweise dröhnminimalistisch<br />
schimmert, ‚the future of norwegian wood‘ (es wird gehackt, geknarrt,<br />
genagelt und gesägt), ‚bedlam emblem‘ und das ppp-Pssst bei ‚sleeping instruments‘.<br />
Gefolgt vom mechanischen, thereminumjaulten Gamelan-tingtingtingtingtingting<br />
von ‚the beginner‘. Schon ab diesem Town & Country-Derivat und erst<br />
recht ab dem freakish angetwangten ‚the learning curve‘ oder der melancholischen<br />
Glockenspielmelodie von ‚exit virtuoso‘ kann man mich zu den Alog-Bekehrten zählen.<br />
Um Bedlam braust ein Sturm, der Flötenklänge mit sich reißt. Die Freaks sind<br />
längst ausgeflogen und haben sich unter uns gemischt.<br />
38
Obwohl beide erst Mitte 20, spielen Anders Hana & Morten J. Olsen schon<br />
10 Jahre zusammen. In Stavanger macht man das so. Mit Norwegianism<br />
(RCD2064) haben sie nun aber die Parole ihres MOHA!-Vorgängers Raus<br />
aus Stavanger in die Tat umgesetzt, die Einspielung entstand in Genf, engineered<br />
wurde sie in Berlin, das Mastering erfolgte in Bergen, Kim Hiorthøys<br />
Cover zeigt eine asiatische Schönheit in MoHa!-Ekstase.<br />
Schon mit den ersten Riffs von Hanas Gitarre<br />
und Olsens supercollider3-frisiertem Drumming<br />
leuchtet einem ihre Verzückung auch unmittelbar<br />
ein. So rasant und diskant ist selbst NorWave nicht<br />
alle Tage. Beim Knallfrosch-Doppelschlag ‚Gay‘ sind<br />
wir bereits bei den Tracks 5 & 6 und noch keine 9<br />
Minuten um. Schroff und splittrig fliegen die Fetzen,<br />
Hana lässt sein Casio detonieren, eine Drum Machine<br />
sich selber überschlagen. An ‚Entry One‘ würden<br />
sich andere die Finger verbrennen, hier ist der<br />
weißglühende Strich in der Landschaft eine quasi<br />
ambiente Atempause. ‚Entry Two‘ ist dann nur noch<br />
<strong>als</strong> Spuren subatomarer Partikel wahrnehmbar, bevor<br />
‚Home Four‘ wieder die Ohrenschraube fester<br />
zieht und die Wände mit Wasauchimmer bespritzt.<br />
Nur von Lightning Bolt habe ich bisher Ähnliches gehört.<br />
Mit der stillen Gedenkminute ‚Jolly One‘ (White<br />
Guilt Fills The Room)‘ verbeugt sich MoHa! vor den Wegbereitern ihrer Door-die-Zuckungen<br />
- Napalm Death, Yamatsuke Eye, Squarepusher... Als Höhepunkt<br />
dann der epische Zwilling ‚Ibiza One & Two‘, 6:50 & 5:30, ersteres<br />
auf Naked City-Wellenlänge entschleunigt, Letzteres ein manisches Punktschweißen<br />
in Zeitraffer, elektrisches Gepratzel zu perkussiven Detonationen<br />
und Ricochets. Mir bleibt die Spucke weg.<br />
Hana & Olsen befeuern auch das Jazzcorequartett ULTRALYD, das, von<br />
Altmeister Frode Gjerstad mit initiiert, inzwischen zum Schwelbrand geworden<br />
ist, nicht zuletzt dank der Kohlen, die der Noxagt-Bassist Kjetil D.<br />
Brandsdal nachschaufelt. Die Saxspitze bildet nun der 1976 in Bergen geborene<br />
Kjetil Møster, der schon mit Steinar Raknes The Core, dem MZN3 (Z<br />
wie Zanussi, N wie Nordeson) und seinem K. M. Sextet<br />
aus MZN3 + Hana, Olsen & Håker Flaten Freejazz<br />
auf norwegisch buchstabiert. Conditions For A Piece<br />
Of Music (RCD2065) hört sich schon vom Titel her<br />
anders an <strong>als</strong> Kick out the jams oder Full Blast. Wie<br />
der H<strong>als</strong> eines Untiers, dem der Held den Kopf angeschlagen<br />
hat, hat Ultralyd zu wuchern begonnen und<br />
bildete Saprochords, Comphonien, Pentassonanzen<br />
und andere musikalische Imperative aus. Statt Noiserock<br />
und Powerjazz erklingen rätselhafte Träumereien<br />
(‚Pentassonance II‘), seltsam gebundene rockige<br />
Repetitionen, umsponnen von abschweifenden,<br />
teils auch verfremdeten Saxophon- (‚Low Waist‘)<br />
oder Gitarrenklängen (‚Comphonie V‘). ‚Débitage‘<br />
verblüfft dann <strong>als</strong> kakophones Puzzle aus Plinkplonk,<br />
Drones und Musica Nova, deren Horizonten sich<br />
auch das von Olsen allein komponierte Titelstück annähert.<br />
Peter van Bergens Loos oder Kompositionen von Alex Buess setzten<br />
sich ähnlich zwischen die Stühle. Strenger Duktus, bei ‚Figurae‘ sind es<br />
Sax‘n‘Drum-Loops, aber ‚schmutziger‘ Klang, urige E-Bassriffs, rockiger<br />
Schub, diskante Gitarrentöne in Etudes Australis-Aleatorik. ‚Comphonie IV‘<br />
verfällt in träge Zeitlupenbewegungen, die sich bei ‚Pentassonance I & III‘<br />
noch weiter verlangsamen <strong>als</strong> über den Sternenhimmel verstreute Tupfen,<br />
wobei Olson meist nur sein Vibraphon pingt. Der Bass versinkt in Abgründe,<br />
das Saxophonröhren ist bis zur Unkenntlichkeit geronnen, die Musik<br />
insgesamt ein melancholisches Brüten darüber, was einem am Ende der<br />
Milchstraße erwartet.<br />
39
7HINGS music (Edinburgh)<br />
Von Seven Things <strong>als</strong> Forum für exklusive mp3-<strong>Download</strong>s war bereits in <strong>BA</strong> 51 die<br />
Rede anlässlich von KOJI ASANOs Live in Glasgow, der 3. Veröffentlichung einer im<br />
März 2006 gestarteten Reihe, die inzwischen anderthalb Dutzend Angebote umfasst.<br />
Den Auftakt machte CHARLEMAGNE PALESTINE mit The Golden Mean, recorded live<br />
at the Music Lover‘s Field Companion Festival May 2005 in Gateshead. Chaim Moshe Tzadik<br />
Palestine spielte dabei zwei Pianos gleichzeitig wie andere Leute Doublebassdrum. Er<br />
wird manchmal <strong>als</strong> Minimalist geführt, aber nichts ist irreführender. Das Unikum aus<br />
Brooklyn ist ein Maximalist vor dem Herrn, der mit ausdauernd repetitivem Gehämmer<br />
die Welt erschüttert und Obertöne zum Schwingen bringt. So auch in Gateshead. Die aus<br />
den Pianos aufsteigenden Klänge ähneln eher dem Läuten von Alarmglocken und gehören<br />
zu den markantesten im musikalischen Pluriversum.<br />
Auf dem gleichen Festival wurde Nmpering Live mitgeschnitten. Das Duo NMPERING<br />
aus Bhob Rainey und Greg Kelley machte zurecht Furore in der Improszene durch seine<br />
Geräuschhaftigkeit, die ebenso radikal wie virtuos ihre Quellen, einfach nur Saxophon<br />
und Trompete, verwischt und einen oft zweifeln lässt, wie das alles ohne elektronische<br />
Hilfsmittel zugehen kann. Dieses spuckige, gepresste Zischen, dieses spukige Fauchen<br />
oder Knurren lassen alle Vorurteile gegen Plinkplonk vergessen. Hören wird unmittelbar<br />
zum gespannten Lauschen, zum Staunen, zum Abenteuer. Was wird sich in den nächsten<br />
Sekunden aus der Stille heraus schälen? Welcher Geist will sich hier manifestieren? Das<br />
ist gleichzeitig gothic und spiritualistisch.<br />
Magnetic Migration Music beschert mir meine erste Begegnung mit der schottischen<br />
Künstlerin ZOE IRVINE. Aus dem Mitschnitt einer Liveperformance mit Mark Vernon<br />
(Vernon & Burns, Hassle Hound) mischte sie einen neuen Soundtrack. Stoff lieferten ihr<br />
Tonbandschnippsel aus ihrem Found-Sound-Archiv, für das sie lose Bänder aus der ganzen<br />
Welt aufsammelte und wieder aufspulte. Nach einem dramatischen Opernauftakt<br />
wird der Trip über eine imaginäre Geographie aus Sprache und Sound surreal und märchenhaft.<br />
Irvine, zurecht verliebt in das Patina ihrer Fundstücke, schnitt und klebte, manipulierte<br />
die Geschwindigkeit und setzt so einen ebenso selt- wie unterhaltsamen Erzählstrom<br />
in Gang, 4/5 Musique concrète, 1/5 Hörspiel, zwar ohne die Tapebeatles-Verjuxtheit,<br />
aber dafür mit einem pathetischen Finale aus Allah ou akbare und ‚The Windmills<br />
of Your Mind‘.<br />
Gleich noch toller ist das Rebetika-Projekt der Unsounds-Partner YANNIS KYRIAKI-<br />
DES & ANDY MOOR. Aus alten Rembetiko-Scheiben, Computer- und Gitarrensounds<br />
lassen der zypriotische Elektroakustiker, der mit conSPIracy cantata, Spinoza (or I am<br />
not where I think myself to be), The Buffer Zone und Wordless in <strong>BA</strong> vorgestellt wurde,<br />
und der Londoner, seit 1990 von Amsterdam aus operierende Gitarrist einen alten europäischen<br />
Blues neu entstehen. Moor hat von seinem The Ex-Mutterschiff längst Explorerkapseln<br />
in unerschlossenes Gebiet ausgesandt, Kletka Red in Richtung Klezmer-Punk,<br />
Thermal (mit den Copiloten John Butcher & Thomas Lehn) in Richtung Free Impro, mit DJ<br />
Rapture bricht er in negrophonische Worldbeat- und Sampladelixzonen auf. Hier improvisiert<br />
er zur haschischumnebelten Emigrantentristesse der 1922 aus Kleinasien Vertriebenen,<br />
den schellackkonservierten Gesängen und Bouzoukiklängen, die Kyriakides knurschig<br />
rotieren lässt und elektronisch umspinnt. Migration Music zeigt ihre dunkle Seite.<br />
PETER DOWLING ist ein Elektroakustiker in Glasgow von einigem Renommee. Für<br />
Don‘t Touch Me! (I Hate You Sometimes) ließ er, live auf dem Le Weekend Festival 2005 in<br />
Stirling, aus Knacksern und dem Brummen eines Gitarrenverzerrerped<strong>als</strong> sein dröhnminimalistisches<br />
Noli me tangere entstehen, das lange wie von einer Totenuhr durchklopft<br />
wird. Das Klopfen wird zum Furzeln, das Brummen schwillt immer mehr an und wandert<br />
wummernd durch den Raum. Das Gefurzel beschleunigt zu trippelnden und kullernden<br />
Kobolden, zu platzenden, prasselnden Detonationen. Und in den zweiten 11 Minuten wird<br />
es erst richtig bewegt, mit Pustegeräuschen, mehreren motorischen Störsendern, zunehmend<br />
hektisch durcheinander laufenden Pulsen von unterschiedlicher Frequenz,<br />
plötzlich sogar streitenden Stimmen. Der Puls schlägt bis zum H<strong>als</strong>, die Nebennieren<br />
pumpen Adrenalin und nur mit Mühe kriegt Dowling seinen Stress wieder in den Griff.<br />
40
Der DJ, Komponist und Sounddesigner Dan Williams, der unter dem nom-de-disque<br />
VINTAGE 909 operiert, hat sich vor allem <strong>als</strong> musikalischer Direktor von Anton Adassinskis<br />
Tanzkompanie Derevo in Dresden einen Namen gemacht. Sein Soundtrack Scanning<br />
zeigt oberflächlich einige Gemeinsamkeiten mit Dowlings Don‘t Touch Me!, ein<br />
dröhnminimalistisches Mäandern, hintergründiges Pochen, verhuschte Stimmen. Aber<br />
nach 8 Minuten ist plötzlich alles anders, die Musik zerreißt zu Tonbandfetzen, die in<br />
‚f<strong>als</strong>cher‘ Geschwindigkeit eiern. Der 2. Satz kommt <strong>als</strong> dunkel atmende Brandung daher,<br />
mit flatternd gerippelter Oberfläche und einer von feinem Glockenspiel akzentuierten<br />
simplen, melancholisch angehauchten Orgelmelodie, die ganz allmählich zum Stehen<br />
kommt. Der 3. Teil variiert den melancholischen Grundton mit Orchesterfetzen, die<br />
unter schwarzen Segeln vorüber ziehen, von spitzen und dröhnenden Spuren umspielt.<br />
Das romantische Tristan-Pathos schwillt immer mehr an und hüllt das Gemüt in eine<br />
dunkle Wolke. Die Noise Culture erobert Bayreuth.<br />
Der allgegenwärtige baskische Provokateur MATTIN schockierte<br />
das Le Weekend Festival-Publikum 2006 mit Wrong Commodity. Anfangs<br />
stand Mattin im Dunkeln nur da und man hörte - außer einem<br />
Rummsen nach 3 1/2 Minuten - nichts <strong>als</strong> Grundrauschen. Oder<br />
was man bei einer extended Version von 4:33 eben hört. Nach 4:53<br />
dann - TERROR, WEISSES RAUSCHEN bis das Zahnfleisch blutet.<br />
Nach 14:09 Schnitt, so abrupt, dass man das innere Ahhh im Publikum<br />
nachhallen hört. Dann wieder Stille bis 27:14 - und nochmal<br />
HARDCORE MIT GEBRÜLL BIS ZUM ANSCHLAG, eine knappe Minute<br />
lang. Dann ist irgendwie Schluss und das Publikum klatscht und -<br />
ein Teil zumindest - lacht. Soviel zu Provokation und Terror 2006.<br />
MAX RICHTER lieferte mit seinem 52-minütigen From „The Art<br />
of Mirrors“ den vorerst längsten Beitrag zur 7hings-Reihe. Der<br />
deutsch-schottische Komponist, der mit Future Sound of London,<br />
Roni Size oder Vashti Bunyan auch schon seine Kompetenz auf<br />
populären Feldern zeigte, führte beim Le Weekend 2006 <strong>als</strong> Auftragswerk<br />
eine Musik auf, die zur Begleitung von Derek Jarmans<br />
Archiv von S8mm-Filmen der Jahre 1970-83 dient. Richter selbst<br />
spielte dabei Piano und Laptop, Louisa Fuller & Nathalie Bonner<br />
Violine, John Metcalfe Viola und Chris Worsey & Ian Burdge Cello.<br />
Mit diesem Stringensemble schwelgte Richter melancholisch-minimalistisch<br />
in Gefilden, die am Rande von Simon Fisher-Turner und<br />
Karol Szymanowski beschallt werden, im Zentrum aber von Michael<br />
Nyman und Wim Mertens. Ich kann mir nicht helfen, Richter klingt<br />
kitschig und epigonal und nur mein innerer Schweinehund findet<br />
sein Gefiedel trotzdem ganz nett.<br />
LUC FERRARI (1929-2005) starb, bevor er seine Auftragsarbeit für 7hings vollenden<br />
konnte. Das Werkverzeichnis führt das angedachte Werk <strong>als</strong> Dérivatif (Archives SM, est<br />
resté inachevé en 2005). In seinem Andenken spielte The Scottish Flute Trio sein<br />
Madame de Shanghai pour 3 flûtes et son mémorisé (1996) noch einmal ein, mit 15 Minuten<br />
den bisher kürzesten <strong>Download</strong> (10/06). Ferraris Reminiszenz an Orson Welles<br />
Film Noir The Lady from Shanghai mit Rita Hayworth <strong>als</strong> Femme fatale beginnt mit chinesischen<br />
Frauenstimmen, Gelächter, trappelnden Schritten, Popsongfetzen, bevor die<br />
Flötisten Haltetöne dazu anstimmen. Die Szenerie eines Großstadtrottoirs mit offenen<br />
Geschäften wird beibehalten, es werden Kontakte geknüpft, um Verständnis in mehreren<br />
Sprachen gerungen. Die Flöten intonieren dazu weiterhin Haltenoten und hübsche<br />
Zackenlinien. Gläser oder Glöckchen blinken dazwischen und immer wieder hört man<br />
‚Chinatown‘-Gesprächsfetzen. Dann plötzlich Schüsse und ein letzter Dialog, eine Chinesin<br />
mit unverständlichen Zischlauten und Orson Welles selbst <strong>als</strong> Michael O‘Hara, der<br />
immer wieder „Not again“ murmelt. Stark.<br />
Monat für Monat kamen inzwischen neue Arbeiten hinzu, von Alessandro Bosetti, John<br />
Butcher, Spring Heel Jack, Bill Thompson, David Fennessy, aktuell Neil Davidson und<br />
demnächst Ute Wassermann & Aleks Kolkowski. Mit der <strong>Download</strong>welt <strong>als</strong> solcher werde<br />
ich nicht so recht warm, aber die Musik ist von feinster Güte.<br />
41
TOCADO-RECORDS (Rotterdam)<br />
Keine Ahnung, wie die Tocado-Macher auf <strong>BA</strong><br />
gekommen sind. Sie stehen seit 1997 in Rotterdam<br />
ein für Blast-, Party- & Streetpunkrock, Hard-, Metal-<br />
& Emocore, Psychobilly und Jungsein, was eine<br />
gemeinsame Schnittmenge mit <strong>BA</strong> von Nullkommajosef<br />
ergibt. Doch halt, Acts wie Stöma oder Bruno<br />
and Robin schimpfen sich ‚avantgarde‘, Anderes<br />
wird <strong>als</strong> ‚alternative‘ oder ‚nu-wave‘ beworben.<br />
Hören wir einfach mal, was Sache ist:<br />
HARRY MERRY läuft unter Singer/Songwriter<br />
und die Songs seiner zweiten, nur 28-min. CD The<br />
Shunt (tocado 0043) gelten <strong>als</strong> ‚catchy‘. Vor allem<br />
hat Harry Merry einen Haarschnitt und einen Matrosenanzug,<br />
<strong>als</strong> ob er gerade mit Prinz Eisenherz<br />
gesegelt wäre. Knallige Op Art-Tapeten auf dem<br />
Cover geben seinen gesanglichen Eskapaden einen<br />
60s-Anstrich. Nichts Genuines, dafür sind die<br />
6 Songs zu meta, gleichzeitig käseorgel-trashig<br />
und sophisticated, grobmaschig und finessenreich,<br />
psychedelisch und parodistisch. So großspurig<br />
die Arrangements sind, so überkandidelt<br />
und rotznasig geben sich Harry Merrys Reim-dichoder-ich<br />
fress-dich-Lyrics: We sing and we swing a<br />
capella / Under the Venus-umbrella / With pictures<br />
of Barbarella / Her favourite magazine is Ella. So<br />
waren sie, die Swinging 60s, garantiert.<br />
Julie Scott ist die alleinige Songschreiberin und<br />
Sängerin von CAN_OF_BE. Zusammen mit dem<br />
Keyboarder Roeland Drost, der früher bei De Kift<br />
gespielt hat, einer Herman van Veen-Ausgabe von<br />
The Ex, mit Mark van Dijk an der Gitarre, Drummer<br />
Lesley Strik und Jaco van der Maarel am Bass<br />
dreht sie bei Don Quichot (tocado 0046) heftig an<br />
der Pathosschraube. Dabei werden Gefilde gestreift,<br />
die man mit Namen wie Patti Smith und PJ<br />
Harvey verbinden kann, aber nicht muss. Dass<br />
Scotts allenfalls mit Heroin überzuckerte Lovetroubles<br />
nicht bloß rammdösig Gitarrenwände<br />
hoch ziehen, dafür sorgt, neben weiteren irritierende<br />
Einsprengseln, mit Cello und Singender<br />
Säge Jan Willem Troost, der ansonsten mit Amago<br />
Tango spielt. Das verhalten beginnende ‚Mistletoe‘<br />
wirkt gerade <strong>als</strong> ein gedämpfter und depressiver<br />
Moment besonders eindringlich.<br />
Wie Dutch Metalcore klingt, das lerne ich kennen<br />
mit Stainless (tocado 0047). Darauf kompiliert<br />
sind mit When All Life Ends, Mindscan und<br />
Drainlife drei Rotterdamer Bands, dazu Return<br />
To Reason und Until We Bleed aus Amsterdam,<br />
Facewreck aus Delft, Dominator aus Den Haag,<br />
Last Breath Denied aus Lisse und See My Solution<br />
aus Zwolle, allesamt live. Kein Klischee<br />
wird ausgelassen, was sicher auch das Schöne<br />
daran ist, jung und laut zu sein. Etwas verschämt<br />
krame ich nach meinen seit 10 Jahren nicht mehr<br />
gehörten Grind-Crushern von Earache. Und bin<br />
beruhigt. Metalcore ist ein Thema mit Variationen,<br />
die gegen unendlich gehen. Unkaputtbar, wie Jazz,<br />
und was da etwas streng riecht, ist nur Gouda.<br />
42
Lushus: Sascha Hacska Merel Koning<br />
43<br />
Tocado 0050 wurde reserviert für<br />
die Nik Nok-7“ von STÖMA, dem Rotterdamer<br />
Drums & Bass-Duo von Wouter<br />
van Wijk & Bruno Xavier Ferro da<br />
Silva. Die beiden kennen sich gut aus<br />
DooDoo‘s Coffe, in The Must sind sie<br />
die Backup-Band von Harry Merry,<br />
Bruno ist daneben auch der Bruno neben<br />
Robin etc. etc. Nicht Lightning Bolt<br />
oder Raxinasky sind ihr Role Model. Sie<br />
ziselieren ihren Stoff verhaltener, Bruno<br />
singt den Titelsong, van Wijk bringt<br />
auf der instrumentalen, schallgedämpften<br />
B-Seite feine Effekte und<br />
Loops ins Spiel.<br />
Armand & Barry Hofstede und Henk<br />
Jan Hoekjen haben sich in Heerde, einem<br />
Kaff in Nordostholland, vor 6 Jahren<br />
zusammengetan zu THE STILET-<br />
TOS. Zum fetzigen Upbeat von<br />
Hoekjens Fender Telecaster und dem<br />
krachigen Rock‘n‘Roll-Drumming seines<br />
Bruders spuckt Armand wie aufgedreht<br />
wilde Zeilen ins Mikro. Ihr testosteron-gepeitscher,<br />
tuffer 60s-Beat, in<br />
den Garagenjahren durchlauferhitzt,<br />
klingt auf Stimulusblackboxresponse<br />
(tocado 0051) immer noch fast wie<br />
ernst gemeint.<br />
Im Kontrast dazu bestehen die SUI-<br />
CIDAL BIRDS aus Jessie & Chay und<br />
einer Drummachine. Jessie schrubbt<br />
Gitarre und schrei-kräht, Chay spielt<br />
Bass. Versus Life (tocado 0052) ist das<br />
zweites Lo-Fi-Manifest der friesländischen<br />
Riot Grrrls, deren Lieblingswort<br />
No ist: No Nada, No Way, No Fun No Art,<br />
No Use, No Summer, No Light. Jessie<br />
verwandelt Neil Youngs ‚Into the Black‘<br />
in ein perfektes Patti Smith-Statement.<br />
Mit dem 5 Min.-Epos ‚Sensible Sinners‘<br />
sprechsingt sie sich in die Liga der<br />
Denkwürdigen. Auch musikalisch nicht<br />
auf eine Masche beschränkt, da muss<br />
man nur zu ‚Salt Sugar‘ springen, zählen<br />
die Suicidal Birds definitiv zu denen,<br />
die bei ihren Selbstmordattentaten<br />
an der Genderfront auf mein Sympathisantentum<br />
rechnen können.<br />
LUSHUS schließlich knüpft mit Big<br />
Fat Man (tocado 0054, 7“) verblüffend<br />
originalgetreu an Postpunk- und Proto-<br />
Riot Grrrls wie The Slits oder Liliput an.<br />
Merel Koning & Sascha Hacska spielen<br />
beide Bass und singen von Bierbauchtypen<br />
oder fragen nach irgend<br />
einem Grund, es länger mit einer<br />
selbstsüchtigen Kreatur auszuhalten.<br />
Jorg van der Plank klopft und tickelt<br />
dazu die Beats. Sowas Freches finde<br />
ich wunderbar!
TOSOM (Memmingen)<br />
Durch die Wüste mit Tosom. Desert Space (TOSOM 025, 3 x CD-R), das sind Dünen,<br />
die sich bis zum Horizont wellen, ein Sonnengong, der alles Denken und<br />
Fühlen durchbebt, Eintönigkeit, Wind und Sand <strong>als</strong> das einzige, das dort billig ist.<br />
Antonio Amoroso hat Erfahrungsberichte zusammengestellt von Expeditionen<br />
und Durststrecken durch ganz unterschiedliche Wüsten. Einige davon Outer Space,<br />
<strong>als</strong> Driften in gähnender, sternenstaubiger Unendlichkeit, andere beginnen<br />
gleich vor der Haustür. Bei ‚Apathie Im Supermarkt‘, dem seligen Seufzer von<br />
Seppuku Boogie über soviel Sand im Sonderangebot, ist sogar der Humor trocken.<br />
Davor hatten sich Halo Manash (unter dem Auralhypnoxdach im finnischen<br />
Oulu zuhause), N.Strahl.N (Mario Löhr), Tardive Dyskinesia, Feu Follet<br />
(Tobias Fischer in Münster), Aidan Baker aus Toronto und Roy-Arne<br />
Knutsen im steinigen Norwegen auf den Weg gemacht, eine Karawane aus Einzelgängern,<br />
mit ausgetörrten Kehlen, müden Füßen, zähem Durchhaltewillen,<br />
durch Halluzinationen desorientiert und im Wahn bestärkt, dass man nur dem<br />
großen Ommm folgen muss. Jeder hat seine eigene Wüste, jede Wüste ihre eigene<br />
Poesie. Die bei den einen hinein führt in das dunkle Ambiente imaginärer<br />
Landschaften, bei einigen in einen melancholischen Gemütszustand, bei wieder<br />
anderen zu einem meditativen Brüten. Bei Compest dreht sich eine von Wind<br />
umfauchte monotone Mühle, die die Zeit klein schrotet. Karl Bösmann hat für<br />
‚Medan Marked-Place - Pt. 2 & 3‘ Stimmengewirr zum Röhren von Wüstendämonen<br />
vermahlen. In der zweiten Gruppe ziehen Closing The Eternity, Oophoi<br />
aus Italien, F<strong>als</strong>e Mirror (Tobias Hornberger in Ulm), Netherworld (Alessandro<br />
Tedeschi), Phelos (Martin Stürtzer in Wuppertal), Vivian Gabin (Lars Dietrich<br />
aka Vernom, der mit Stimmengewirr und Akkordeonvolkslied einen ‚Persian<br />
Love Song‘ faket), der martialische Atrox (Andy Stöferle in <strong>Bad</strong> Saulgau) und<br />
Brandkommando vorüber. Der eine einsam wie Pluto, der andere nicht einsam<br />
genug, dem einen zerrinnt die Zeit zu Nichts, der andere löst sich selber auf wie<br />
Zucker in Sirup. Und da kommt noch ein Nachzügler, Tesendalo, absolut unwüst,<br />
im Hawaiihemd mit ner Flasch Bier und einer aufgekratzt abgespulten<br />
Drehwurmmelodie. Stillstand (wie Compest ein Projekt von Martin Steinebach in<br />
Kahl, bei dem ‚Europa‘ eine Zukunft <strong>als</strong> Wüste droht), Cria Cuervos (Eugenio<br />
Maggi), Shrine (Hristo Gospodinov aus dem bulgarischen Weliko Turnovo), das<br />
nordfinnische Duo Aeoga, Rotationszentrum, Steinfeld, Baradelan<br />
(Thomas Sauerbier mit einer sprudelnden Fata Morgana) und Festung Kronstadt<br />
(Stephan Rolf Schilling aus Leipzig) bilden die dritte Reisegruppe. Auch sie<br />
hüllt ein ‚Swarm of Drones‘ aus schwarzen Bienen oder grünen Dämonen ein.<br />
Matamore (Theremin Noise Club-Macher Chris Huber & Stephanie Gagne in<br />
Salzburg) mit dem rosenfingrigen ‚Church of Dawn‘ oder Agenda Kokon (aus<br />
Essen - Kompliment für den Namen) mit ‚Serafimgluten‘ nähern sich dem ‚Throne<br />
of Drones‘. Als ein ‚Storm of Drones‘ öffnet das Erhabene seine Tore, die höchste<br />
Stufe sombienter Einkehr und von psychoakustischem Deep Listening.<br />
44
TOUCH (London)<br />
Die Begeisterung der Touch-Macher für die Vox Dei hält an. Und<br />
beschert <strong>als</strong> weiteres Kapitel Grand Mutation (Tone 30), den Zusammenklang<br />
von Lasse MARHAUGs Sinuswellenoszillationen<br />
und laptopgeneriertem Noise mit Improvisationen des Organisten<br />
Nils Henrik ASHEIM. Der konnte dabei in einer stillen Juninacht<br />
2006 auf seiner Lieblingsorgel spielen, der Ryde & Berg-Orgel in<br />
der Domkirke Oslo, installiert 1998 und eingeweiht mit Asheims<br />
Werk Salmenes Bok für Chor und zwei Orgeln. Die von Thomas<br />
Hukkelberg, zu dessen Referenzen schon Huntsville und diverse<br />
Sofa-Releases gehören, mit aller tontechnischen Sorgfalt mitgeschnittene<br />
Stunde wurde in 5 Tracks gegliedert. Deren Namen<br />
‚Bordunal‘ - ‚Phoneuma‘ - ‚Magnaton‘ - ‚Philomela‘ - ‚Clavaeolina‘<br />
deuten den jeweiligen Akzent an: monochrome Haltetöne - die<br />
Blasebalg-Pneumatik, gleichzeitig auch ‚klingende Zeichen‘<br />
(Neumen) - den ‚großen Ton‘, eine Reihe von vierhändigen Zackenkammsalven<br />
von nur knapp 2 Minuten - die abgeschnittene<br />
Zunge und ihre Metamorphose zur Nachtigall - die frei schwingende,<br />
auf einen Eisenbügel geschweißte Zunge der Äoline, einem<br />
um 1820 entwickeltem Orgelregister. Marhaug tritt zu Asheims<br />
Schillern zwischen Palestine und Messiaen den Blasebalg,<br />
d. h. er gibt dem Spiel Luft. Statt bruitistisch zu konkurrieren,<br />
webt er sublime elektronische Schleier. Asheim, 1960 in Oslo geboren,<br />
ist Komponist der Kirchenoper Martin Luther Kings himmelferd<br />
und preiswürdiger Orchester- & Kammermusiken. Sein<br />
Kompositionsstil ist dabei von seinen improvisatorischen Erfahrungen<br />
mit geprägt, etwa seinen 16 Pieces for Organ, die er<br />
ebenfalls schon auf der Osloer Domkirke-Orgel intonierte. Er evoziert<br />
etwas Erhabenes, ohne direkt sakralen Anklang. Seine<br />
Schwebklänge beben dennoch in der Luft, wie nur Licht, das<br />
durch Buntglasfenster fällt, in kühlen, hohen Kirchenschiffen stehen<br />
kann. Sie wallen, pulsieren und raunen, wie nur Prinzipale,<br />
Gedackte, Aliquotregister, Klangkronen und Kornette fiepen,<br />
raunen und aufrauschen können. Mit zwei Worten: magnum opus.<br />
Der österreichische Electronica-‚Gitarrist‘ Christian FENNESZ<br />
und der japanische Piano-Soundtracker Ryuichi SAKAMOTO<br />
fanden nicht nur im Laptop einen gemeinsamen Nenner für ihren<br />
Zusammenklang bei Cendre (Tone 32). Ehrlich gesagt, ist Sakamoto,<br />
bei allem Renommee (Merry Christmas Mr. Lawrence,<br />
1983, The Last Emperor, 1988, Sheltering Sky, 1990 etc.), in meinen<br />
Ohren immer ein Garant gewesen für gefälliges Geplimpel,<br />
ein Clayderman für Ansprüche, die Feuilletonschmocks für gehoben<br />
halten mögen. Er klimpert auch hier, wie zu erwarten, verhalten<br />
und zeitlupig seine ‚verträumten‘ Pianoetüden und Fennesz<br />
‚antwortet‘, indem er Sand und Asche darüber streut. Bei manchen<br />
Stücken machte der Wiener auch den ersten Zug, freilich<br />
ohne den lyrischen Grundtenor seines Seniorpartners (1952 vs.<br />
1962) anzutasten. Wie atmosphärisch er auch die 11 Klangbilder<br />
mit feinkörnigem Knurschen und feinelektronischen Schwaden<br />
überzieht, das Piano streut mit gleich bleibendem Aschermittwochsgestus<br />
seine pianistischen Krümel unter die Tauben.<br />
Einige werden den nachdenklichen Duktus <strong>als</strong> melancholisch<br />
empfinden und die Tristesse mit „Bye-bye happiness, Hello loneliness,<br />
I think I'm gonna cry“ begrüßen. Aber nur das Titelstück,<br />
bei dem das Klavier fast gänzlich weggemischt ist, findet meine<br />
seufzende Zustimmung. Ansonsten ist mir speziell Sakamotos<br />
‚Stimmungsmalerei‘ zu soundtrackpsychologisch, zu sehr<br />
‚Gefühlsklaviatur‘. Beim diesjährigen Moers-Festival sprang Fennesz<br />
mit Mike Patton wieder ans andere Ende der Sakamoto-<br />
Skala. So muss das sein.<br />
45
VICTO (Victoriaville, Québec)<br />
Les Disques Victo hat 2007 einen Grund zum Feiern.<br />
20 ans déjà. Um zum Jubeljahr die Qualität zu<br />
liefern, für die Victo steht, greift Michel Levasseur<br />
nunmehr zu Mitschnitten der FIMAV-Ausgabe<br />
2006. Downpour (VICTO cd 104), der Clash von<br />
NELS CLINE, ANDREA PARKINS & TOM RAI-<br />
NEY vertritt neben der NOWness von My Cat Is An<br />
Alien, Fieldwork, Huntsville, Mandarin Movie oder<br />
SunnO))), dem Charme von Charming Hostesss<br />
und Fe-Mail oder der Power von Etage 34, KTU<br />
und Zu fast schon eine Seltenheit: No Nonsense-<br />
Impro, allerdings <strong>als</strong> Fusion- und Elektro-Update.<br />
Clines Einfallsreichtum an der Gitarre, gespickt<br />
mit Effekten und Härte, lassen nicht einmal mehr<br />
ahnen, dass er 1979/80 <strong>als</strong> kalifornischer Nine<br />
Winds-Softie begonnen hat. Aber mit Rhythm Plague<br />
hatte er auch dam<strong>als</strong> schon Neigungen gezeigt,<br />
die Schubladen zu verwischen. Längst lässt<br />
er ebenso gern mit Mike Watts, den Geraldine Fibbers<br />
oder Thurston Moore die Drachen steigen<br />
wie mit Gregg Bendian‘s Interzone, Vinny Golia,<br />
Steuart Liebig und den Nels Cline Singers. Seine<br />
exzessive Kunstfertigkeit vielseitig zu nennen,<br />
wäre untertrieben. Die Konstellation mit dem Tim<br />
Berne-Drummer Rainey, der ja mit Marc Ducret gitarristische<br />
Herausforderungen gewohnt ist, und<br />
mit Parkins und ihren Sampler-, Akkordeon- &<br />
Keyboardsounds war bereits im New Yorker Tonic<br />
<strong>als</strong> Ash and Tabula (Atavistic) erprobt worden.<br />
Rainey wartete in Victoriaville mit einer Summe<br />
dynamischer Beatverschachtelungen auf, jenseits<br />
dessen nur noch das Berserkertum des Skronk- &<br />
Dirty Jazz existiert. Wenn er und Cline einen in die<br />
Zange nehmen, reichen die Sinne nicht aus, um<br />
die unkalkulierbaren Wendungen dieses Freispiels<br />
auf einmal zu erfassen. Besonders undurchsichtig<br />
ist die Rolle, die Parkins spielt. Die Cousine von<br />
Zeena Parkins, trioerprobt durch ihr jahrelanges<br />
Engagement mit Eskelin & Black, behauptet sich<br />
dort wie hier <strong>als</strong> elektrifizierter Luft-Geist, <strong>als</strong><br />
‚Drittes Element‘ (Daz dritte element daz ist der<br />
luft der besluzit in sich die ersten zwei). Schimmernde<br />
Haltetöne, zart bebende Zitterwellen, die<br />
Clines dröhnende oder abgerissene Kakophonie<br />
und Raineys knackiges Gerumpel und quecksilbrige<br />
Spritzer gleichzeitig von ‚Innen‘ durchzucken<br />
und von ‚Außen‘ umwölken. Gibt sie selbst sich<br />
diskanten Launen hin, versucht Cline sie mit eindringlich<br />
singendem Riffing zu beschwören, zu<br />
besänftigen. Hartnäckig wiederholte Bassfiguren<br />
der Gitarre und Marschrolls der Drums versuchen,<br />
die nesselnde Giftigkeit der Elektronik in einen<br />
Groove einzubinden. Aber so simple Lösungen<br />
werden schnell wieder verworfen zu Gunsten<br />
von ständiger Gärung, quicken Volten, Dynamik<br />
mit Effet. Wer das <strong>als</strong> orientierungslos abtut - Unfortunately,<br />
taken together, the trio’s music too<br />
often simply did not seem to go anywhere“ - , wie<br />
M. Bélanger in All About Jazz, überreizt die Rolle<br />
des abgebrühten Connaisseurs.<br />
46
Die Symphonic Wind Band der Shanghai Jiaotong Universität, Wong Kar-Wais<br />
2046 und FujiN RaijiN (VICTO cd 105) haben nicht nur gemeinsam, dass sie sich<br />
<strong>als</strong> persönliche Sinneseindrücke im Mai 2007 mischten, es sind auch asiatische<br />
Weisen, Östliches und Westliches zu hybridisieren. Die Wind Band aus Shanghai<br />
<strong>als</strong> unchinesisches Blasorchester in der Mixtur von Erhu-Volkstümlichkeit mit<br />
Sousa und Mancini; 2046 <strong>als</strong> von Peer Raben und Nat King Cole beschallte Melancholie<br />
im Hongkong der 60er Jahre; und das SATOKO FUJII MIN-YOH EN-<br />
SEMBLE mit 2 neu arrangierten und 4 von Fujii neu komponierten japanischen<br />
‚Volksliedern’. Ich kann daran allerdings nichts ‚typisch Japanisches’ erkennen<br />
und bin nicht sicher, ob Japaner sich dabei gleich ‚wie zuhause’ fühlen. Eher<br />
scheint mir das, was die Pianistin und ihr Mann Natsuki Tamura auf der Trompete<br />
zusammen mit dem Posaunisten Curtis Hasselbring und Andrea Parkins am Akkordeon<br />
spielen, nur einen Katzensprung von Gato Libre entfernt. Das Wiegenlied<br />
‚Itsuki No Komoriuta’, das schon von <strong>Bad</strong>en Powell oder Helen Merrill und immer<br />
wieder auf der Shakuhachi angestimmt wurde, klingt hier ernst und kunstvoll, wie<br />
ein Kunstlied ohne Worte, das Allzubekanntes quadriert und eher verschlungene<br />
Wege <strong>als</strong> den direkten Weg zum Herzen geht. ‚Kariboshi Kiriuta’, ebenfalls ein<br />
Shakuhachi-Standard, bezaubert sogar <strong>als</strong> tatsächliches Min-Yoh-Lied, von Fujii<br />
selbst großartig gesungen, lange nur von der Trompete begleitet. Fujii vermeidet<br />
sowohl volkstümliche wie exotische Klischees und operiert doch mit Dramatik und<br />
starken Gefühlen. Sie lässt das Blech melodiös singen, harft und klimpert Innenklaviersplitter,<br />
hämmert und pocht den ausdrucksstarken Duktus ihrer strengen<br />
Stimmführungen. Parkins fällt dabei die Rolle eines Phantoms zu, ihr Akkordeon,<br />
ansonsten der weltmusikalische Hansdampf, sirrt und dröhnt so elektro-alchemistisch,<br />
dass eher Teodoro Anzellottis Neutönerei <strong>als</strong> Folklore mitschwingt. All diesen<br />
Schraubendrehungen zweiter und dritter Ordnung traue ich den Ehrgeiz zu,<br />
Third Stream- und Eine Welt-Musik sublimieren zu wollen zur Musica Nova eines<br />
globalen Utopia. Aber kann man von einer Frau, die zusätzlich zu ihren diversen<br />
Trios und Quartets mit 4 Big Bands gleichzeitig jongliert, weniger erwarten?<br />
47
Das FIMAV ist beispielhaft für die Suche nach der ‚Summe aller Töne‘.<br />
Diese Suche stellte 2006 Mike Pattons Projekte mit Fennesz, Rahzel<br />
und Zu neben das Mei Han Ensemble, das Nunavik Project von Think Of<br />
One und den extremen Noise Terror von BORBETOMAGUS & HIJO-<br />
KAIDAN. Die Saxophonisten Jim Sauter & Don Dietrich und Gitarrist<br />
Donald Miller pulverisieren seit 1979 die Schallmauer. Jojo Hiroshige<br />
versucht seit 1979, den Stillen Ozean auszusaufen. In Osaka wurden<br />
er und seine Crew beim Versuch, Hawkwind, Faust und vor allem die<br />
LAFMS-Freaks Airway japanisch zu überbieten, einer der Stammväter<br />
des Nippon-Noise. Seit 1982 intensiviert die Fluxus-gestählte Junko <strong>als</strong><br />
Screaming Banshee sein Gitarrengemetzel. Bei Both Noises End Burning<br />
(VICTO cd 106) brachten am 21.5.2006 noch die Tinnitus-Furie<br />
Nao Shibata, die ansonsten bei Doodles oder New Rock Syndicate<br />
trommelt, und der Bankangestellte Toshiji Mikawa mit seinen Mr. Incapacitants-Electronics<br />
die Luft zum Brennen. Die 7-stimmige Kakophonie<br />
vexiert, während das schon nach wenigen Sekunden durchgegrillte<br />
Gehirn nicht weiß, ob es implo- oder explodieren soll, zwischen Wall<br />
of White Noise - „monolith of sound“ hat Dietrich das mal genannt -<br />
und einem stechenden Beschuss mit Myriaden von Feuer- & Eisnadeln,<br />
einem furiosen Schwarm unablässig attackierender Mikrodämonen.<br />
Verursacher dieses Hirnsausens sind ältere Glatz- und<br />
Grauköpfe, bausbäckige Brillen- und BubikopfträgerInnen. Sie dienen<br />
den Godz of Noiz nicht in jugendlichem Übermut, sondern mit reiflicher<br />
Überlegung und hartnäckiger Treue zur Mission, einen zu zernichten,<br />
<strong>als</strong> ob man unter dem Niagarafall duschen würde. Decode,<br />
rewire, letztendlich in die Auferstehung jagen. Als Einzelquelle erkenntlich<br />
bleibt weitgehend nur die hoch gepitchte Stimme Junkos, die<br />
‚wie am Spieß‘ kläfft und kirrt und dabei oft mit den Saxophonen verschmilzt,<br />
wenn diese nicht mit Gummischlauch angeblasen werden<br />
und dabei einen dunkleren Ton annehmen. Dazwischen verklumpen<br />
sich die schrillen Lärmspuren zu einem konvulsischen Knäuel junger<br />
Raketenwürmer. Der rauschende Mahlstrom ihres Düsendonners wirkt<br />
wie ein Schwarzes Loch im Ocean of Sound, <strong>als</strong> ‚The Challenger<br />
Deep‘, der einen zu nihilieren droht oder verspricht. Und nach knapp<br />
72 Minuten nur Beifall erntet. Ich kann Stockhauses Kummer gut verstehn.<br />
Wenn Japaner dieses ‚Schwarze Loch‘ ansteuern, nennen sie das Psychedelia<br />
(die Lettern des bekanntesten Labels für japanischen Extremismus<br />
PSF stehn für Psychedelic Speedfreaks) oder <strong>Alchemy</strong> (so<br />
heißt Mikawas Label in Osaka). Von Außen wurde das interpretiert <strong>als</strong><br />
Ästhetik des Erhabenen oder Totalitären, <strong>als</strong> Sado-Masochismus oder<br />
Fetischismus, <strong>als</strong> Identifikation mit der Moderne <strong>als</strong> Aggressor oder<br />
terroristische Subversion gegen eben diesen Unterdrücker und Nihilierer.<br />
Nach Michel Henritzi geht es Noise-Musik um „losing control<br />
over oneself, about losing one‘s relationship to the world.“ Sie sei „a<br />
music of catharsis and hysteria“, die in erster Linie dem Lustprinzip<br />
gehorcht. Falls je Zustands- und Konsumkritik eine Rolle gespielt haben<br />
sollte, wurde sie längst selbst zur Konsumdelikatessware. Henritzi<br />
zufolge wurde daher die Phase des Experimentierens mit „saturation,<br />
overdrive and multiple stratifications“ abgelöst durch dekonstruktivistische<br />
Strategien, wie Otomo Yoshihides ‚Sampling Virus‘, und vor allem<br />
durch „a minimal aesthetic, working with the infinitesimal and the<br />
inaudible“ (Onkyo) [-> Japanese Independent Music, Sonore, 2001] Die<br />
Renaissance der Old School- und Overdrive-Phase (mit Keiji Haino und<br />
Merzbow <strong>als</strong> allgegenwärtigen Festival-Hoppern) kommt einigermaßen<br />
unverhofft. Und erklärt sich am ehesten durch die Quest nach der<br />
‚Summe aller Töne‘, die auf ein synergetisches All together now zu<br />
setzen scheint - SunnO))) + Haino + Wolf Eyes + Braxton + Patton + Zu +<br />
Hijokaidan + Borbetomagus... Free + Freak + Doom + Noise + Exotik...<br />
Alchemie für Maximalisten? Here come the Harvest Buns, A belly full<br />
for everyone.<br />
48
DAS POP-ANALPHABET<br />
BURKHARD BEINS Disco Prova (Absinth Records, Absinth 013, in 7“-Cover):<br />
Perlonex-Perkussionist Beins auf Musique concrète-Pfaden. Mit Analogsynthesizer<br />
und einer zerkratzten italienischen Hifi-Testplatte (‚EQ-20‘), sowohl out- wie<br />
indoors ‚Fieldrecordings‘ aus Brooklyn (‚Schaltkreis‘), einem elektrischen Gasanzünder<br />
(‚Igniter‘), Schnipseln von Joy Division-LPs (‚For Ian Curtis‘), mit einer großen<br />
Styroporkiste, an die eine 12 Meter lange Schnur angebracht wurde und<br />
Wassergeräuschen (‚Sekante‘); nur ‚Reel‘ und ‚Slope‘, ersteres weniger und in<br />
Verbindung mit der selben Testplatte wie ‚EQ-20‘, letzteres relativ pur, lassen<br />
den perkussiven Beins anklingen. In meinen Ohren besteht der Witz dabei darin,<br />
dass bruitistische und perkussive, ‚verfremdet‘ konkrete und handish-analoge<br />
Klangkreation, ineinander fließend, ihre Verwandtschaft zeigen. Dass etwa Asmus<br />
Tietchens oder Keith Rowe bei Nacht ununterscheidbar werden <strong>als</strong> zwei<br />
graue Katzen, dass das Pluriversum der Klänge und Geräusche nicht pythagoräisch,<br />
sondern heraklitisch einem um die Ohren wummert, brummt und plätschert.<br />
BERTHIAUME, BRZYTWA Bebe Donkey (Ambiances Magnétiques, AM 163): Die<br />
Begegnung mit Derek Bailey 2002 war schon ein Schlüsselerlebnis für den Gitarristen<br />
Antoine Berthiaume, aber ein Semester am Mills College bei Fred Frith und<br />
Joëlle Léandre verschob seine Perspektive ein weiteres Mal. In Oakland traf er<br />
auch auf die Flötistin & Laptopelektronikerin MaryClare Brzytwa, die sich <strong>als</strong> ein<br />
Wurmloch in ein Riot Grrrl-Wunderland entpuppt. Die 1981 in Youngstown, Ohio,<br />
geborene Tochter sehr katholischer Polen ist eine rasiermesserscharfe ‚Queen<br />
of B-bands‘: In Bolivar Zoar mit Ava Mendoza & Theresa Wong halbwegs zwischen<br />
Äffchen und Engeln, oder wie Mendoza meint, halbwegs zwischen Bo<br />
Diddley und Hildegard von Bingen; <strong>als</strong> Byznich setzt sie im Alleingang ihr Mysti<br />
Marie Teater in Szene; und bei Slow, Children improvisiert sie mit der Kotospielerin<br />
Kanoko Nishi & der Drummerin Shayna Dunkelman E!!!!!motronics. Womit klar<br />
sein dürfte, warum Carla Kihlstedt sie auf das Unlimited 21 nach Wels eingeladen<br />
hat. Das MySpace-Wurmloch hat mich inzwischen über The Norman Conquest zu<br />
Nuclear Times rutschen lassen, dem Trio von Norman Teale mit Quentin Sirjacq<br />
und - Berthiaume (-> <strong>BA</strong> 47). Schwindlig gewirbelt durch diese Oakland-zentrierte<br />
MySpace-Zentrifuge, lande ich erst jetzt wirklich bei Bebe Donkey, benannt<br />
nach dem Donkey Punch Who is Really A Roller Derby Girl from Philadelphia.<br />
Berthiaume & Brzytwa scheinen da ihre Bewerbung abzugeben für eines dieser<br />
Akusmatikstipendien, die man nur bekommt, wenn man Bruitismus <strong>als</strong> ernste Sache<br />
betreibt. Alle Anklänge an Quirky-Pop, Frauenpower und Anti-Bush-Politik, in<br />
der Oakland-Szene allgegenwärtig, werden abgeschliffen zu schimmernden Gitarrendrones<br />
oder im Laptop zerschrotet, um damit abstrakte Gemälde zu bespritzen.<br />
Knispelige, knarzige Clicks, spotzige Störsignale und brummig verzerrte<br />
Wellen rauschen vorüber, ab und zu auch ein Anhauch von Flöte und keuchender<br />
Stimme. Bis ‚Punch‘ mit elegischer Zartheit und gezupfter Gitarre einem unerwartet<br />
direkt in die Augen schaut. Und ‚She <strong>als</strong>o‘ tut das einige knurschige und<br />
pfiffige Minuten später noch einmal, mit orgelähnlichem Melos. Als Clou schließt<br />
‚Alitron‘ mit einer verrauschten Hommage an Derek Bailey.<br />
TIM CATLIN Radio Ghosts (23five 011): Sechs dröhnminimalistische Brummer,<br />
konsequent monochrom, setzen ihren Bohrstift an meiner Zirbeldrüse an. Zweimal<br />
mit akustischer Gitarre, dreimal mit E-Gitarre <strong>als</strong> Klangquellen, jeweils <strong>als</strong><br />
präparierte Tabletop und speziell gestimmt. Ein Motor versetzt die Saiten in Vibration,<br />
einmal kommt noch ein Radio dazu. Beim sechsten Anlauf sirrt ein Becken.<br />
Ich könnte mit solchen Dröhnwellen inzwischen einen Whirlpool füllen, was<br />
sag ich, eine ganze Second Life-Welt aus dem Boden schießen lassen voller surrender<br />
Transformatoren, dopplereffektiver Geschäftigkeit, vorüberbrummender<br />
Motorflugzeuge, Rasenmäher, Zambonis, Bombuskolonien. Brumm, ergo sum?<br />
Halt, bei meiner Tirade hätte ich fast überhört, dass der Mann aus Melbourne bei<br />
‚Black Magnet‘ die Saiten pluckernd propellert, bis sie Obertöne ausspucken. Danach<br />
legt das Radio einen prasselnden Film und Jaultöne über das Titelstück.<br />
Und schließlich bekommen Cymb<strong>als</strong> das Zipperlein und mein Wohnzimmer fängt<br />
an, sich in einen Hubschrauber zu verwandeln.<br />
49
DAS SYNTHETISCHE MISCHGEWEBE Gleis3eck /<br />
Görlitzer Tunnel (Antiinformation, AICdisc 008, 2 x CD<br />
in DVD box): Vergangenheit ist ein heikles Ding.<br />
Manchmal will sie vergehen und kann nicht, manchmal<br />
soll sie vergehen und will nicht, manchmal ist sie schon<br />
verschwunden, bevor man sich‘s versieht. Das S-M hegt<br />
und hütet seine Vergangenheit und vergegenwärtigt<br />
damit mehr <strong>als</strong> nur sich selbst. Die Entstehungsorte von<br />
‚Görlitzer Tunnel‘ (1986) und ‚Gleis3eck‘ (1987) sind<br />
nach dem Fall der Mauer dem Vereinigungsfuror und<br />
Hauptstadtbaufieber zum Opfer gefallen. Der verpisste<br />
Fußgängertunnel unter Kreuzberg ist ebenso verschwunden<br />
wie die S-Bahndrehscheibe, die allerdings<br />
schon eine Industrieruine war, <strong>als</strong> Das S-M sie unbefugter<br />
Weise <strong>als</strong> Performancebühne okkupiert hat. Nur<br />
überholte Stadtpläne und alte Fotos konservieren ihre<br />
Existenz. Und in Spurenelementen sind sie aufgehoben<br />
auf diesen Bändern, von denen Auszüge bereits auf<br />
‚casual praise of domestic calamities‘ (Hypnagogia),<br />
‚intransitive 23‘ (Intransitive Recordings) und ‚Inventaire<br />
and contradictions‘ (Vinyl-On-Demand) herumgeistern.<br />
Hier kriecht nun die von Yref & G.do Hübner<br />
hergestellte ammoniakhaltige Langfassung ihrer bruitistisch-olfaktorischen<br />
Tunnelbohrung aus den Boxen (45:38). Ein diskantes Konzentrat<br />
aus Gestank und Geräusch unter schäbigem Neonlicht. Von oben dröhnt Kreuzbergverkehr,<br />
von unten klopfen die Untoten, auf die Berlin gar nicht genug Beton<br />
wuchten kann, dazwischen pfeifen Ratten mit Stammbaum bis in den Führerbunker.<br />
Alte Funksprüche suchen immer noch ihren Empfänger in dieser Pissrinne, die sich<br />
anhört wie eine Musique concrète-Disco für Morlocks, von denen auch einige lallend<br />
und gröhlend entlang torkeln. Was macht ihr denn da? Musik? ‚Gleis3eck‘, ein Triptychon<br />
von gut 80 Minuten, entstand <strong>als</strong> Probelauf des ‚The Spinal Column‘-Projektes<br />
für das Festival En la Frontera / n.o.v.a. far in Zaragossa in großer Besetzung mit<br />
Chavez, T.O.W. Richter, Isabelle Chemin & Jean René Lassalle. Selbstgebaute<br />
Streich- und gefundene Percussioninstrumente, Klangskulpturen, Tableguitar, Ventilator,<br />
Pick-ups, Miniverstärker, Feedbackloops etc. etc. wurden traktiert mit einem<br />
Spieltrieb, der längst zum Selbstverständnis <strong>als</strong> Installations- und Performancekünstler<br />
aufgeblüht war, und mit der zeittypischen Bruito- & Art-Brutophilie, wie sie<br />
auch die Einstürzenden Neubauten, P16.D4 oder Kapotte Muziek auslebten, indem<br />
sie Schrott zu Pflugscharen umschmiedeten. Damit wurden vor 20 Jahren Furchen<br />
gezogen, um Drachenzähne anzusäen, aus denen ein neuer Typus hätten sprießen<br />
können, Geniale Dilettanten, Künstler <strong>als</strong> Jedermensch, sentimentale Urbanisten,<br />
Spaßgewitterdandies. Statt dessen...<br />
AXEL DÖRNER sind (Absinth Records, Absinth 010, in 7“-Cover): Die Formel ist immer<br />
die selbe - 1≤n≤22 - die Ergebnisse der 22 Anläufe gehn jedoch gegen unendlich.<br />
Man kann versuchen, aus Kaffeesatz das Schicksal zu deuten oder sich Dörners<br />
Spucke in die Ohren schmieren und Öffne dich! murmeln. es wird immer Leute<br />
geben, die dabei ihre Zukunft erkennen können oder „Ich kann wieder hören!“ rufen.<br />
All music by Axel Dörner Trumpet lauten die spärlichen Angaben. Schon gut, man<br />
muss es nicht Musik nennen, hinter Trompete wird mancher ebenfalls ein dickes ?<br />
setzen und zudem zweifeln, wie das ohne Elektronik gehen soll. ‚Das‘ ist ein spuckiges<br />
Schmurgeln und gepresstes Fauchen in immer wieder von Stille unterbrochenen<br />
Variationen. Was Dörner da am und durch das Mundstück erzeugt, klingt teils<br />
‚Polnisch‘, teils wie walisische Ortsnamen, ein einziges przedmuchiwac, terkotac,<br />
skwierczec, chleptac, wybuchac zloscia und Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch.<br />
Wobei blasen nur meint, dass gepresste Luft Reibegeräusche<br />
macht, Töne ‚sind‘ nicht vorgesehen, zumindest nicht in dem Sinn, dass der<br />
Natürlichkeit der Luftverwirbelungen Gefälligkeit aufgezwungen oder untergeschoben<br />
werden soll. Dörners Experimentenreihe sucht die seltsame Begegnung von<br />
Physis und Physik, von Wasser und Luft am Ground Zero von Mund und Metall. Im<br />
Otomo Yoshihide Quartett konnte man sehen, wie er das macht und dass einige der<br />
undeutbaren Geräusche entstehen, indem er mit Dämpfern am Trichter schabt.<br />
50
EGLE SOMMACAL Legno (Unhip Records, Unhip 012): Dieser<br />
Gitarrist in Bologna, der lange in Massimo Volume gespielt hat,<br />
bevor er ein Gastspiel bei Ulan Bator gab, hat John Fahey für<br />
sich entdeckt. Er bestreitet sein Solodebut mit 8 hochkarätigen<br />
Fingerpickingkreationen auf der Akustischen. Der Fahey-Einfluss<br />
ist allgegenwärtig in dieser Edelfolklore, die einiges an<br />
Virtuosität investiert, um derart klare und doch dichte Blockhauskonstruktionen<br />
aus purem Saitenklang zu fügen. ‚Holz‘<br />
meint hier nicht hölzern, vielmehr natürlich, ehrlich, gewachsen.<br />
Ein blauäugiger Traum von Amerika. Aber schon bei Sergio<br />
Leone hatte der Böse blaue Augen. Dafür war Antonioni mit<br />
seinem terroristischen Zabrieski Point-Finale für Fahey ein<br />
Perverser. Sommacal scheint die Neue Welt noch einmal mit<br />
Auswandereraugen <strong>als</strong> offenen Horizont zu sehen. Greil Marcus<br />
nennt das gesuchte Utopia American Pastoral und zeigt,<br />
wie dahinter schon American Berserk lauert. Sir Richard Bishop<br />
zupft im Vergleich zu Sommacal assyrische Italowesternmusik.<br />
Aber womöglich geht es Sommacal gar nicht<br />
um die Neue Welt und das blaue Gras im Westen. Oh Boy, es ist<br />
einfach nur zauberhafte Gitarrenmusik.<br />
BRIAN ELLIS The Silver Creature (Benbecula Records,<br />
BEN042): Ein Jungtwen aus San Diego debutiert 2007 gleich<br />
doppelt auf dem schottischen Label Benbecula, zuerst mit<br />
Free Way und kein halbes Jahr später mit dieser virtuosen Demonstration,<br />
dass man auch allein Nu Jazz spielen kann, für<br />
den sich ansonsten ein Sextett anstrengen müsste. Ein opulentes<br />
Sextett mit Squarepusher an den Drums, Laswell am Bass<br />
und einer Phalanx an Keyboardern vom Kaliber eines Hancock<br />
oder Taborn, dazu Aphex Twin <strong>als</strong> Mann für ambiente Electronicaflächen.<br />
Titel wie ‚Basement Boogie‘ und ‚Home Cookin‘‘<br />
lassen durchblicken, dass diese Allstarformation nur virtuell in<br />
Ellis Vielspurretorte synthetisiert wurde. Dabei liegt Funkyness<br />
im permanenten Widerstreit mit ätherischen Sounds. Silberrückengitarren<br />
werden durchfiebert von mindestens fünfhändigem<br />
Frickeldrumming, Keyboards tupfen versonnen in der linken<br />
Box, quellen dröhnend aus der rechten. ‚Flute Salad‘ quillt<br />
über vor Flötengetriller in exotischen Klangfarben. Verfremdete<br />
Bläserstimmen, synthetische Gitarren <strong>als</strong> Geisterfahrer, ein<br />
Saxophon, sogar eine Pipa werden von Ellis verquirlt. Carl<br />
Craigs Innerzone Orchestra ist der Blueprint, seine Ambition,<br />
Schönheit und Technik miteinander in Einklang zu bringen,<br />
scheint auch Ellis anzutreiben. Die durchwegs übereifrigen<br />
Beats zeugen dabei freilich von einem Schönheitsgefühl, das<br />
auf einer schnelleren Zeitspur dahin rast <strong>als</strong> meine.<br />
FAGO SEPIA l'âme sûre ruse mal (Aposiopèse Rec. / Bolton<br />
Wonderland Rec.): Ein Quartett aus Rennes, bestehend aus<br />
(und bestückt mit) pit (huge strings), jams & gis (little strings) &<br />
jerome (wood and skin) aka bass, guitar, guitar & drum. Instrumentaler<br />
Postrockminimalismus, mit einiger Sophistication<br />
konstruiert. Amor Belhom und mehr noch Jean Michel Pires<br />
Projekt Headphone können einem dabei in den Sinn kommen,<br />
hierzulande bietet sich vielleicht die ähnlich mathematisch<br />
fundierte Ästhetik von Ilse Lau <strong>als</strong> Vergleich an. Die transparente<br />
und dennoch indierockig dynamische Verzahnung der<br />
Gitarren, das animierte Midtempo mit sogar Handclapping-<br />
Rhythmik bei ‚trois‘, immer wieder melodiöse Doppelläufe von<br />
einnehmender Eleganz auf dem schmalen Grat zwischen kuschelig<br />
und cool, damit sammeln die Jungs aus Rennes Sympathiepunkte.<br />
Ob das ausreicht <strong>als</strong> Minimum Programme of Humanity,<br />
ist allerdings fraglich.<br />
51
FORMICATION Icons for a New Religion (Lumberton Trading Company,<br />
LUMB007): So mancher hat schon versucht, sich durch Spöttelei<br />
über den Namen - von wegen Sex mit Ameisen - erhaben zu dünken<br />
und wurde doch mitgesaugt auf die Rite de passage, auf die Alec<br />
Bowman & Kingsley Ravenscroft mit ihrer Sonic Fiction aufbrechen.<br />
Aber bestehen noch Zweifel daran, dass alle ausgesandten Spaceexplorer<br />
immer wieder nur den Weltinnenraum ausloten und die Abgründe,<br />
in denen man die menschlichen Daimones vermutet? Die<br />
Odyssee-im-Weltinnenraum-Psychedelic von Formication durchquert<br />
‚Dead Underground‘ und ‚The Void‘, um vorzudringen ‚In the Kingdom<br />
of the Electronic Eye‘ und in die ‚Faces of Fire‘ zu blicken. Was sich<br />
immer <strong>als</strong> ‚Introspection‘ gestaltet. Als Antrieb für ihre Ultrasound-<br />
Maschine benutzen Bowman & Ravenscroft (ein Name, in dem Namensvettern<br />
wie der musickalische Thomas und der Spear of Destiny-Schleuderer<br />
Trevor unwillkürlich mitgeistern) zwar einen Pool an<br />
akustischen Instrumenten, aber nur um die Klänge sonisch so zu alchimieren<br />
und zu rhythmisieren, dass 11 Phasen oder Etappen eines<br />
space-technoiden Läuterungstrips erklingen, der in einem sakralen<br />
Singsang mit Steve Reich-Puls gipfelt und mich fragen lässt, was eigentlich<br />
aus Cold Meat Industry geworden ist? Aus den Stirb & Werde-<br />
Ambitionen von Brighter Death Now, In Slaughter Natives oder Raison<br />
d‘être? With the new knowledge society was reborn; new culture, new<br />
architecture, new sience; a gleaming civilization enveloped the world<br />
and shone back through the stars. Scherz beiseite, wird Formication<br />
demnächst bei Ant-Zen andocken?<br />
FUNCTION The Secret Miracle Fountain (Locust Music, locust76): Du<br />
im Voraus verlorne Geliebte, Nimmergekommene, nicht weiß ich, welche<br />
Töne dir lieb sind. Indem er diese Rilke-Zeilen säuselt, übersetzt<br />
<strong>als</strong> „Beloved, lost to begin with“, entführt Matthew Liam Nicholson auf<br />
ein musikalisches Abenteuer, das ihn selber vier Jahre lang beschäftigte.<br />
Dabei reiste er um die Welt und brachte Aufnahmen mit zurück<br />
nach Melbourne von den Fidschi-Inseln, dem Sinai, aus Kyoto, Hawaii,<br />
Oxfordshire, Venedig, Holland und den USA. Mehr <strong>als</strong> ein Dutzend Musiker<br />
konnte er <strong>als</strong> Helfer gewinnen oder durfte er sampeln (Stuart<br />
Dempster, Robert Dick, Lakshmi Shankar) für einen Trip von über 72<br />
Minuten. Einsprengsel von Feuerknistern, Brandungsgeplätscher, Vögeln<br />
oder Gewitter, Cellos hier, Posaunen da, nette Effekte wie ein<br />
gestrichenes Banjo, Waldhorn, Flöten und allerhand Processing trugen<br />
Nicholsons psychedelischem Geschwurbel erstaunte Aahs und<br />
Oohs ein. Und ich steh wieder mal da und versteh den Rummel nicht.<br />
Vielleicht sind es die ‚anspruchsvollen‘ Titel wie ‚prayer in tonal<br />
forest‘, ‚mad light obviating things‘ oder ‚new music for bowed anim<strong>als</strong>‘<br />
(das <strong>als</strong> Stalling‘scher Looney Tune beginnt und sich dann mit<br />
Sand im Getriebe Richtung Nirvana loopt)? Dem Anspruch gerecht<br />
werden sicher nicht die Rockstücke und der Lalala-Pop, mit denen<br />
Function immer wieder von der Spinner- auf die Innenbahn einbiegt,<br />
sondern so Durchgeknalltes, dabei in seinem Vielspuroverkill nicht<br />
Unkomisches wie ‚unshaken (positively implacable)‘, ein Sursum Corda<br />
in den Brian Wilson-Himmel mit Posaunen, Rückwärtsgitarren und<br />
Kindergebrabbel, wie das hymnisch-delirante ‚hanalei (alone with the<br />
real magig dragon)‘ oder der Große Bombay-Schwindel ‚the broken<br />
shaman‘. Nicholson nennt sein Gesinge mal ‚f<strong>als</strong>etto dimentia choir‘,<br />
was meiner Hoffnung auf die Freiwilligkeit seines Humors Auftrieb<br />
gibt. Aber Sätze wie Have you noticed this place is on fire / what‘s<br />
your conclusion, how are you going to fly? und I must care for freedom<br />
/ in this freaksome hullabaloo hätten etwas Besseres verdient<br />
<strong>als</strong> Gutmenschengeschrammel. Und ist ‚thunder‘s freshwater tears‘<br />
nicht bloß eine Lo-Fi-Version von CSN & Y? Hm, ich kann es letztlich<br />
nicht besser formulieren <strong>als</strong> das Pitchfork-Review: The Secret Miracle<br />
Fountain is very far from a perfect record; still, despite its<br />
length and meandering nature, it's rarely dull.<br />
52
GENARO Genaro (Benbecula Records,<br />
BEN038): Craig Snape hat manchmal etwas<br />
Helles und Klares in seiner Stimme,<br />
das mich an den jungen Peter Thiessen erinnert.<br />
Zusammen mit drei Freunden<br />
macht er in Carluke bei Glasgow allerdings<br />
erzbritisch eingefärbten Gitarrenpop, mit<br />
Wall of Sound-Sound, der durch fein geschwungene<br />
Synthesizergraffitis eine eigene<br />
Note bekommt. ‚Breakout‘ steht prototypisch<br />
für Genaros optimistische Ausstrahlung,<br />
ihren animierenden New Pop-<br />
Tenor, der auch in ‚Walk into the Sun‘ den<br />
Du-schaffst-es-Nerv stimuliert. In den ‚Dark<br />
Corners of the Mind‘ lagern zwar Atombomben<br />
und Maschinengewehre und<br />
‚Once in a While‘ bekommt die Fassade<br />
Risse und das Leben kann einen in seiner<br />
‚Forward Motion‘ rechts überholen, aber<br />
Genaro zwingt dark raus und mit hymnischen,<br />
absolut motiviertem Überschwang,<br />
wie ihn nur wahrer Britpop versprühen<br />
kann, all das rein ins Leben, was Du<br />
brauchst, nämlich POP. POP & Du, ‚Friends<br />
to the End‘. Doch selbst Genaro enden mit<br />
‚Throw it Around‘ <strong>als</strong> betrippste Bedenkenträger.<br />
Ja wer soll denn demnächst den<br />
Laden hier schmeißen, wenn alle nur Fussel<br />
aus dem Nabel popeln?<br />
GUILLAMINO Atzavara (Third Ear Recordings,<br />
3ECD-064): Piano und eine zischende<br />
Kaffeemaschine, dazu ein Kontrabass,<br />
eine Jazzband aus der Retorte, lässiges<br />
Whistling und souliger Gesang, nicht<br />
schön, aber naja. Pau Guillamet fädelt seine<br />
Eklektizismen zu einer Modeschmuckkette,<br />
wie man sie Spanientouristen andreht,<br />
unterlegt ‚anestesia‘ mit Triphopbeats<br />
und Vocalloops. Piano und Bass bestimmen<br />
aber vorerst noch den Grundton,<br />
über den immer wieder mal eine spanische<br />
Gitarre schrammelt. Der Gesang bleibt ein<br />
zwiespältiger Bonus, den launige Episoden<br />
wie ‚lupu el lladre‘ mit munterem Synthiebassgehoppel<br />
zwar wett machen, aber<br />
schon hat Guillamet die nächsten Anwandlungen<br />
<strong>als</strong> Soulcrooner, mal ‚alone & in<br />
danger‘, mal in ‚sexy daze‘. Dazwischen<br />
gibt er sich <strong>als</strong> Flamencogockel, schwingt<br />
die Hüften mal zeitlupig, mal uptempo zu<br />
Dubriddims; mit den Blasmusik-Samples<br />
von einer Sardana-Cobla bei ‚el mal moment<br />
a eivissa‘ gelingt ihm nochmal ein<br />
Highlight. 67 Min. sind reichlich lang, auch<br />
wenn Gedudel und Geloope wie ‚castanyada‘<br />
oder ‚broken C‘ von sich aus keinen<br />
Wert darauf legen, aufmerksam gehört zu<br />
werden. Guillamino hat sich eingegroovt<br />
<strong>als</strong> Alleinunterhalter für Gäste, die erwarten,<br />
dass Barcelona sich à la Sonar schminkt<br />
und dazu auf der Hirtenflöte bläst.<br />
JEAN-LOUIS HUHTA Halfway Between The<br />
World And Death (Slottet, SLM5): Laptopnoise<br />
und Stringloops, gespenstisches Rauschen<br />
und minimalistisch repetitives Riffing auf einer<br />
Akustischen. Ist die schwedische Undergroundlegende<br />
zur Folktronic gewechselt, womögliche<br />
sogar zur düster-melancholischen<br />
Neofolkfraktion? Seine anderen Aktivitäten, in<br />
Audio Laboratory, Skull Defekts, Brommage<br />
Dub und dem Discogeisterfahrertrio Ocsid,<br />
machen das wenig wahrscheinlich. Andererseits<br />
deuten ‚Objects are sinister‘ oder<br />
‚Helvete‘ in ein bedrohliches Dunkel, in dem die<br />
Endstation Hölle winkt. Alles nur ein Spiel?<br />
‚Truth is in the sound‘. Und der ist monoton<br />
perkussiv, unheilschwanger, weniger durch<br />
wechselnde Thrills, <strong>als</strong> durch die Mechanik unbeirrbar<br />
dahin rollender Beats. Die Nebelfetzen,<br />
die sie umschleiern, und mondbleiche Orgeldrones<br />
lassen ahnen, dass die Membrane<br />
zwischen dem Nichtsein und der Welt aus<br />
‚furniture to sit on kitchens to cook in cars to<br />
drive‘ fadenscheinig ist. ‚Each day‘ pendelt<br />
müde am Einerleifaden zwischen so oder so.<br />
Die Hölle selbst entpuppt sich <strong>als</strong> geschäftiger<br />
Betrieb. ‚Suddenly there is a change‘ deutet einen<br />
Wechsel an, <strong>als</strong> E-Gitarrenakkord. Liegt<br />
darin die Wahrheit? Oder hingetröpfelt unter<br />
Stühlen und Autorädern? Den Dingen ist nicht<br />
zu trauen und ‚Memories‘ noch weniger.<br />
‚Straight to you‘ tupft in Zeitlupe verzerrte Keyboardnoten,<br />
die Gitarre klampft geduldig Begleitschutz,<br />
der teuflische Betrieb rollt sich zusammen<br />
und schnurrt. In den Nachhall von<br />
Beats mischt sich sirrend eine Mundharmonika<br />
- Schnitt. Beinahestille, Stille. Der Klang taucht<br />
weg, die Wahrheit verbirgt sich. Und taucht<br />
wieder auf, <strong>als</strong> Maschinenbeat mit Pokerface,<br />
durchpulst vom immer gleichen Orgelcluster.<br />
Am Ende bleibt nur ein Keuchen, wie durch<br />
eine Gasmaske. Jelp.<br />
53
A.J. HOLMES The King Of The New Electric Hi-<br />
Life (Pingipung, Pingipung 12): Alexander John<br />
Holmes ist ein Tausendsassa, <strong>als</strong> Mitbegründer<br />
von They came from the stars I saw them, mit der<br />
Rumba-Truppe Les Beaux Gosses de Berlin, <strong>als</strong><br />
Vanishing Breed oder DJ Eskimo Tears. Und <strong>als</strong><br />
Kreuzberger Starsongwriter mit Popappeal, der<br />
hier seine Wahlheimat Berlin mit dem Sound von<br />
Accra und Lagos kurzschließt, den highlife-typischen<br />
Jinglegitarren und dem Rumbapuls eines<br />
S.E. Rogie, E.T. Mensah und Emile Ogoo. Das<br />
‚Intro: The Story of the New Electric Hi-Life‘<br />
spannt ein Netz von der Westcoast bis zum Eastend,<br />
von Kuba über Paris und Johannesburg und<br />
verbindet englische und deutsche Städte, sogar<br />
Würzburg mit seinem International Afro Roots<br />
Festival, mit Freetown, der Hauptstadt des bürgerkriegsgeschundenen<br />
Sierra Leone. Holmes<br />
lernte Highlife kennen durch den nach London<br />
emigrierten Folo Graff. Bei der Umsetzung der<br />
euphorisierenden Klänge konnte er sich wieder<br />
auf Dan Hayhurst aka Sculpture verlassen, dazu<br />
auf Anne Laplantine und ein weiteres halbes Dutzend<br />
Freunde <strong>als</strong> Sänger und Bläser, Zither- und<br />
Congaspieler. Dabei bleibt der überwiegend per<br />
Computer, Programming und Mixing kreierte, um<br />
nicht zu sagen gefakete Klang immer durchsichtig,<br />
um in erster Linie Holmes Songwriter-Sophistication<br />
und sein Storytelling zu befördern, die<br />
unter der elektropoppigen, oft euphorischen<br />
Oberfläche mit Paradoxien jonglieren. ‚Home‘,<br />
‚For Export Only‘ und ‚Still nothing to declare...‘<br />
singen von Emigration, Heimatlosigkeit, Exploitation.<br />
Der meiste Afropop ist derart doppelbödig,<br />
nur dass wir die Texte nicht verstehen oder ignorieren.<br />
So entging einem, wenn man heuer auf<br />
der 19. Ausgabe des Würzbuger Africa Festiv<strong>als</strong><br />
den Maloya-Folk des eigenwilligen Griot Grrrls<br />
Nathalie Natiembé bestaunte, was sie da in La<br />
Réunion-Kreol sang. So unterschätzt man die<br />
Electric Griot-Radikalität von Ba Cissoko aus<br />
Conakry, die verstärkte Koras <strong>als</strong> Schweinerockgitarren<br />
aufjaulen lassen, <strong>als</strong> bloße Headbanger.<br />
Die London-zimbabwische Chimurenga-Lady Netsayi<br />
gibt sich dafür ganz demonstrativ <strong>als</strong> Teil der<br />
Schwesternschaft von Nina Simone, Meshell Ndegeocello,<br />
Mariza, <strong>als</strong> urbane und selbstbewusste<br />
Songwriterin, die ernsthaft und verständlich Bürgerkrieg,<br />
Migration, dirty laundry, Love & Money<br />
thematisiert und sich auch nicht für Tanzgrooves<br />
zuständig hält, wenn sie auf Shona singt. Holmes<br />
achtet umgekehrt darauf, nicht in die Exploitationfalle<br />
zu gehen. Sein Afropop, der klingt wie „a<br />
Europeans idea of African music, something like<br />
Van Dyke Parks 'Discover America' but with<br />
Highlife instead Calypso“, hat Gänsefüßchen, mit<br />
denen sich‘s zwar bestens tanzen lässt. Aber das<br />
evozierte Worldmusic-Paradies somewhere over<br />
the rainbow versucht nicht zu kaschieren, dass<br />
es eine Fototapete oder eine Fantasy von Rousseau<br />
ist. Die Sehnsucht ist paradiesisch, die Zustände<br />
nicht.<br />
54<br />
KATAMINE Lag (Tinstar Creative Pool):<br />
Katamine ist im wesentlichen ein Lofi-<br />
Projekt des Singer-Songwriters Assaf<br />
Tager. Im Geräuschnebel, der ihn und<br />
seine akustische Gitarre dabei einhüllt,<br />
deutet lange nichts auf die Präsenz von<br />
Freunden wie Haggai Fershtman und<br />
Uri Frost hin, deren Drums und Gitarre<br />
nur selten hörbar werden, sondern nur<br />
das Rauschen, das Katamine zur ‚quiet<br />
noise band‘ macht. ‚Winchester Gun‘<br />
singt Tager im Duett mit Sharon Kantor.<br />
Sein angeraut nuscheliges Timbre passt<br />
perfekt für seine melancholisch-introspektive<br />
Folklore, für Zeilen wie: „Only<br />
blood in your pen, blood on the forskin /<br />
Tags on their bones, the rest is what<br />
your going to live with“ (How quiet<br />
should I be) oder wenn er im gespenstischen<br />
‚Pulse Song‘ „A dead man loves<br />
to sing“ murmelt. Noch schauriger wird<br />
es bei ‚Creep in the Cellar‘ und allmählich<br />
wird einem klar, warum Tager Michael<br />
Gira, Jarboe und Nico, Kafka und<br />
Dostojewsky verehrt. Beim morbiden<br />
Blues ‚Where the Ambulance rolls‘, bei<br />
dem eine Hochschwangere überfahren<br />
wird, mischen Gitarre und Cymb<strong>als</strong><br />
‚wine and fire‘. Dass Tager zusammen<br />
mit Fershtman & Zoe Polanski <strong>als</strong> Ex-<br />
Lion Tamer seinem Faible für Joy Division<br />
und Sonic Youth in Tel Aviv frönt,<br />
bestätigt zwar die Vermutung, die sein<br />
Name weckt. Aber es bestätigt auch die<br />
irritierende Tatsache, dass American<br />
Blues und Folk perfekt <strong>als</strong> ‚Lingua franca‘<br />
für den Tauschhandel von Gefühlen<br />
taugt.
KTL 2 (Editions Mego, eMEGO 085): KTL steht für Kindertotenlieder,<br />
ein Tanz/Theater/Stück von Gisele Vienne &<br />
Dennis Cooper, zu dem Stephen O‘Malley (SunnO))),<br />
Æthenor) & Peter Rehberg (Pita, Fenn O‘Berg) die Musik<br />
schufen. Weder Teil 1 (eMEGO 084, 2006) noch diese<br />
Fortsetzung sind allerdings identisch mit dem Soundtrack,<br />
sondern je eigenständige Sound- oder Dreamscapes.<br />
Wenn man unter Sound etwas Dramatisches versteht<br />
und Traum <strong>als</strong> Tauchfahrt auffasst in überwirkliche<br />
und unterweltliche Zonen. Ein Update von Mahler mit<br />
‚strings, fx, amps, digital osc, apps & drives‘? Um der<br />
Großartigkeit von ‚Theme‘, einer Himmel- & Höllenfahrt<br />
von 27 Minuten, oder den 21 Minuten von ‚Abattoir‘ in der<br />
Musikgeschichte Vergleichbares an die Seite zu stellen,<br />
könnte man sie tatsächlich auf die großorchestralen Prototypen<br />
von Bruckner und Mahler zurückführen. Nur dass<br />
KTL auch alle donnergöttlichen Dröhnwellen und Noisefrequenzen<br />
der Zwischenzeit mit dazu komprimierten!<br />
Die Kompression staucht sämtliche Beats zu einem einzigen<br />
Rauschen, zu einer frenetischen Raserei der Klangmoleküle.<br />
Dunkel brausende und noch finsterer grollende,<br />
stehende, schwellende, leicht schwankende Klangstrahlenbündel<br />
drehen ud drehen und drehen sich in einem<br />
Hochofen, der beheizt wird mit Carcass, Earth, Fear<br />
Falls Burning, Furudate, Nadja, Organ Eye und dergleichen.<br />
Schwarze Wolken werden so sehr gepeitscht oder<br />
erhitzt, dass sie die Schwerkraft überwinden. Vorher hatte<br />
sich ‚Game‘ leise dröhnend und wummernd in die Gehörgänge<br />
gegraben. Und abschließend flattert, sirrt,<br />
dröhnt und twangt ‚Snow 2‘ fast schon wieder irdisch, wie<br />
Desertrock mit Monument Valley- und Morriconepathos.<br />
Mir ist selbst das noch dramatisch genug.<br />
LES KLEBS Les Klebs (Ouie/Dire Production, in DIN A 5-<br />
Plastikbriefumschlag mit Comic): Wer Gesellschaft vermisst,<br />
sollte Seinesgleichen etwas bieten - Hunde lieben<br />
Knochen. Diese lehrreiche Geschichte ohne Worte stammt<br />
von Blex Bolex und landete <strong>als</strong> Phonographic Envelope in<br />
meinem Briefkasten. Den Phonopart lieferte der Klarinettist<br />
Xavier Charles zusammen mit David Chiesa am Kontrabass,<br />
wobei sie von Marc Pichelin mit elektronischen Modulationen,<br />
Jean-Léon Pallandre mit phongrafischen Projektionen<br />
und Laurent Sassi per Live Mixing & Processing<br />
in eine schizophone Szenerie integriert werden. Es erklingt<br />
eine elektroakustische, bruitistische Serenade im Grünen.<br />
Ein Symbiose von improvisierten Instrumentalklängen und<br />
elektronischem Noise, die sich mitten und quasi <strong>als</strong> Teil einer<br />
Illusion von Natur präsentiert. Ringsum zwitschern Vögel,<br />
summen Insekten, plätschert Wasser, quaken Frösche,<br />
rauscht das Meer. Das Schnarren und Kirren der Klarinette,<br />
vom Kontrabass umknarrt, umzirpt und umplonkt, und<br />
das elektronische Sirren, Stechen und Glitchen mischen<br />
sich ‚Ton in Ton‘. Dazwischen Muezzin- und Schäferrufe,<br />
Fahrzeuge brummen vorbei. Nach einer halben Stunde eskaliert<br />
diese plastische Geräuschwelt in einem kakophonen<br />
Rausch, in schrillen Turbulenzen. Dann ein stummes<br />
Loch, eine Spieluhrmelodie und Kuckucksuhrrufe, ein gellender<br />
Pfiff, eine zweite Lärmspitze mit Charles <strong>als</strong> Evan<br />
Parker unter elektronischem Beschuss, aber auch selbst<br />
<strong>als</strong> aggressiver Schädelbohrer. Jetzt Pianissimo, Rascheln<br />
im Wald und ganz leise verschmilzt Les Klebs mit dem Hintergrund.<br />
Ein starkes Stück.<br />
<strong>55</strong>
D e r P r o v o k a t e u r u n d d i e D a m e<br />
KOMMISSAR HJULER UND FRAU live in der Hörbar, Hamburg, 29.06.2007<br />
* Jeden letzten Freitag im Monat veranstaltet der Hörbar e.V. im Kino B-Movie auf St.<br />
Pauli Konzerte mit elektroakustischer improvisierter Musik. Dass dort auch Kommissar Hjuler<br />
und Frau auftauchen würde, habe ich durch Umwege erfahren – nämlich bei meiner Internet-Recherche<br />
zum Stichwort Dieter Roth. Ausgerechnet bei einem bekannten Internetauktionshaus<br />
stieß ich in diesem Zusammenhang auf unseren alten Bekannten, der in einer<br />
Artikelbeschreibung zu einem seiner Elaborate auf diesen Termin und ein etwaiges Anti-Konzert<br />
hinwies. Wenn das kein Grund ist, endlich mal in der Hörbar vorbeizuschauen!<br />
Auf der ansonsten leeren Bühne war nur ein Stuhl mit einem riesigen Teddybären, ein<br />
Verstärker und eine von der Decke herab hängende Polizeiuniform zu sehen. Irgendwann<br />
wurde Musik (so nenne ich das einfach mal) abgespielt. Monotoner Rhythmus, Frauenstimme,<br />
Geschrei, Freddy Teardrop, wieder mal eine Cover-Version, diesmal muss Suicide dran<br />
glauben (fast hätte ich Teddy statt Freddy geschrieben…). Das geduldige Publikum lauscht<br />
und wartet ab, ob da auf der Bühne noch mal was passieren wird. Nach geraumer Zeit erhebt<br />
ein Herr im Publikum seine Stimme und beginnt zu meckern – wie lange soll das denn<br />
noch so gehen? – passiert da noch was? – vorspulen! – das kann ich auch! Besagter Provokateur<br />
geht nach vorne, reißt die Uniform von der Decke und bringt die Leute am Mischpult<br />
dazu, ihm eine monotone Basstrommel einzuspielen, betritt die Bühne und beginnt mit zwei<br />
kleinen Schellenkränzen und Stimme in diesen primitiven Rhythmus einzusteigen – um zu<br />
beweisen dass er das halt auch kann; sich dabei aber auch irgendwie zum Affen macht.<br />
Kurz darauf betritt eine junge Dame die Bühne, setzt sich auf den vorher vom Teddybären<br />
belegten Platz und beginnt mit schriller Stimme zu singen. Natürlich war der Provokateur<br />
Kommissar Hjuler höchstpersönlich, die Dame seine Ehefrau Mama Bär und die Überraschungs-Aktion<br />
mit den mitspielenden Veranstaltern abgesprochen. Sonst hätte vielleicht<br />
noch jemand die Polizei gerufen. Das Publikum hat den Braten frühzeitig gerochen und<br />
machte eher einen amüsierten <strong>als</strong> einen irritierten Eindruck. Endlich mal Humor und echte<br />
Unterhaltung! Nicht immer nur Lauschen, Lauschen, weißes Rauschen. Haben wir Hjuler<br />
die ganze Zeit verkannt? Ist er so etwas wie ein verkappter Helge Schneider der Noise-Kultur?<br />
Nein, so weit kann man nun wirklich nicht gehen! Mama Bär und Kommissar Hjuler sehen<br />
sich <strong>als</strong> ernstzunehmende bildende Künstler im Bereich Malerei bzw. Skulptur, wie<br />
Papa Bär nach der Performance dem Publikum erläuterte, nicht ohne noch zu erzählen,<br />
dass er mittlerweile auch Leute wie Thurston Moore zu seinen Fans zählen kann.<br />
Bei den beiden darauf folgenden Projekten ging es leider weniger amüsant und wesentlich<br />
introvertierter zu.<br />
GZ<br />
56
* Mit Korn (unretected) (SHMF-Korn, CD-R, 51 Expl.) knüpfen KOMMIS-<br />
SAR HJULER UND FRAU an den – natürlich nur vage – song-orientierten<br />
Teil ihrer letzten CD-R Das 77-Retect an. Auch hier werden altbekannte Lieder<br />
neu interpretiert – diesmal dienen fünf Songs von Korn <strong>als</strong> Material. Zugegebenerweise<br />
kenne ich von dieser Gruppe nur das Logo mit dem spiegelverkehrten<br />
„R“. So fällt mir der direkte Vergleich natürlich etwas schwer,<br />
ist aber gar nicht notwendig, Hjuler und Frau sind eh weit genug entfernt<br />
vom Originalklang. Gleich die erste Cover-Version versprüht den spröden<br />
Charme dilettantischer Spielfreude auf perkussivem Orff-Instrumentarium<br />
(ob da schon der Nachwuchs mitwirkt?), angereichert mit Flöten- und Gitarrentönen<br />
und der immer klarer klingenden Stimme von Mama Bär. In den<br />
weiteren Interpretationen ist Frau gleich mehrspurig zu hören. Und irgendwie<br />
fühle ich mich durch ihre Stimme in die frühen 1980er Jahre zurück versetzt,<br />
<strong>als</strong> die Raincoats, Slits oder Siouxie auch noch nicht so perfekt waren.<br />
Musikalisch ist das hier dennoch eine ganz andere Welt. GZ<br />
Mit Grundordnung-Unterschrank-Scooter (SHMF-fdGO, CD-R) liefert<br />
KOMMISSAR HJULER, dem es an Selbstbewusstsein wahrlich nicht fehlt,<br />
<strong>als</strong> Alternative zum klischeehaften Film GG 19 seine „natürlich gelungenere<br />
Umsetzung der Grundordnung <strong>als</strong> Autoscooter mit Schrank auf Rädern.“<br />
Logisch, dass er dabei 19 Runden drehte und 19 Exemplare presste. Er<br />
schreit etwas wie FDGO, Dreiteilung der Gewalt, Hl. Drei Könige, Dreifaltigkeit,<br />
Datenschutz, Deutschland, deine Führer sind alt geworden, der Staat,<br />
übertönt sich aber selbst durch Rollen, Bohren, Scheppern. Ich kann nicht<br />
widersprechen, konsequenter kann man sein Widerstandsrecht (Art.20 GG)<br />
kaum wahrnehmen.<br />
Mit den 11:11 von Endo-/Exocytose (SHMF-136, CD-R) startet der KOM-<br />
MISSAR HJULER dann eine Expedition in die Grundstruktur des Lebens in<br />
Form eine Lektion über Zellen. Dabei lernt man, wobei sich Prof. Hjuler von<br />
Oingoboingo-, Freibier- und Hey Baby-Störversuchen nicht aus der Ruhe<br />
bringen lässt, u. a., dass man unter Zytose die Bildung von membranumschlossenen<br />
Vesikeln (Zellkompartimenten) versteht, die sich unter Verbrauch<br />
des Nucleotids Adenosintriphosphat (ATP) von der Plasmamembran,<br />
aber auch von den Membranen der Zellorganellen abschnüren. Durch spezifische<br />
Zytose werden v.a. Makromoleküle (Proteine, Polynukleotide und Polysaccharide)<br />
in die Zelle aufgenommen (Endozytose) oder aus dieser exportiert<br />
(Exozytose). Berauscht sich der Laie hier an der unbeabsichtigten Surrealität<br />
eines Fachjargons? An einer Phantastischen Reise durch Endosomen,<br />
Lyosomen und den Golgi-Apparat? Über das Innenleben eines ‚Bullen‘<br />
wollen wir erst gar nicht spekulieren.<br />
Polizei ist das, was ich daraus mache, sagt der Kommissar zwischen<br />
den Stühlen. Die seltsame Begegnung eines Simplicissimus teutsch mit Brotkatzen<br />
während einer Beamtenlaufbahn. Schizophone Brandstiftung und<br />
Presswurst-Halluzination<strong>als</strong>ozialismus <strong>als</strong> Spätblüte des Absurden in einer<br />
Flensburger Reihenhaussiedlung. Der komische, bei näherer Betrachtung<br />
aber broternste Kommissar und seine Frau Mama Bär, die ihre Kinder Cy<br />
und Faust Adolf tauften, sind seit 2006 akzeptiert <strong>als</strong> outsider-artistische<br />
Mikroorganismen, von Testcard und dem KunstZwerg Festival in Mainz ebenso<br />
wie von Womensradio in Oakland, YouDontHaveToCallItMusic und Extrapool,<br />
der Gallery Heart Fine Art in Edinburgh und dem Museum Huelsmann in<br />
Bielefeld. Dadurch bestärkt, wagten sich die Hjulers immer ungenierter an<br />
immer heißere Eisen: 4-Elemente-Zionismus, Brotkatze Sohn Israels, Votze<br />
Koch Buch, Homoerotisk Sanger 1: Kackfleck/Kotsuchtsanfall, Gaylord Kennart<br />
Loch, Keks-Streife durch Pornografie. Israel, Schwule, die Würde der<br />
Frau in den Katzenkot gezogen? Aber empfindlich reagieren, wenn ‚linke‘<br />
Labelmacher über einen Cop, und Avant-Snobs über einen in Kunst dilettierenden<br />
Beamten die Nasen rümpfen? Indem das Asylum-Lunaticum-Paar an<br />
die Körpersaft- & Scheiß-‘Ferkeleien‘ der Wiener Aktionisten, an Dieter Roths<br />
Wurst- & Schimmel-Ästhetik und Schmuddelkind-Art Brut anknüpfen, zeigen<br />
sie sich bildungsbürgerlich versiert. Das ist nicht wirklich ein Manko, ach woher<br />
denn, vielmehr etwas, aus dem man was machen kann.<br />
PS: Am Tag nach dem Hörbar-Konzert feierte Kommissar Hjuler seinen<br />
40. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!<br />
57
AARON MARTIN & MACHINEFABRIEK Cello Recycling<br />
/ Cello Drowning (Type Records, Type029): Martin ist ein<br />
Multiinstrumentalist, vor allem aber Cellist, Mitte zwanzig<br />
und zuhause in Topeka, Kansas. Der scheinbare Standortnachteil<br />
hat ihn nicht gehindert, auf dem australischen Label<br />
Preservation sein Solodebut Almond herauszubringen.<br />
Ebensowenig wie er eine Rolle spielte bei der Kollaboration<br />
mit Rutger Zuydervelt, einem Elektroniker aus Arnheim,<br />
der <strong>als</strong> Machinefabriek bereits drei Dutzend Mini-CDrs bespielt<br />
hat. Zusammen erschufen sie zwei dröhnminimalistische<br />
Soundscapes, die Martins Cellosound einbetten in<br />
eine trockene und eine feuchte Klanglandschaft. In beiden<br />
Fällen mutiert das Cello zu einem mal knisternden, mal<br />
tröpfelnden Klangbeben. Der ‚Recycling‘-Track durchsetzt<br />
den sich wie ein Regenbogen wölbenden, wummernden<br />
Om-Ton mit platzenden Detonationen und übermalt ihn<br />
noch einmal mit Strichen, die ihren Ursprung <strong>als</strong> Saitenvibration<br />
zumindest noch ahnen lassen. Ich scheue mich,<br />
dazu ‚ambient‘ zu sagen. In dieser Welt aus singenden<br />
Monolithen könnte man nicht leben, sondern nur staunend<br />
den Atem anhalten und die Wände eines Monument Valley<br />
of Sound anstaunen, so hoch getürmt, dass sie den Blicken<br />
entschwinden. ‚Drowning‘ lässt einen dann im Regen stehen,<br />
Zuydervelt breitet darüber einen metallischen Schimmer,<br />
darunter einen summenden Teppich. Das Tröpfeln<br />
wird zum Plätschern und Rieseln, auch der Summton<br />
schwillt an zu einem ‚Läuten‘ von Unterwasserglocken.<br />
Wohl dem, der eine Arche hat.<br />
CLEMENS MERKEL Michael Oesterle: l‘hiver monastique<br />
(collection cq, CQB 703): 2005 hatte sich schon Philip Gröning<br />
mit seinem Dokumentarfilm Die große Stille, den er in<br />
der Großen Kartause bei Grenoble drehen konnte, in eine<br />
klösterliche Welt versenkt, die völlig durch Kontemplation<br />
und Stille bestimmt wird. Der 1968 in Ulm geborene, 1982<br />
nach Kanada ausgewanderte Komponist Oesterle hat<br />
ebenfalls, schon im Jahr 2000, mit l‘hiver monastique - 70<br />
consolations harmoniques pour violon ein Werk geschaffen,<br />
das ganz einer strengen mönchischen Ordnung unterliegt.<br />
Die Geige betet einen Rosenkranz aus 70 Akkorden.<br />
Repetitionen und Veränderungen fügen sich zu einer<br />
durchgehenden Kette, weil jeder Akkord mindestens eine,<br />
oft auch zwei Noten an den nachfolgenden weitergibt. Interpret<br />
ist der Freiburger Clemens Merkel, der seit seiner<br />
Übersiedlung nach Kanada im Quatuor Bozzini spielt. Die<br />
Aufnahme entstand 2001 in der Hôtellerie St. Norbert in<br />
Winnipeg, 1892 von Trappisten erbaut, inzwischen aber<br />
nur noch Kulturdenkmal. Schon die ersten Töne, so dissonant<br />
gemischt, dass sie so rau kratzen wie man sich<br />
Mönchskutten vorstellen mag, verbreiten eine Aura des<br />
Kargen, Fröstelnden, Monotonen, aber auch eine hartnäckige<br />
Konsequenz und Hingabe. Ihre Unschärfe lässt diese<br />
New Simplicity wie Alte Musik klingen, mittelalterlich, ländlich.<br />
Cages Chor<strong>als</strong> haben einen ähnlichen Duktus, nur<br />
dass Oesterle einen minimalistischen, geradezu Feldman‘esk<br />
langen Atem für Wiederholungen mit ständigen<br />
Verschiebungen verlangt, bei gleichzeitig meist hohem<br />
Tempo. Call & Response-Motive tauchen auf, eine dünne,<br />
klägliche Stimme, der eine dunkle, bestimmtere antwortet.<br />
Oder umgekehrt? Die 70 ‚Tröstungen‘ erstrecken sich über<br />
75 Minuten. Mir vermitteln sie keinen Trost, eher die Mahnung:<br />
Tempus fugit.<br />
58
MIKHAIL Orphica (Quatermass, QS172): Für Typen mit der<br />
Courage, auf dem schmalen Grat zwischen dem Erhabenen<br />
und Lächerlichen zu balancieren, habe ich ein Schwäche. Mikhail<br />
Karikis, dem auf dem Cover Orpheus‘ Leier wie ein Hirschgeweih<br />
aus der Stirn wuchert, ist in Thessaloniki aufgewachsen<br />
und hat, seit längerem in England ansässig, 2005 dort an<br />
der Slade School of Fine Art (UCL) über die Thesis ‘The Acoustics<br />
of the Self’ promoviert. Der Verehrer von Luciano Berio<br />
und Björk beginnt seinen Aufstieg ins Pathos mit dramatischer<br />
Vokalisation und ebenso dramatischer Samplingorchestrierung.<br />
„I use computers, acoustic instruments, environmental<br />
sounds and voice, combining the sounds of harps with scissors<br />
and knives, insects with harpsichords and tympani, voice with<br />
inner-body sounds and scratched cds.“ Auf den Weg zum Gipfel<br />
tritt er, schwankend zwischen Xiu Xiu- und Scott Walker-<br />
Ambitionen und seinem Björk-Fimmel, ungeniert allerhand<br />
Bockküttel breit. Nichts ist hier nicht manieristisch, von knurrigen<br />
oder glossolalen Gesangsfetzen voller Shouts und Ziegengemecker<br />
bis zur bizarr gesampleten Musik, mit Streichern,<br />
Bläsern, undefinierbaren perkussiven oder elektronischen Effekten<br />
und, Gipfel des Präziös-Prätentiösen, Cembalo- oder<br />
Harfengeplinke aus einem mythischen Labor. Ich schaudere<br />
und bin doch fasziniert. Mikhails Orpheus Redivivus stammelt<br />
mit inspiriertem, hingerissenem Überschwang ohne Worte<br />
oder flötet Zeilen, die einen umflattern wie die Fledermäuse<br />
aus den Höhlen des Olymp: „In my confusion of stars / i summon<br />
constellations / you’re quivering / please don’t / don’t /<br />
with a sword in one hand / and a jasmine-scented night in the<br />
other / i gather saints for you“ (‚Archon‘) und „Rave in me /<br />
Maenads / rave in me / Maenads / i abandon / entrancing scent<br />
/ entrancing scent / i abandon me“ (‚Maenads‘). Als Argonaut<br />
eines imaginären Hellas berauscht sich Mikhail an goldneren<br />
Düften <strong>als</strong> ein Widderfell sie verströmt, sein dithyrambischer<br />
‚Love Song‘ ist ein einziges becirctes Grunzen und Rüsseln<br />
nach Paradieses-Luft. Grotesk und irritierend wie Nietzsches<br />
‚Kühe der Höhe‘ und ‚Basilisken-Eier‘, aber die sinnliche Demonstration,<br />
dass ein Europäer doch anders kann.<br />
JÜRGEN MORGENSTERN Ukulele Sketchbook (NurNichtNur,<br />
BERSLTON 105 0514): Von Beins war schon und von Renkel<br />
ist anschließend die Rede. Der Kontrabassist Morgenstern, ihr<br />
Partner beim Beitrag zur <strong>BA</strong> XVIII-Kassette, kreuzt nun ebenfalls<br />
erneut meine Wege, wie zwischenzeitlich schon mal mit<br />
dem Ensemble Sondarc. Ansonsten kann man in Trios mit<br />
Klapper & Ulher oder Hubweber & Lytton auf die Bassarbeit<br />
des Hannoveraners stoßen. Hier knurpst er an einer Ukulele<br />
herum wie ein Hund, der seinen Knochen exzessiv abnagt. Das<br />
Instrument, in Hawaii ‚Hüpfender Floh‘ getauft, mit dem Tiny<br />
Tim auf Zehenspitzen durch Tulpen trippelte und das Marilyn<br />
Monroe an ihren Sugar-Busen drückte, bevor Stefan Raab darauf<br />
seine Raabigramme intonierte, das beharkt und bekrabbelt<br />
Morgenstern in Eleluku Reasearch zusammen mit W.<br />
Brodsky & H. Wörmann sogar im Trio. Hier traktiert er den Floh,<br />
der um die ganze Welt gehüpft ist, so, dass nicht nur Tierschützer<br />
aufhorchen. Die Grenze zwischen Spiel und Misshandlung<br />
verschwimmt in Morgensterns Art Brut. ‚Unplugged<br />
amplified‘, ‚con arco‘, ‚arco et vox‘ oder ‚Selbtritt (overdub)‘<br />
tragen ihre Machart auf der Stirn, das meiste bietet einem dieselbe,<br />
indem es störrisch darauf beharrt, dass Musik nun mal<br />
mit Geräuschen verbunden ist. Manchmal hört man sogar,<br />
dass die Ukulele auch Saiten hat (‚arib m‘, ‚pas de deux‘), und<br />
‚akaroa‘ klingt einfach nur schön.<br />
59
MURCOF Cosmos (The Leaf Label, <strong>BA</strong>Y 59): Fernando Corona<br />
ist, seitdem ihm <strong>BA</strong> das letzte Mal begegnete anlässlich<br />
des 2004 ebenfalls bei Leaf heraus gekommenen Remixprojektes<br />
Utopia, nach Barcelona umgesiedelt. Die Zwischenzeit<br />
war erfüllt von Soundtrackarbeiten und Kollaborationen mit<br />
dem Pianisten Francesco Tristano oder mit Erik Truffaz &<br />
Talvin Singh auf dem Montreux Jazz Festival 2006. War sein<br />
letztes Album Remembranza (2005) noch bestimmt gewesen<br />
von der Trauer über den Tod seiner Mutter, orientiert sich<br />
der Mexikaner nun spacewärts, wobei ihm Klangbilder von Ligeti<br />
oder SunnO))) durch den Hinterkopf gingen. Er entwickelt<br />
allerdings eine ganz eigene Palette dröhnminimalistischer<br />
Orchestralität. Sein virtuelles Orchester ist ein gedämpfes<br />
Arcanum aus sonoren Strings und nahezu stiller Latenz,<br />
aus der kurze rhythmische Erruptionen und ebenso kurze<br />
Chorfetzen aufflammen (‚Cuerpò celeste‘). Bei ‚Cielo‘ gerät<br />
eine geknickte Rhythmusspur in Bewegung, wiederum<br />
von dunklen Frauenstimmen und dünnen Geigenfiguren umspielt.<br />
Und auch ‚Cometa‘ lässt einen knickebeinigen Beat<br />
wie eine Swastika gen Sonnenuntergang rollen, von zarten<br />
Pianonoten umtupft, von dunklen Cello- und hellen Violinstrichen<br />
und Aaa-Vokalisen flankiert. ‚Cosmos I‘ ist dann nur<br />
noch erhabenes Himmelsbeben aus basslastigem Brass, wie<br />
Adagiopassagen bei Mahler, aus grollenden und schnarrenden<br />
Posaunen und Tuben, die die Unendlichkeit schwarz in<br />
schwarz tönen, und ‚Cosmos II‘ ein gewaltig schwellender Orgeldrone,<br />
Volumina, der in einen Lux Aeterna-Chor überzugehen<br />
scheint, aber unvermittelt abricht in Stille. Aus der<br />
dringt dann ‚Oort‘ hervor, erst nur zartes Glockenspiel - in<br />
das plötzlich Blitz und Donner einschlagen - Cello und eine<br />
dunkle Flöte erbeben - eine zweiter Donnerschlag, schnarrendes<br />
Brass stagniert - und eine dritte Erruption, die Cello<br />
und Flöte dissonant verbiegt - und ein vierter noch gewaltigerer<br />
Ausbruch, nach dem Funken vom Himmel regnen. Die<br />
bis ins Innerste durchgeschüttelten Klangspuren zittern noch<br />
lang nach und verhallen allmählich <strong>als</strong> leises Summen im Unhörbaren<br />
- - - Was für ein gewaltiges Stück vom Urknall!!!<br />
NAD SPIRO Tinta Invisible (Geometrik Records, GR-DIGI-03):<br />
Wie mag Musik klingen, in die gleichzeitig Erinnerungen an<br />
den Annaghmakerrig Lake in Irland, das Low-Life in Berlin<br />
und an Fad Gadget eingeflossen sind, die Philip K. Dick <strong>als</strong><br />
Orakel nimmt und den perversen Lullabies des Autors von<br />
Fight Club und Guts lauscht? Stranger <strong>als</strong> die übliche Sonic<br />
Fiction? Rosa Arruti pendelt mit ihrem Space Elevator Noir<br />
zwischen dem Fegefeuer und den Sternen. Sie zerschrotet<br />
Gitarrensounds, bei ‚Time Track‘ sogar ausschließlich Gitarrenklang.<br />
Sie flüstert Geschichten, aber auch ihre Worte<br />
werden zermahlen und weggeblasen. So schreibt sie ihre<br />
elektronische Poesie mit unsichtbarer Tinte, in einen trüben<br />
Fluss aus Geräuschen. Alle ihre Klangbilder, ihr ‚Eye TV‘,<br />
auch ihre Beats, sind verunklart, verwischt, verzerrt, sie<br />
quellen <strong>als</strong> surreale Tintentropfen im Schwerelosen, zucken<br />
<strong>als</strong> Spritzer durch Nad Spiros ‚Soundhouse‘. Der Frankfurter<br />
Lars Müller alias Victor Sol hat die Lofi-Minimalistik seiner<br />
Kollegin aus Barcelona gemastert, die sich schon mit dem<br />
Vorgängeralbum Fightclubbing (2003) auf Palahniuk bezogen<br />
hatte, während sie bei ihrem Debut vs. Enemigos De Helix<br />
(2000), die beide ebenfalls schon auf dem Esplendor Geometrico-Label<br />
herausgekommen sind, nur vage andeutet, dass<br />
sie <strong>als</strong> Sympathisantin der Cacophonous Society mit ihren<br />
Spirotechnics anarchische Ziele verfolgt.<br />
60
SEAN NOONAN BREWED BY NOON Stories to Tell (Songlines Recordings,<br />
SGL SA1563-2): Sean Noonan ist ein wahrer Champion, nicht bloß vordergründig<br />
durch seine berserkerhafte Schlagtechnik <strong>als</strong> Thrash-Jazz-Trommler<br />
von The Hub. Mit Brewed By Noon, 1999 mit den Gitarristen Aram Bajakian<br />
und Jon Madof und Thierno Camara am E-Bass begonnen, macht er etwas<br />
ziemlich Verrücktes, er verlegt Irland an die Westküste Afrikas. Der virtuose<br />
Pastorius-Jünger Camara, der, bevor er nach New York kam, in der<br />
senegalesischen Allstarformation Sora gespielt hat, verkörpert mit seinem<br />
Griotbackground den anderen Pol dieser Kontinentaldrift. Der mit dem<br />
Jewish Power-Trio Rashanin bekannte Madof komplettiert das, was hinter<br />
dieser ‚Drift’ steckt - die den Juden, Afrikanern, Armeniern und Iren gemeinsame<br />
Geschichte von Vertreibung, Auswanderung, Diaspora. Brewed By<br />
Noons Zweitling nach dem Debut 2005 enthält mit ‚Scabies’ und ‘Esspi’ zwar<br />
auch noch Stoff, den Noonan schon im Duo mit Bajakian auf ChiPS (2003)<br />
vorgewärmt hat, der jetzt aber luxuriös ausgestaltet wird. Stellenweise<br />
durch perkussive Verzierungen von Jim Pugliese und dem Djembespieler<br />
Thiokho Diagne, ausgiebig durch Mat Maneri mit seiner Viola, vokal durch<br />
Abdoulaye Diabaté aus Mali, der in Bambarasprache von einem verirrten<br />
Elefanten erzählt, Susan McKeown, die auf Gälisch das Traditional ‚Ar Maidin,<br />
Ar Nóin’ singt, und die nigerianische Sopranistin Dawn Padmore, die<br />
soulig von unreifen Ananas abrät. Die Titel ‚Noonbrews’ und ‚Urban Mbalax’<br />
machen deutlich, um was es geht - einen phantasievollen Melting Pot-Eintopf<br />
und um die städtische Kompression afro-kubanischer Grooves, die zwischen<br />
den atlantischen Küsten hin und her pendeln. Herzstück ist das dreifache<br />
Simulakrum des Gitarrenpickings der afrikanischen Westküste, das selber<br />
schon eine Kora simuliert. Nur dass dieser Gitarrenklingklang eingebettet ist<br />
in ein Kaleidoskop aus elektroakustischen Beats und eklektizistischen Songs<br />
und bei ‚NY’ und ‚Scabies’ alle Fesseln sprengt. Wenn McKeow und Diabaté<br />
sich im selben Lied begegnen, ist das zwar bizarr, auf der Gefühlsebene<br />
aber absolut stimmig, vor allem wenn Ribot dazu noch ein Himmelfahrtssolo<br />
erfindet und mit jedem seiner sechs Gastspiele anders verblüfft. Diese sehr<br />
New Yorkische Mixtur zusammen mit Noonans flexiblem, dynamischen Drumming<br />
verwandelt eben nicht bloß Folklore in Jazzrock, sie lässt ‚Weltmusik’<br />
wieder unerhört klingen und endet mit ‚Dr. Sleepytime’, einem Duo für Gitarre<br />
und Vierteltonviola, wie man es sich nicht hätte träumen lassen können.<br />
PEOPLE LIKE US & ERGO PHIZMIZ Perpetuum Mobile (Soleilmoon Recordings,<br />
SOL 156): Plunderphonisches Pingpong, gespielt mit britischem Humor<br />
hoch 2. Von ihrer sampladelischen Samplemanie (ich hoffe, man erkennt<br />
hier meine Highbrowanspielung auf Beastly Beatitudes?) hinreißen ließen<br />
sich Vicky Bennett und der Soundpoet und musikalische Witzbold Ergo<br />
Phizmiz. Dieser ‚Pop Prankster‘ zählt Saties Socrate aber auch “chromatic<br />
descending scales and that plink-plonk style“ zu seiner Lieblingsmusik. Seine<br />
eigenen Kreationen tragen zungenbrecherische Namen wie ‚Phwinums’<br />
oder ‚Gwelyhrsras’, zappe(l)n zwischen ‚Mind-virus kabaret’ und ‚Schellack<br />
Inferno’ und bringen Tonträger wie zuletzt Nose Points in Different Directions<br />
und Ergo Phizmiz & his Orchestra (beide Womb Rec.) arg ins Schwitzen.<br />
M: 1000 Year Mix (Match My Foot / Arts Council) staucht 1000 Jahre Musik<br />
auf zwei 7“-Seiten. Mit Vicky Bennett hat der selbsternannte Duke Ergo Of<br />
Phizmiz the 1st aus geplünderten Easy-, Exotica- & Gimmick-Scheiben neue<br />
Songs gebastelt, die, mal sehr, mal ungefähr, nach altbekannten klingen.<br />
Dazu singen, und das ist der eigentliche Clou, die beiden selbstgestrickte Lyrics,<br />
denen man nicht wirklich zu nahe tritt, wenn man sie <strong>als</strong> Nonsense bezeichnet.<br />
Auch wenn sie ‚funny’ lieber hören. Ein Mambo verfällt mit einem<br />
Wechselschritt in 3/4-Takt, die Comedian Harmonists singen Offenbach, Spike<br />
Jones kollidiert mit Carl Stalling, Cha Cha Cha-Tänzer stolpern über Hawaii,<br />
Can Can über Bluegrass. Auf Kitsch as Kitsch can mit Golden Oldies-<br />
Schmus folgen in atemlosem Tempo Looney Tune-Geschnatter, Eskimoloops,<br />
Humptata, Ja Ja Ja auf Ne Ne Ne, auf Alice Liddell Nelson Riddle. Ad<br />
infinitum. Entertainment wird <strong>als</strong> durchgedrehtes Perpetuum mobile ad absurdum<br />
geführt und bleibt doch unverwüstlich - unterhaltsam.<br />
61
PHONO Phono (Absinth Records, Absinth014, oversized<br />
cardboard cover with hand printed screen<br />
print gouache): Elektroakustik im Berliner Vivaldisaal.<br />
Sabine Vogel, Magda Mayas & Michael Renkel<br />
verflechten die Klänge von Flöte, Piano und akustischer<br />
Gitarre und durchmischen ihre improvisierten<br />
Klanggespinste mit Synthesizer & Electronics.<br />
Von Vivaldi bis zu diesen ‚stillen‘ Detonationen, diesem<br />
immer wieder von Atempausen gedämpften<br />
Feilen an der Klangwelt, war ein langer Weg. Wenn<br />
auch bei weitem nicht so lang wie der Weg zu Vivaldi.<br />
In gewisser Weise ist es auch eine Rückkehr zu<br />
einem musikalischen ersten Schöpfungstag, zu einer<br />
denkbar, zumindest scheinbar einfachen Arte<br />
Povera. Und zwar auf sublime und alles andere <strong>als</strong><br />
naive Weise. Durchwegs lässt das Trio große Vorsicht<br />
walten, <strong>als</strong> ob die Störung der natürlichen Stille,<br />
das Sich-Hörbar-Machen, ein ritueller Akt wäre.<br />
Eine heikle Imitation der Wind- und Wassergeister.<br />
Piano und Synthesizer klingen nach Windspiel, sie<br />
funkeln und blinken, die Gitarre zirpt und pocht, die<br />
Flöte fiept und haucht. Alles klingt elementar und<br />
noch wie prä-faunisch. Die Electronics unterstützen<br />
eher diese Camouflage von ‚Natürlichkeit‘, statt<br />
durch ‚anachronistisch‘ technoide Aspekte zu irritieren.<br />
Die Musik scheint nicht nur nicht prothesengöttlich<br />
wirken zu wollen, sondern weitgehend ichlos,<br />
fast anthropofugal. Und ist ‚natürlich‘ das Gegenteil,<br />
finessenreich, konzentriert, reflektiert. Fast<br />
demonstrativ wandelt sie die Not ihres Spätgekommenseins<br />
und ihrer Decadence zur Tugend, die das<br />
Wenige, das heute möglich scheint, auch möglich<br />
macht.<br />
PJUSK Sart (12k 1042): Sart kann für Vieles stehn,<br />
nicht zuletzt für eine 1971er ECM-Einspielung von<br />
Jan Garbarek, einem Landmann von Jostein Dahl<br />
Gjelsvik & Rune Sagevik, und bedeutet da wie hier<br />
‚zart‘ & ‚sanft‘. Auf 12ks Blueprints-Compilation hatten<br />
die beiden bei ihrem Debut schon ihre Ambition<br />
angedeutet, von der Blaupause transusiger Dröhnseligkeit<br />
abzuweichen. Dazu durchsetzen sie ihre<br />
atmosphärischen, Moll getönten Soundscapes mit<br />
ominösen Geräuschen, einem Rauschen wie von<br />
Wind oder Verkehr oder einfach der Tonbänder<br />
selbst, von vagem Stimmengewirr und Hantieren.<br />
Statt konkret zu werden, sind die Szenen jedoch<br />
übermalt von den flüchtigen Klängen von Gitarre,<br />
Flöte oder Stimme und überblendet von Geräuschen,<br />
die zu uneindeutig sind, um sie <strong>als</strong> knarrende<br />
Schritte in Schnee oder <strong>als</strong> knisterndes Eis oder<br />
Dergleichen zu identifizieren. Auf das geräuschhafte<br />
Unterfutter sind immer wieder melodiöse und<br />
manchmal sogar halbwegs rhythmische Electronicaspuren<br />
aufgetragen. Die Low-Fidelity scheint dabei<br />
gewollt <strong>als</strong> eine Art Echtheitsstempel dieser<br />
nordischen Seelenlandschaften. Titel wie ‚myk‘ =<br />
soft, ‚vag‘ = unbestimmt, ‚stadig‘ = stets, ‚anelse‘ =<br />
Ahnung, ‚rim‘ = Reim oder ‚rav‘ = Bernstein deuten<br />
die ätherisch verschleierte, nostalgisch umsponnene<br />
Zone an, in die sich diese Klangpoesie hinein zu<br />
träumen und zu tasten anschickt.<br />
62
PURE SOUND Submarine (Euphonium, EUPH005): Mehr<br />
noch <strong>als</strong> Yukon (-> <strong>BA</strong> 52) ist Submarine eine Art Hörspiel.<br />
In 12 kleinen Szenen, Songs dazu zu sagen, wäre übertrieben,<br />
wird in einer Mixtur aus Spoken Word-Lyrics und vinylkonserviertem<br />
O-Ton erzählt vom Untergang der Lusitania<br />
und das Ganze durchsetzt mit Erinnerungen an den 2.<br />
Weltkrieg. Federführend war erneut Ex-A Witness Vince<br />
Hunt (bass, tapes, voc<strong>als</strong>) in Manchester zusammen mit<br />
Boz Hayward (guitars, piano, voc<strong>als</strong>). In nur 28 Minuten<br />
kreuzen sich erlebte Schrecken vor einer geschichtlichen<br />
Folie aus Krieg und Kriegsproduktion (der Lärm eines<br />
Stahlwerkes in Sheffield) mit Hunts Familiengeschichte<br />
(sein Vater hatte ebenfalls im Krieg gedient) und seinem<br />
gegenwärtigen Befinden. Man hört die Stimmen von Küstenwachen<br />
und von Fischhändlern (was mir unwillkürlich<br />
Charles Forts ‚fishmongerish‘ in den Sinn bringt). Hunt räsoniert<br />
über das Kartenhaus, das er sich gebaut hat oder<br />
spricht Sätze wie „My dreams are just full of traffic / Warm<br />
rain and ponytails / It‘s a devastating change.“ Jeder Mosaikstein<br />
ist individuell instrumentiert, mit Rockdrumgerumse,<br />
schroffer Schrammel- oder sparsamer Klampfgitarre,<br />
Basstupfern, einzeln gesetzten Pianonoten, Signallauten<br />
(die Peil-Pings eines U-Boots) und Störgeräuschen. Im Detail<br />
irritierend und in der Summe irritierend, dabei so englisch,<br />
dass ein Kraut allein schon dadurch irritiert wäre.<br />
PUSH THE TRIANGLE Repush Machina (D‘Autres Cordes<br />
records, d‘ac091): Ahh, das Label, das Light Fuse and Get<br />
Away von The Hub herausgebracht hat! Der Gitarrist &<br />
Turntablist Franck Vigroux hat sich damit aber in erster Linie<br />
ein eigenes Forum geschaffen, für die Hörspiel-Trilogie<br />
Lilas Triste (2003), Looking for lilas (2004) & Triste Lilas<br />
(2005) und für Cos la machina (2005), letzteres schon mit<br />
Push The Triangle, seinem Trio mit Stéphane Payen am<br />
Altosax und dem Drummer Michel Blanc, dessen eigener<br />
D‘ac-Release Le Passage Eclair (2006) Bände spricht für<br />
seine Kreativität. Die beiden gehören zu Vigroux‘ ständigen<br />
Mitstreitern neben der Harfinistin Hélène Breschand,<br />
dem Kontrabassisten Bruno Chevillon und Gitarrenkollegen<br />
wie Marc Ducret und Elliott Sharp, mit dem er <strong>als</strong> Skinhead-Duo<br />
Elektrokrach macht. Wie schon die The Hub-<br />
Connection vermuten lässt, spielen Push The Triangle Dirty<br />
Jazz à la Française. Schrille Gitarrenriffs, außerordentlich<br />
bewegliches Getrommel und stürmische Saxophonzackenkämme,<br />
verwandt mit Etage 34, aber mit eigener improvisatorischer<br />
Wendigkeit, die selbst bei einem Titel wie<br />
‚L‘Agitation‘ Löcher ins Triangel-Gewebe reißt. Nichts ist<br />
hier zentralgesteuert, jeder ist ein Repush-Guerillero, der<br />
den verabredeten Kampfauftrag verinnerlicht hat. Das<br />
ausschweifende ‚My Dear Chloe‘ reizt Volume- und Tempowechsel<br />
exzessiv aus. Payen, ansonsten Anführer von Thôt<br />
und mit Sylvain Cathala die Saxophondoppelspitze von<br />
Print, akzentuiert mit seiner jazzigen Dynamik mal die<br />
knappe Schärfe, dann wieder die sprudelnde Quecksilbrigkeit<br />
der Repush-Maschine, deren MySpace-Links mich<br />
durch französisches Neuland flippern bis zu Silex und United<br />
Colors of Sodom. Repush Machina endet mit dem turntablistisch<br />
vereierten ‚The Blame‘, das mit wummernden<br />
Bassschlägen in einem Paralleluniversum verschwindet,<br />
zu dem sich vorher schon ‚Triste (19 Semaines)‘ durchgebissen<br />
hatte, eins, in dem Sarkozy nicht gewählt wurde.<br />
Vive la France maudit!<br />
63
JAMES SAUNDERS # [unassigned]<br />
(Confront 15, 2 x CD): Dieser 1972 geborene<br />
und <strong>als</strong> Senior Lecturer in Music und<br />
Leiter des composition department an der<br />
University of Huddersfield verankerte Brite<br />
ist eine prototypische Gestalt der Musica<br />
Nova, mit einschlägigen Visiten in Darmstadt<br />
(Stipendienpreis der Internat. Ferienkurse<br />
1998, #070702, Nicolas Hodges, &<br />
#190702, Ensemble Resonanz, 2002), Witten<br />
(#280402, 2002) und demnächst im Experiment<strong>als</strong>tudio<br />
für Akustische Kunst des<br />
SWR (#280607, Ensemble Chronophonie)<br />
und bei den Donaueschingener Musiktagen<br />
(#201007, Ensemble Modern). Was da<br />
immer wieder <strong>als</strong> Zahl auftaucht, sind die<br />
Titel in der Form #TTMMJJ. # [unassigned]<br />
ist eine proteische Komposition in potentiell<br />
unendlich vielen Gestalten. Bei mir<br />
läuft nun # 050507 für Cello & Klarinette,<br />
interpretiert von zwei Mitgliedern von<br />
Apartment House, dem Klarinettisten<br />
Andrew Sparling und dem Cellisten Anton<br />
Lukoszevieze, aber nur deshalb, weil ich<br />
CD1 # [unassigned] cello und CD2 # [unassigned]<br />
clarinet gleichzeitig abspiele. Jede<br />
zeitliche Verschiebung oder der Randommodus<br />
für den einen oder den anderen<br />
Monolog kreieren Variationen der Komposition,<br />
Versionen, die Saunders nicht nur<br />
in Kauf nimmt, sondern nahelegt. In #<br />
[unassigned] kulminieren konzeptionelle<br />
Aspekte der Indeterminacy von Cage, speziell<br />
der Number Pieces, der Aleatorik von<br />
Stockhausens Klavierstück XI, von Cardews<br />
Treatise und wenn man so will sogar<br />
von On Kawaras Date Paintings. Wie die<br />
Publikation bei Confront schon vermuten<br />
lässt, schreibt Saunders den Spielern äußerst<br />
reduzierte Klangbilder vor, gehauchte<br />
und geschabte Passagen zwischen<br />
Pianissimo und Stille. Klänge, die,<br />
um nicht im Alltag- und Außenlärm unterzugehen<br />
wie ein Tropfen Wasser im Fluss<br />
der Zeit, Orte der Stille verlangen, Zengärten,<br />
Kammermusikenklaven oder ein High<br />
Fidelity-Lebensumfeld. Saunders dosiert<br />
die Dymanik mit grösster Sorgfalt. In lange<br />
Tranquillo-Passagen in pp und ppp, für die<br />
schon Metaphern wie ‚Glasperlen-Puzzle‘<br />
oder ‚absoluter Gipfel der leisen Töne‘ gewählt<br />
wurden, lässt er Energico-Blitze einschlagen,<br />
unvermutet setzt er kurze und<br />
abrupte Akzente in Mezzoforte oder Forte.<br />
Er ist ein Meister der Sorgfalt innerhalb jenes<br />
merkwürdig mehrdeutigen ästhetischen<br />
Feldes, das offen lässt, ob es <strong>als</strong><br />
Schule der Aufmerksamkeit besucht werden<br />
will, <strong>als</strong> Soundtrack für meditative<br />
Konzentration taugen soll, oder <strong>als</strong> subliminale,<br />
ambiente Folie für Gedankenfluchten<br />
und Tagträumereien.<br />
MARCUS SCHMICKLER with HAYDEN<br />
CHISHOLM Amazing Daze (Häpna, H.32):<br />
Der Kölner Elektroakustiker zieht sich <strong>als</strong><br />
ein Faden durch <strong>BA</strong>, der für Qualität und<br />
Echtheit bürgt, vom Frühwerk Onea Gaku<br />
(1993) über POL und Pluramon, den Soloarbeiten<br />
Wabi Sabi (1997) und Sator Rotas<br />
(1999), den Improvisationen mit Mimeo,<br />
Lehn, Rowe, Nakamura und Tilbury bis zuletzt<br />
DEMOS für Chor, Kammerensemble<br />
und Elektronik (-> <strong>BA</strong> 52). Mit ‚Amazing<br />
Daze (for Phill Niblock)‘ & ‚Infinity in the<br />
Shape of a Poodle (for Björk)‘ knüpft<br />
Schmickler an Param (2001) an, seine 7<br />
Übungen in zeitgenössischer Kammermusik.<br />
Sein neuseeländischer Partner, bekannt<br />
<strong>als</strong> Saxophonist von Nils Wograms<br />
Root 70 und heuer mit The Embassadors<br />
auf dem Moers Festival zu hören, bläst für<br />
‚Amazing Daze‘ Dudelsack und für<br />
‚Infinity...‘ die japanische Bambusmundorgel<br />
Sho und spendet damit den Klangstoff<br />
für zwei dröhnminimalistisch schimmernde<br />
Wellenbündel, zwei dronologische Bordune,<br />
für die prototypisch der Name<br />
Niblock stehen könnte. Zu denken wäre<br />
aber auch an Scelsis Bohren nach dem<br />
‚Inneren des Tones‘. Björk verdiente sich<br />
ihre Widmung, weil sie den Klang einer<br />
Sho, der den Schrei des Phönix imitiert, im<br />
Soundtrack Drawing Restraint 9 popularisierte.<br />
Das Spiel mit Drones lässt sich deuten<br />
<strong>als</strong> westlicher Widerhall von asiatischen<br />
Bordunen, die das universale Kontinuum<br />
feiern. Als Suche nach dem ‚white<br />
bliss‘ in der Auflösung aller Differenzen.<br />
Schmickler selbst spricht (in Positionen 71)<br />
von einem „Paradigma des weißen<br />
Rauschen“, das solche Musiker eint, die im<br />
‚schwarzen Loch‘ eines undefinierten<br />
‚Dazwischen‘ musikalische Grenzen auflösen<br />
und dabei Referenzsysteme und sogar<br />
den Warencharakter selbst polyvalent aufheben.<br />
Ähnlich wie Jim O‘Rourke und Otomo<br />
Yoshihide, ist Schmickler ein Experte<br />
des Nicht-Festgelegten und der radikalen<br />
Subjektivität und damit Teil einer postmodernen<br />
Brother- & Sisterhood, die neben<br />
ihrer ausgeprägten Idiosynkrasie allenfalls<br />
ein besonderes Verhältnis zu Klangfarbe,<br />
Geräusch und der ‚Summe aller Töne‘ eint.<br />
Nahe Verwandte dabei sind Marhaug & Asheim<br />
mit dem Orgel-Electronics-Werk<br />
Grand Mutation, Angel & Hildur Gudnadottir<br />
mit In Transmediale, Osso Exótico &<br />
Verres Enharmoniques mit Folk Cycles<br />
oder Area C mit Haunt. Sie alle operieren<br />
mit obertonreich schimmernden Frequenzspektren,<br />
die in der Summe Weiß ergeben,<br />
und mit dem Nervenkitzel eines<br />
schrillen, dissonanten Sägezahndiskant,<br />
der zwischen Schmerz und Lust vibriert.<br />
64
SIGNAL TO NOISE Vol. 2 & 3 (For 4 Ears Records, FOR4EARS CD 1864 /<br />
1865): Schweizer Präzisionsarbeit zwischen Onkyo, Zen und hypermoderner<br />
japanischer Architektur. Die mit Vol.1 (-> <strong>BA</strong> 53) begonnene Dokumentation<br />
der Abenteuer einer Handvoll Schweizer Elektroakustiker im Fernen<br />
Osten bringt einmal das Meeting von Tomas Korber (guitar, electronics),<br />
Christian Weber (contrabass) & Katsura Yamauchi (sax) am 7.3.2006 im<br />
YCAM Yamaguchi. Die Drei zupfen an den Ohrläppchen mit sparsamen<br />
Plonks des Kontrabasses, feinen Feedbackdrones und stehenden Wellen<br />
von Korber und Fauchtönen des Saxophons, untermischt mit Klappengeräuschen<br />
und ganz reduzierten Lauten, wenn Yamauchi die Luft nicht am<br />
Mundstück vorbei pustet, sondern in monotoner Einsilbigkeit durchs Rohr<br />
selbst. Der 1954 in Oita, Kyushu geborene Japaner hatte 20 Jahre lang <strong>als</strong><br />
Angestellter gearbeitet, bevor er sich seit 2003 ganz auf seine Musik mit Alto-<br />
& Sopranosaxophon konzentriert. Dem zweiten Track gibt er mit pulsierenden<br />
Pumplauten sein Gepräge, zu denen Weber nun unruhigere Griffe<br />
oder Arcogebrumm untermischt, während Korber elektronische Wind- und<br />
Gischtgeräusche verströmt. Das Pulsieren klingt ab und es bleiben nur der<br />
brummige Bass und ein atmosphärisches Rauschen und nadelfeines Piksen.<br />
Am 7.2.2006 in der Tokyo University wurde der Zusammenklang von Jason<br />
Kahn (analog synthesizer), Norbert Möslang (cracked everyday-electronics)<br />
& Günter Müller (ipod, percussion, electronics) mitgeschnitten. Dabei inszenierten<br />
drei Perpetuum-Mobilisten eine pulsierende, tickende, dampfende,<br />
motorisch wummernde Betriebsamkeit. Dröhnminimalistische Striche und<br />
mehrstimmig rotierende Unruhe verdichten sich mit industrialem Automateneifer,<br />
der allerdings nichts produziert <strong>als</strong> sich selbst. Wobei Kahn, Möslang<br />
& Müller zu einem Team verschmelzen, bei dem nur der kollektive Output<br />
zählt. Bei Track 2 scheint ein (der?) Geist in der Maschine zu erwachen<br />
und beginnt in paranormaler Tonbandsprache zu lallen, von Maxwell‘schen<br />
Dämonen umknackt und umsirrt. Durch die Mehrspurigkeit und Aleatorik<br />
wirkt die Automatik komplex bis hyperkomplex. Die Unterschiede zwischen<br />
Signal und Noise werden aufgehoben. Das kann man <strong>als</strong> ‚sublim‘ empfinden,<br />
oder <strong>als</strong> organlos maschinell, identitätsdiffus, polymorph-pervers.<br />
SIX TWILIGHTS Six Twilights (Own Records, ownrec#35, CD + DVD): Aaron<br />
Gerber von A Weather macht in Portland von Melancholie umschleierte<br />
Singer/Songwriter-Folktronic. In das Klangunterfutter sind Gitarren- und<br />
Keyboardfäden mit eingewebt zu gefühlsecht samtigen oder seidig schimmernden<br />
Schmusedecken. Die Sinnlichkeit wird noch verstärkt durch die<br />
unschuldig-lasziven Stimmen von Liz Isenberg und Zoë Wright, die sich in<br />
diese Stoffe schmiegen wie Marilyn auf jenem Kalenderblatt, bei dem sie<br />
nur ‚das Radio‘ anhatte. Isenberg entpuppt sich dabei <strong>als</strong> bausbäckiges Mädel<br />
in Northampton, MA mit eigenem Jungmädchenblütenfolk auf Leisure<br />
Class. Six Twilights ist so etwas wie das Laptop-Update der Silence is the<br />
new loud-Folklore von A Weather, Exploration Team, Horse Feathers oder<br />
Musee Mecanique, Portlands übrigen zarten Seelen, die, auf Daunenfederempfindsamkeit<br />
eingestellt, das Leben schon <strong>als</strong> weich gekochte Erbse<br />
stört, die lieber den Finken lauschen und an Lavendel schnuppern. Wie Parzival<br />
scheint Six Twilights von drei Blutstropfen im Schnee und von ‚oak<br />
trees like stray hairs‘ gebannt und zu versuchen, diesen Bann hörbar zu<br />
machen, elektronisch verrätselt wie überalterte, eiernde Tonbänder. Die<br />
Musik ist nur ein morphendes Georgel, der Gesang ein Hauchen und Flüstern,<br />
durchsetzt mit intimen Atemzügen. Dazu gibt es dann ein entsprechendes<br />
Poesiealbum für Augen, die das Abendgold und Nachtblau des Horizontes<br />
abtasten oder die Silhouette der Beifahrerin auf der Autobahn ins<br />
Glück. Vögel versammeln sich auf Stromdrähten, Schnee auf allen Ästen,<br />
Licht sickert durch die Zweige. Das Bild wird unscharf wie vage Urlaubserinnerungen<br />
an Schlittenfahrten, dann golden wie ein Eldoradosommer,<br />
nassgrau wie Strandspaziergänge der Kindheit, <strong>als</strong> einem das Wetter noch<br />
egal war. Dann kehrt die ausgeschweifte Erinnerung wieder zurück ins<br />
Jetzt, on the road auf der Autobahn in den Sonnenuntergang. Gerbers<br />
Sweet Urlaubs-Memories gibt es nur ganz oder gar nicht. Das nenne ich<br />
selbstwusst.<br />
65
SOFT MOUNTAIN Soft Mountain (Hux Records, HUX 084): Hux reimt sich üblicherweise<br />
auf 70s, BBC- und/oder Live-Mitschnitte und gibt einem das Gefühl,<br />
dass man etwas versäumt, wenn man Brinsley Schwarz, Gryphon oder Heron<br />
nicht kennt. Dazu hegt man in London das Soft Machine & Co-Erbe und kann daher<br />
mit dieser Besonderheit aufwarten – keine nostalgische Ausgrabung, sondern<br />
etwas, das es bis dato nicht gegeben hatte: Auf ihrer Japantour 2003 mit<br />
Soft Works hatten Elton Dean & Hugh Hopper eine Verabredung getroffen mit<br />
dem Keyboarder Hoppy Kamiyama und dem Drummer Yoshida Tatsuya. Nicht<br />
nur zum Sushiessen. Resultat: Zwei nahezu halbstündige ‚Suiten’, völlig frei improvisiert,<br />
nur von Spielfreude und Erfahrung gelenkt und den gemeinsamen<br />
Neigungen zu Freeform-Jazz(rock). Wenn das Interesse der beiden Japaner, mit<br />
zwei legendären Veteranen des Canterburykults zu musizieren, sich von selbst<br />
versteht, so ist umgekehrt die Lust der beiden Briten nicht weniger verständlich.<br />
Der Nino Rota-Verehrer Kamiyama mit einem Faible für sleazy und cheesy<br />
Trash hat mit Projekten wie Pink, Pugs und Optical 8 mehr <strong>als</strong> nur Exotica-Originalität<br />
bewiesen. Seine Spielweise knüpft hier direkt an die Miles Davis-Schule,<br />
speziell an Chick Corea an. Yoshida, Jahrgang 1961, Japans Antwort auf Christian<br />
Vander, ist nicht nur workoholisch aktiv im psychedelischen Magaibutsu-<br />
Rhizom (Koenjihyakkei, Korekyojinn, Ruins etc.), sondern auch der Garant für<br />
Power und Komplexität im Satoko Fujii Quartet, bei Painkiller oder im Trio mit<br />
Otomo & Laswell. Schon in Daimonji spielt er zusammen mit Kamiyama ‚Improg’,<br />
der nur ihrem Follow-Motion-Flow-Instinkt gehorcht. Hier stellen sich alle vier<br />
mit dem Gesicht zur Sonne, die ungebrochen Love Supreme-Strahlen spendet,<br />
die direkt in Deans Altosax- und Saxellomelodien fließen. Coltranes Vision der<br />
unendlichen Melodie zieht sich <strong>als</strong> goldener Faden ohne Anfang und Ende<br />
durch die Soft Mountain Suite. Bass und Drums pochen und stampfen <strong>als</strong> Taikodynamo<br />
und tausendfüßlerische Mikoshischreinträger. Kamiyama streut Glasperlen<br />
und Kirschblütenblätter für die Matsuriprozession. Die 15 Jahre Altersunterschied<br />
sind schon vom ersten Ton an wie weggeblasen. Unwillkürlich<br />
nimmt, während die Nase Coltrane-Duft einsaugt, das Ohr Deans Singsang <strong>als</strong><br />
Fixpunkt und folgt ihm in seiner Tagträumerei, die in sanftem Licht badet. Bis<br />
immer wieder ein Windstoß in ihn fährt und er, von Yoshida <strong>als</strong> vielgliedrigem,<br />
hypermobilem Kohlenschipper mit Feuereifer und euphorischen Juchzern unterstützt,<br />
aus Flammengezüngel Fire Music auflodern lässt, zu der Hoppers<br />
Sturm & Drang-Bass, teilweise mit Flangereffekt, Schattenspiele zeichnet, die<br />
ein dunkles Eigenleben führen. Diese Musik ist älter und größer <strong>als</strong> Soft Machine<br />
Legacy, sie liftet den Anker von Coltranes Sun Ship.<br />
SPACEHEADS & MAX EASTLEY A Very Long Way From Anywhere Else (Bip<br />
Hop, bleep35): Bezog sich der Vorgänger The Time of the Ancient Astronaut<br />
(2001) auf Coleridges The Rime of the Ancient Mariner, so wird diesmal der Graf<br />
von Monte Christo umspielt. Denn auf dem Weg zum Mimi Festival auf der Insel<br />
Frioul vor Marseille kamen Eastley, Andy Diagram & Richard Harrison am berüchtigten<br />
Chateau D‘if vorbei, in dem Edmond Dantès jahrelang lebendig begraben<br />
war und auf Rache sann. 4 Tracks entstanden live auf dem Mimi 2002,<br />
die andere Hälfte 2003 im Shed von Brawby, North Yorkshire. Der Zusammenklang<br />
von Eastleys Arc, Diagrams Kondo‘esker Trompete und Harrisons Drumming,<br />
jeweils mit Elektroeffekten verdubt, lässt einen Dreamscape entstehen,<br />
der mit der Wunschenergie der Kolportage Elemente der Schauerromantik und<br />
des Fernwehs verbindet. Klang verleiht dem Sehnen Schwingen (‚Love Lends<br />
Wings to our Desires‘), etwa indem Delaywellen die Imagination dort hin treiben<br />
lassen, wohin die Trompete voraus schweift. Derweil wetzt Dantès immer wieder<br />
den Dolch seiner Rache. Das Trio schreckt vor solchen bildhaften Motiven<br />
nicht zurück. Nur <strong>als</strong> ‚Toter‘ konnte Dantès fliehen (‚Assume the Place of the<br />
Dead‘), nach einem Alptraum an Spannung, bei dem sein Herz zu zerspringen<br />
drohte (‚The Dream that Murdered Sleep‘). Vorahnungen des Gelingens oder<br />
Scheitern falten die Zeit wie einen Ziehharmonikabalg, während sie beim großartigen<br />
Titelstück sich episch wieder dehnt und entfaltet. Den Kopf so voller<br />
Möglichkeiten, dass er wie ein Fanfarenchor dröhnt und schrillt und brummt. Als<br />
ob die 7. Kavallerie durch Fidelio galoppieren würde, um dem ‚Drama der Utopie‘<br />
zu einem glücklichen Ende zu verhelfen. Freiheit ist, aufs offene Meer hinaus zu<br />
rocken.<br />
66
SWIMS Swims (Distile Records, DIST003,<br />
EP): Drum‘n‘Bass aus Kalifornien, allerdings<br />
in nicht-technoider Version. Paul Slack<br />
spielt ‚a self-customized 1980 Kawai graphite<br />
4-string bass through a bi-amp setup‘ und<br />
Mark Rocha ‚big drums and a Zildjian Z Custom<br />
Mega Bell Ride‘. Ihre Ambition ist es, ‚an<br />
interesting blend of mathy, jazzy, proggy,<br />
ambient, instrumental rock‘ zu kreieren.<br />
Slack quasi <strong>als</strong> virtuoser Mike Watt, mit dem<br />
E-Bass <strong>als</strong> tragendem Element, und sein<br />
Partner <strong>als</strong> Meister des Fraktalen. Auf Distile<br />
sind sie damit in bester Gesellschaft mit<br />
37500 yens aus Reims, einem repetitiv-explosiven<br />
Guitar-Drums-Duo von Raxinasky-<br />
Zuschnitt, dem lehmverschmierten Zauselrock-Duo<br />
One Second Riot [records are<br />
home] aus Lyon, dem vertrackten Pim-Pam-<br />
Poum-Trio Sincabeza aus Bordeaux oder<br />
Absinthe (provisoire), einem Quintett aus<br />
Montpellier (das selbst wieder ein Kaninchenloch<br />
ist zum belesenen Akusmatiker,<br />
Cortazar- und Bela Tarr-Fan Guillaume Contré<br />
und dessen Projekte SAP(e) und Rayuela)<br />
[Das Abschweifen über solche Lebenslinien<br />
ist ein bad alchemystischer Wesenszug].<br />
Sie alle sind es Wert, entdeckt zu werden,<br />
wobei das Duo aus Sacramento durch<br />
seine dichten Interaktionen besticht, durch<br />
die Manier, wie es die höhere Mathematik<br />
seiner Zwiesprachen in Ahleuchatista-komplexe<br />
Arrangements umsetzt.<br />
TARAB Wind Keeps Even Dust Away (23five<br />
010): Cinema pour l‘oreille oder ‚psychogeographical<br />
wanderings‘, wie immer man<br />
das Soundscaping des Australiers Eamon<br />
Sprod bezeichnen mag, es spielt mit Klängen<br />
seiner australischen Lebenswelt und<br />
der Einbildungskraft der Hörer. Die mit Naturbildern,<br />
mit Illusionen von Natur oder einfach<br />
nur Illusionen gefüttert wird. Gluckert<br />
da wirklich Wasser mitten im Sandsturm?<br />
Braust da ein Regenguss übers trockene<br />
Land, oder rascheln nur die Blätter? Warum<br />
zersplittert Glas? Schizophonie führt zu Dislokation.<br />
Man wird durch Rumpeln, Dröhnen<br />
und Zischen in die Betriebsamkeit eines<br />
Verladebahnhofs oder einer Fabrik versetzt.<br />
Dann wieder in grillendurchzirptes Hinterland.<br />
Es bitzeln Bläschen vor einem aufrauschenden<br />
Blätter- oder Regenvorhang. Sind<br />
diese Grillen echt, dieses Insektengesumm?<br />
Wenigstens die knarrende Tür? Vögel zwitschern<br />
und quäken, während Donnergrollen<br />
näher rollt und Wind die Äste schüttelt. Ein<br />
Wolkenbruchgewitter entlädt sich Chris-<br />
Watson-plastisch über diesem Phantomlandstrich,<br />
drinnen scheppern Stangen oder<br />
Röhren. Ein industrialer Kladderadatsch<br />
macht viel Lärm um Nichts. Und doch sind<br />
schon Leute in Pfützen ertrunken.<br />
67
THIEKE/GRIENER/WEBER The Amazing Dr. Clitterhouse (Ayler<br />
Records, aylDL-058): Wie der 1968 in Nürnberg geborene Drummer<br />
Griener ist auch der 4 Jahre jüngere Düsseldorfer Klarinettist<br />
& Altosaxophonist Thieke Mitte der 90er dem Sog Berlins gefolgt.<br />
Mit Projekten wie Nickendes Perlgras, The International Nothing,<br />
The Magic I.D., Unununium, Hotelgäste, Demontage oder<br />
Schwimmer und Neigungen zu abstrakten Minimalismen, diskreten<br />
Dynamiken und geistesgegenwärtigem NowJazz gehört er<br />
zum internationalen Improrhizom. Herr Griener, der sich seit seiner<br />
Neuen Deutschen Jazzpreisauszeichnung 2006 offiziell<br />
‚kreativster Solist‘ schimpfen darf, engagiert sich im Ulrich Gumpert<br />
Quartett oder mit dem Ex-Würzburger Martin Klingeberg in<br />
Babybonk und mit Thieke fand er Anschluss an die Lissabonner<br />
Creative Sources-Familie. Dem Zürcher -> Signal Quintet-Bassisten<br />
Christian Weber begegnen wir hiermit nun zum dritten Mal.<br />
Beim <strong>Download</strong>release von TGW zeigen der bowlerbehütete<br />
Nürnberger und seine Mitstreiter sich <strong>als</strong> Edward G. Robinson-<br />
Fans. Auf den kieksig-quirligen Auftakt ‚A Dispatch from Reuter‘s‘<br />
folgt das dunkel-verhuschte ‚East is West‘ mit Haltetönen, die ins<br />
Diskante kippen, Cymb<strong>als</strong>ustain und brummigen Bogenstrichen.<br />
Danach beginnt ‚A Bullet for Joey‘ mit Schlagzeugbreitseiten,<br />
Bassgesäge und vehementem Altogestöcher à la Evan Parker,<br />
das sich mit Windmühlschlägen Grieners auf einen Dumdumpuls<br />
eingroovt. ‚Two Weeks in Another Town‘ ist ein neurotischer<br />
Blues, mit nervösen Pizzikati und quäkiger Borderlineklarinette,<br />
gefolgt von ‚Unholy Partners‘ mit heimlichtuerischer Klarinette<br />
und tröpfeliger Begleitung, die aber mit Besenwischern und hellem<br />
Schimmern ganz feinfühlig wird. ‚Two Seconds‘ mischt<br />
Brummbass mit perkussivem Muschelgeklapper, bis, von Thieke<br />
angestachelt, die Rhythmik schwerfällig Tritt fasst, sich gleich<br />
aber in einen einsilbigen Bass-Drums-Dialog verstrickt, in den das<br />
Alto sich spuckig und krächzend einmischt. Bleibt noch ‚Key Largo‘<br />
in seiner angerauten Innigkeit <strong>als</strong> 7. Beleg, dass die Klarinette<br />
des Düsseldorfers das Spektrum von Ben Goldberg - François<br />
Houle - Michael Moore - Claudio Puntin - Perry Robinson mit einem<br />
markanten T wie Thieke erweitert.<br />
THIS YEAR‘S MODEL The Clock Strikes Ten (Marsh-Marigold Records,<br />
Mari 28): Dieses schwedische Popquartett ist mit allen Images<br />
von Sophistication und Dandytum ausstaffiert. Ein Poster von<br />
The Anarchists of Chicago, ein But is it Art?-Zwinkern, ein Posingfoto<br />
<strong>als</strong> coole Villenbesitzer und hintersinnige Shortstories von<br />
Jessica Griffin (Would-Be-Goods), Dickon Edwards (Fosca) und<br />
Vic Godard (Subway Sect) im Booklet. Murder, she wrote neatly,<br />
and the clock struck ten. Murder, she wrote sweetly, watching an<br />
ink stain growing on her hand lautet der Refrain, der dem Album<br />
die Überschrift liefert. Niklas Gustafsson ist die tonangebende<br />
Kraft, Ylva Lindberg spielt Keyboards und säuselt im Background,<br />
Henric Strömberg trommelt und Matthias Svensson steuert Leadgitarre<br />
und Bass bei. Der Gruppensound und Gustafssons Intonation<br />
sind geschwängert mit dem Flair von 80er-Jahre Art School-<br />
Pop. Die 3 Minuten-Songs voller Anspielungen wie ‚Wishes For<br />
Jean-Paul‘ (nicht Sartre, Belmondo) oder ‚Method Acting‘, auf die<br />
Präraffaelitenikone Elizabeth Siddal, die Schauspielerin Pascale<br />
Petit, das Hotel Damier in Courtrai, in dem schon Victor Hugo abgestiegen<br />
ist. Godard und Edwards liefern das persönliche Role<br />
Model, El Records den Rahmen aus Stil und britischer Boyishness,<br />
in dem sich This Years‘s Model bewegt. Ich habe nichts dagegen,<br />
die Uhr zu richten nach Zeiten, <strong>als</strong> Pop seinen Namen noch rückwärts<br />
buchstabieren konnte und von einer Welt zu träumen,<br />
where The Avengers' John Steed forever seems to be creative<br />
controller and Emma Peel works the A&R department.<br />
68
ULRICH TROYER Sehen mit Ohren (Transacoustic Research, tres006): Cinema<br />
pour l‘oreille <strong>als</strong> Essen im Dunkeln. Die Brailleschrift auf dem Cover verweist<br />
schon auf die Konsequenz, mit der der Transacoustic-Forscher und Gemüseorchesterkoch<br />
Troyer Blindsein vermitteln möchte. Sechs Sehbehinderte erzählen,<br />
wie sie ihre Umwelt wahrnehmen, sich darin orientieren und bewegen. Dazu<br />
mischt Troyer konkrete Alltagsgeräusche, die die Herausforderungen an das<br />
Raumgefühl und den Orientierungssinn von Nichtsehenden suggerieren. Beatrix<br />
Klinger, Kerstin Tischler, Josef Knoll, Michael Krispl, Elisabeth Wundsam und<br />
Otto Lechner, Musikant im Accordeon Tribe, sprechen über Raumresonanzen,<br />
Temperaturstrahlungen und Reflektionen, über Rasenkanten und den Sog offener<br />
Türen. Wie der Blinde mit dem Wischen seines Blindenstocks, das sich an<br />
Wänden bricht, fledermausmäßig zur Schallquelle wird. Postkastln, die hört man<br />
ned, Hindernisse in Kopfhöhe schon eher, Wiener Schnitzel allemal. Troyer<br />
schickt die Einbildungskraft mit durch Zimmer, Treppenhäuser, über Straßen,<br />
durch akustisch fürchterliche Bahnhofshallen und Tunnel, in die Mensa, in den<br />
Regen, der alles verschleiert. Auch überlaute Räume wie Diskotheken, überhaupt<br />
auch Öffentliche Gebäude, Theater usw. sind zum Orientieren alle wahnsinnig<br />
hart. Aber jedes Geschäft hat seinen eigenen Geruch. Oder Pflanzen im<br />
Zimmer, das ist auch angenehm. Die riecht man, und wenn die Blätter groß genug<br />
sind, hört man sie auch. Dome und Kathedralen sind akustisch ein Genuss.<br />
Da ist echt was los. So lernt man das ABC der Aufmerksamkeit.<br />
MATT WESTON Resistance Cruiser / Rashaya (7272 Music #001 / #002, 3“ CD-<br />
R): Auf diesen Drummer im Umfeld der Chicagoszene konnte man bisher stoßen<br />
neben Kevin Drumm, Michael Colligan, den Vida-Brüdern, der Sängerin-Gitarristin<br />
Plum Crane in Lotus 72 und auf Tizzys Dead Band Rocking (bevor Teri Morris<br />
die Band 2006 tatsächlich beerdigte), da spielte er sogar Riot Grrrl-Rock. Seine<br />
wahre und ganze Stärke zeigt er aber solo. Da mischt er Free Noise mit Musica<br />
Nova-Versatilität und durchlasert das Ganze noch mit Electrosounds, klingt aber<br />
am liebsten wie eine Ladung Schrott, die einen endlosen Wendeltreppenschacht<br />
hinunter scheppert. Mal mit grob gegen die Wände holterdipolternden Brocken,<br />
mal nur wie ein ausgeschütteter Besteckkasten, knarzend und rappelnd und mit<br />
schlecht geölten Scharnieren. Die Einspielungen hier geben Westons Lärmkaskaden<br />
plastisch wieder, ihre rostige, diskante, krätzige Schäbigkeit in einem, ihre<br />
überbordende One-Man-Orchestralität in nächsten Moment. Man ‚sieht‘ geradezu<br />
seine Hände blitzschnell hin und her zucken, seine klapprige Stockarbeit, den<br />
Hagelschlag, den er über die Becken verspritzt, abruptes Gepolter, dynamische<br />
Sprünge über Geräuschklüfte. Dazwischen schwer definierbare Stromstöße,<br />
schrilles Schnarren und fast jaulende Kratzer. Wer bei Schlagzeugsoli bisher nur<br />
überdrüssig abwinkte, der kann hier ein Aha erleben.<br />
SIMONE WHITE I Am The Man (Honest Jons, HJR28): Auf Damon Albarns hippem<br />
Londoner Label kommt etwas unerwartet diese hippieske, in Hawaii geborene<br />
Liedermacherin, die nunmehr im kalifornischen Venedig lebt. Sie zupft eine<br />
akustische 1964 Guild M20 und singt mit Unschuld-vom-Lande-Stimme eigene<br />
Poesie. Titel wie ‚Worm Was Wood‘ oder ‚Why Is Your Raincoat Always Crying?‘<br />
lassen Lucy in the Sky with Diamonds-Musenküsse vermuten. Bei näherem Hinhören<br />
werden aber auch unvermutet kritische Töne hörbar, die nicht von der eigenen<br />
Katze oder postkoitaler Tristesse handeln, sondern von der amerikanische<br />
Krankheit - ‚The American War‘, ‚Great Imperialist State‘, ‚We Used To<br />
Stand So Tall‘. Aber ob Liebe oder Krieg, Rosen oder Würmer, Sweet- oder Darkness,<br />
White singsangt durchwegs mit der gleichen zartbitteren Laschcoremelancholie.<br />
Carol King und Mary Hopkin, ok, aber alle andern verstiegenen Vergleiche<br />
und jede Nähe zu Bonnie Prince Billy oder Lambchop, jeder Anflug von<br />
Zynismus oder Humor, textlich nicht von der Hand zu weisen, scheitern am eintönig<br />
hingehauchten Rosa ihre Lolita-Masche, ob Schneeweißchen nun barfuß<br />
oder in roten Stiefelchen daher tändelt. Die Arrangements mit Katzenpfotendrums,<br />
Bassgesumm, Bilitispiano, weichen Bläsern oder Streichern unterstreichen<br />
bloß - Harmlosigkeit. Die auch da harmlos bleibt, wo sie in süßer Verpackung<br />
bittere Pillen verteilt. Wenn man von ihren Verehrern die Wölfe abzöge,<br />
würde wieder die Sicht auf ein Rotkäppchen einer ganz durchschnittlichen Baureihe<br />
frei.<br />
69
VIALKA Plus vite Que La Musique (VIA, VIA-006): Obwohl er bereits<br />
seit 1994 umtriebig ist, anfänglich <strong>als</strong> Hermit, ist das meine erste Bekanntschaft<br />
mit dem 1977 im kanadischen Nanaimo, B.C. geborenen<br />
bocksbärtigen Eric Boros. Nähere Kennzeichen: Stolzer Papa, Bücherwurm,<br />
praktizierender Pazifist und Teetrinker, zuständig für Improvised<br />
/ composed / decomposed travel-guitar, electronics & voice<br />
for all occasions. Seit 2002 spielt er mit der französischen Trommlerin<br />
& Sängerin Marylise Frecheville <strong>als</strong> Vialka eine brisante Mixtur<br />
aus Vodka-poetry, break-butoh & evil-jazz. Die Partnerin (nicht nur in<br />
der Musik) des virtuosen Baritongitarreros ist eine Krawallschachtel,<br />
genau die Richtige, um Noisejazzpunkcore mit Turbofolk aufzumischen.<br />
David Kerman nannte sie und ihr verqueres Schlagzeugspiel<br />
(in einem Interview für Ragazzi) eines der am meisten beeindruckenden<br />
Talente heutzutage. Man muss sie gesehen haben<br />
(zumindest auf YouTube), wie sie live in Istanbul im <strong>Bad</strong>emäntelchen<br />
oder in Kiew mit Brille und Schürzenkleid ihre krummen Takte fetzt.<br />
Vialka hat Tonight I Show You Fuck & Republic Of The Bored & Boring<br />
herausgebracht, die DVD Everywhere & Nowhere, sowie Curiosities<br />
Of Popular Customs, letzteres aufgenommen von Bob Drake in<br />
seinem Studio Midi-Pyrénées. Dort ist auch die neue Scheibe<br />
entstanden, Lieder über Verstopfung (‚Incacapable‘), über Drogen &<br />
Traumata, die einen <strong>als</strong> alte Freunde umtanzen (‚Opera Brut‘) und<br />
über das russische Kaff, nach dem sie sich benannten (‚Gulag<br />
Song‘). Verbunden mit Abgesängen auf den Profitwahn und den Racketverbund<br />
von Politik, Wirtschaft und Medien, der die Welt zugrunde<br />
richtet (‚Trop Tard‘, ‚Ménestrels‘), die selbst so schnell sich dreht,<br />
dass sie vom Plattenteller fliegt (das Titelstück). Hilft da nur der Terror<br />
von Selbstmordattentätern? I have nothing to lose. I will never<br />
win. Choice is an illusion. I am not afraid (‚Grenade‘). Dargeboten<br />
wird das <strong>als</strong> Etron Fou Leloublan-esker Avant-Rock und aufgekratzte<br />
Fakefolklore mit viel Hohohogesang. Im Mehrspurverfahren wird die<br />
Live-Roughness veredelt, mit perkussiven und elektronischen Finessen<br />
verziert. Vor allem serviert Drake Frechevilles temperamentvolle<br />
Zunge auf einem Sílbertablett, schneidet sie dabei aber von ihrem<br />
Körper ab und verwandelt das Paar in ein mehrköpfiges, vielarmiges<br />
Phantom. Vialkas Afro-Balkan-Postpunk-No Wave zeigt sich aber unverwüstlich,<br />
unverschämt agitativ, clownesk und vogelfrei. So findet<br />
man Freunde in Beijing (Xiao He), Leeds (That Fucking Tank), Montpellier<br />
(Dure-mère) oder Tel-Aviv (Kruzenshtern & Parohod) und<br />
macht sich einen neuen in Würzburg.<br />
70
FRANS DE WAARD<br />
Für eine Ausstellung mit dem Thema ‚Mijn Domein’ belauschte FdW, nicht nur bei<br />
seinen Landsleuten <strong>als</strong> „sleutelfiguur op het gebied van experimentele, elektronische<br />
muziek“ bekannt und anerkannt, im Auftrag der holländischen Hafenstadt Vlissingen<br />
die alte Königliche Marine-Werft, genauer, die Zware Plaatwerkerij, kurz vor<br />
der Schließung. Vlissingen lagert seine Industrieanlagen aus und strukturiert um auf<br />
Tourismus, ein Akzent, der durch die Betonburgen am so genannten Panorama<br />
Strand und Boulevard ins Auge sticht. “Toen ik de hal voor het eerst binnenliep,<br />
dacht ik: wow, fantastisch, wat een geluid. Die ventilatoren, slijptollen, snijbranders,<br />
de lift die door de lucht zweeft. Dat klonk erg goed.” Wie nun auf Vijf Profielen<br />
(Alluvial Recordings, A26) zu hören, lässt FdW in fünf abgestuften Produktionsschritten<br />
die industriale Szenerie deeskalieren. Von anfänglicher Aktivität, bei denen<br />
die Geräusche eines Lifts oder der Halle selbst die eingestellte Produktion<br />
nachhallen lassen, zu immer feinkörnigeren, immer ‚flacheren’ Drones, wie von<br />
Sprühstrahlen oder Gebläsen oder einem metallischen Schaben und feinen Klingeln,<br />
und schließlich der (Beinahe)-Stille der allein noch ‚arbeitenden’ Lüftung. Die<br />
Stahlplattenproduktion ist ausgezogen, Ruhe und Kunst kehren ein.<br />
Wortspielerisch im Titel versteckt, bestimmt Frans de Waard auch Z‘evs Forwaard<br />
(Korm Plastics, kp3029) gleich mehrfach mit, durch seine Feldaufnahmen,<br />
die Z‘ev <strong>als</strong> Ausgangsmaterial benutzte, und durch seine Fotokunst, die dem Release<br />
visuell ihren Stempel aufdrückt. Das Spiel, das Z’ev nun mit FdWs Klängen spielt,<br />
ist definitiv ein PLAY LOUD-Spiel. Was ansonsten permanent vom Verkehrslärm und<br />
anfänglich zusätzlich von meiner Kaffeemaschine übertönt wird, entfaltet LAUT Detailreichtum<br />
und damit die Dramatik dynamischer Modulationen. Es wird vor allem zu<br />
einer feuchten Angelegenheit, einem Gurgeln und Rauschen wie unter Wasser oder<br />
– die Phantasie wird hier unwillkürlich spekulativ - wie in einem Atlantikwallbunker<br />
im Gewitter. Von unten rumort hohles Dongen wie aus einem großen Metallkontainer,<br />
darüber wellt sich feinmotorisches Sirren, Schnurren und Brummen. Es gluckst<br />
und lappt wie aus einem tiefen Brunnen oder einer Zisterne oder schabt wie rollende<br />
Steine auf dem Grund eines Flusses. Dazu braucht man nicht gleich ein U-Boot-<br />
Bild zu bemühen, es genügt vielleicht, die Klangwelt eines Krebses oder sonstiger<br />
Bewohner des feuchten Elementes zu halluzinieren. Nur dass solche ‚naturnahen’<br />
Phantasien durch industriale oder abstrakte, sprich bildlose Geräuscheinschlüsse<br />
nicht durchzuhalten sind. Sonst könnte man ja gleich seine Schuhe schnüren und zu<br />
einem Spaziergang mit offenen Ohren losstiefeln.<br />
2004 war Sijis_rmx (sijis08) ausschließlich eine Sache von Frans de Waard gewesen,<br />
der damit den Sijis-Backkatalog in einer Remixversion komprimierte. Die expanded<br />
edition Freiband rmx (Sijis, siji08X, CD-R) bringt einen Alternativmix des Freiband-Tracks<br />
und fünf weitere, von den Sijis-Acts Sluggo, Scott Taylor, J Torrance<br />
und Mutton Deluxe sowie von Ex-Contrastate Srmeixner. Wobei ich nicht<br />
durchschaue, ob diese Mixe nun ebenfalls auf Sijis-Stoff basieren, oder ausschließlich<br />
auf der Viertelstunde von Freiband. FdW hat jedenfalls (nur) eine ambiente Küstenlinie<br />
gezogen, vielleicht eine niederländische, jedenfalls eine dröhnminimalistisch<br />
schwingende Kurve aus sonorem Summen und Gischt. Dass da Vogelstimmen,<br />
Froschgeknarre oder Insekten zu hören sind, das bilde ich mir vielleicht auch bloß<br />
ein. Flachland möchte ich <strong>als</strong> Stichwort aber festhalten. Mutton Deluxe geht seine<br />
4:12 opulenter an, mit orgelndem und schleifendem Auf und Ab, einem stimmhaften<br />
Halteton, der dramatisch zu mäandern beginnt. Meixners dreieinhalb Minuten tupfen<br />
den Raum mit dunklen aleatorischen Tupfen, dazu erfinden Gitarre und Bass melancholisch<br />
fast so etwas wie eine Melodie. J Torrance scheint dann tatsächlich den<br />
Freibandstoff neu aufzumischen, gewittriger, grollender, wummriger, gleichzeitig<br />
mulmiger und grobkörniger, durchswoosht von peitschenden Akzenten. Taylor betont<br />
das gischtige Element, ein zischendes Sprühen, das hin und her wandert wie<br />
der Strahl eines Spritzschlauches oder ein Windkanalfauchen, vor einem Hintergrund<br />
aus vage pulsierendem Gedröhn. Sluggo stapft mit kosmischen Gummistiefeln<br />
umher, peitscht und zischt und bohrt wie ein multifunktionaler Kampfroboter,<br />
der aber schnell ausfällt und nur noch ein klägliches Notsignal aussendet. Ein, na<br />
was schon, ein Dröhnen schwillt ganz allmählich an... - ein Pfeif-Wummer-Gemisch,<br />
das sich in Wohlgefallen auflöst. Zum Schluss dann nochmal Freiband, ähnlich wie<br />
gehabt (laienhaft ausgedrückt, rmx-Ohren hören das sicher anders).<br />
71
R L W<br />
A.M.T. Nmpering<br />
Riley Idea Fire Company<br />
Chion Gregorio<br />
Haino Hodell<br />
If, Bwana Tietchens<br />
Vrtacek Mirror<br />
Ikeda Asano<br />
Solid Eye Russell<br />
Toy Bizarre ErikM<br />
Scelsi<br />
Alptraum? An Archivist’s Nightmare<br />
(Beta-Iactam Ring Records,<br />
Black Series negro 2) ist<br />
pures Vergnügen, dem ich über<br />
die vollen 60 Minuten mit gespitzten<br />
Ohren lausche. RLW<br />
verliest nämlich eine Liste der<br />
Tonträger, die sich ‚in letzter<br />
Zeit’ bei ihm ansammelten. An<br />
die 1000 Stück! Und dabei lässt<br />
er in seiner Litanei noch die<br />
weg, die er für nicht erwähnenswert<br />
hält (was das wohl<br />
sein mag?). Zwischendurch liest<br />
Mrs. W in ungeübtem Englisch<br />
aus RLWs Korrespondenzen,<br />
gipfelnd in einem Call & Response-Duett<br />
mit W Jr., der<br />
nach Gehör ‚Muttersprache’ mit<br />
umwerfendem ‚Kinderklang’<br />
nachbrabbelt. RLWs chronologisches<br />
Sammelsurium wird Archäologen<br />
des 23. Jhdts. einige<br />
Rätselnüsse zu knacken geben,<br />
welche Kultur sie da wohl ausgegraben<br />
haben. Für mich sind<br />
die Namen und Titel, in ungeniertem<br />
‚Mutant Deutsch’ emotionslos<br />
aufgelistet und 2003<br />
<strong>als</strong> Radio Resonance-Stunde<br />
über den Äther verbreitet, die<br />
konkreteste Poesie. Was für<br />
eine Gold schürfende Auslese,<br />
an der sich jeder Connaisseur<br />
delektieren kann, dem der bloße<br />
Klang der polyglotten Namen<br />
Musik in den Ohren ist. Statt bekanntem<br />
Einerlei, füllt RLWs Archiv,<br />
<strong>als</strong> sei es das Norm<strong>als</strong>te<br />
auf der Welt, nur das, was im<br />
Ocean of Sound Willkommen in<br />
der Gegenwart und Mensch zu<br />
dir zu sagen versucht.<br />
The pleasure of burning down churches (Black Rose Recordings,<br />
BRCD 07-1009), Ralf Wehowskys zweiter Beitrag<br />
zu Stephen Meixners kleinem Labelprogramm, zeigt<br />
seine Dornen erst auf den zweiten Blick. Bei brennenden<br />
Kirchen denkt man unwillkürlich an Burzum und zündelnde<br />
Schwarzkutten. Mit etwas längerem Gedächtnis<br />
vielleicht auch an rassistische Feuerteufeleien im amerikanischen<br />
Bible Belt, die seit 1882 ‚Tradition’ haben<br />
und Mitte der 1990er sogar noch einmal epidemisch aufflammten.<br />
RLW begegnete den ‚Goblins of Hate’ in der<br />
banalen Gestalt eines ehemaligen US-Piloten, dem im<br />
Vietnamkrieg Kirchtürme ein attraktives Ziel geboten<br />
hatten. Immer noch stolz wies er RLW, der auf einer Vietnamreise<br />
Mitte der 90er seinen Nostalgietrip kreuzte,<br />
auf ‚seine’ Ruinen hin. "We were all orcs in the Great<br />
War", um es mit Tolkiens Worten zu sagen. RLW umkreist<br />
das Thema Vietnam mit dem Brummen von Flugzeugen,<br />
mit dem Erinnerungen, Alpträume und vielleicht die Luft<br />
selbst noch wie imprägniert zu sein scheinen, auch<br />
wenn in Hanoi längst Alltag eingekehrt ist. Als hektisches<br />
Verkehrsgehupe oder <strong>als</strong> Straßentheater. Eine andere<br />
Sorte von Orks fängt RLW mit ‚helplessly friendly’ ein. Ein<br />
querulantes Schandmaul hadert mit einer „Nazifotze“<br />
von Gerichtssekretärin (meist in Gestalt eines Anrufbeantworters),<br />
weil seine Strafanzeigen von dem<br />
„Verbrecher“ und „Kinderficker“ namens Klob unterschlagen<br />
werden und die „Mörderbande“ immer noch<br />
nicht vor Gericht gestellt wurde. In der Warteschleife<br />
pfeift der theatralische Troll rechthaberisch vor sich hin.<br />
‚Burning pianos’ sublimiert – in Anspielung an Fluxus-Aktionen<br />
von Al Hansen (Piano Drop), Maciunas & Corner<br />
(Piano Activities) oder Andrea Lockwood (Piano Transplant<br />
Series) und an die Monterey-Performance von<br />
Hendrix – die Lust am Zerstören in sublime Geräuschkunst,<br />
in ein Rumoren und sirrendes Pfeifen, inmitten<br />
dessen im Innenklavier geharft und gedongt wird. Broken<br />
Music, Kapotte Muziek, in der, wie immer bei Wehowsky,<br />
Ironie und Therapie, Sympathie und Akribie ein<br />
Ununterscheidbares bilden, das sich über das Lebensnotwendige<br />
erhebt und zu flüstern scheint: Es gibt ein<br />
richtiges Doppelleben im F<strong>als</strong>chen.<br />
72
* V/A Das Dieter Roth oRchester spielt kleine wolken, typische<br />
Scheiße und nie gehörte musik (intermedium rec. 026) hatte anno<br />
2006 seine Ursendung auf Bayern2Radio, wo die Hörspiel- und Medienkunst<br />
liebevoll gehegt und gepflegt wird. Dabei handelt es sich bei dieser Hommage<br />
an den bildenden Künstler Dieter Roth eher um eine Compilation liedhafter<br />
Interpretationen dessen literarischer Ergüsse, herausgegeben von<br />
Wolfgang Müller und Barbara Schäfer. Roth war auch auf dem schriftstellerischen<br />
Gebiet überproduktiv. Diese CD stellt <strong>als</strong>o eher ein Album von<br />
Neu-Interpretationen dar und kein Hörstück im eigentlichen Sinne. Die Idee<br />
hierzu stammt vom ebenfalls bildenden Künstler und Island-Fan Wolfgang<br />
Müller (alias Úlfur Hródólfsson, ex Die Tödliche Doris) der das Roth-Buch<br />
„Frühe Schriften und typische Scheiße“ irgendwann auf einem Berliner<br />
Wühltisch für 3 Mark entdeckte. Und damit wohl auch seine Geistesverwandtschaft<br />
– war der ebenfalls in Island wirkende Dieter Roth nicht auch<br />
irgendwie ein, äh, genialer Dilettant, ein Bruder im Geiste? Für sein Projekt<br />
holte sich Müller Unterstützung bei alten Bekannten wie Brezel Göring und<br />
Françoise Cactus (Stereo Total, Wollita), bei seinem Bruder Max Müller<br />
sowie dessen Band Mutter, aber auch bei Khan, Trabant (aus Island)<br />
oder NAMOSH. Wolfgang Müller, der solo zu trivialem Electro-Pop neigt,<br />
steckt wiederum hinter dem Walther von Goethe Quartett und den beiden<br />
schwulen Stoffpuppen Armand & Bruno, die sich mit der Häkelpuppe<br />
Wollita angefreundet hatten, <strong>als</strong> diese <strong>als</strong> sexistisches (Nicht-) Kunstwerk<br />
von der Berliner Boulevard-Presse angefeindet wurde (zu diesem Thema ist<br />
übrigens ein Taschenbüchlein mit 3“CD im Martin Schmitz Verlag erschienen).<br />
Überraschenderweise ließen sich die Texte von Dieter Roth auch zu<br />
wunderbaren Popsongs formen. Die Beiträge von Stereo Total oder Wollita<br />
sind in dieser Hinsicht zwei Meisterwerke. Andreas Dorau schafft es<br />
leider nicht, daran anzuknüpfen, ihm gelingt trotzdem ein für ihn typisches<br />
Electro-Groove-Stück. Überhaupt klingen viele Tracks typisch für ihre Erzeuger.<br />
Offensichtlich lassen diese Texte hierzu genügend Spielraum – im<br />
Gegensatz zu gängigen Musik-Tribute-Projekten. Ghostdigital (ein Projekt<br />
eines ehemaligen Sugarcubes-Musikers) erinnern mich irgendwie an<br />
Therofal von The Blech im bassbetonten Elektronikkleid, welches bei mir<br />
wiederum Assoziationen an Werke von Goebbels/Harth aus den 1980ern<br />
weckt. Nach 17 Beiträgen nicht ganz so vieler Künstler gibt es <strong>als</strong> Zugabe<br />
mit ‚doit again‘ noch ein verschroben groovendes Stück von Mouse On<br />
Mars. Insgesamt gilt: Typische Scheiße, interessant aufgearbeitet! GZ<br />
V/A Heizung Raum 318 (1000füssler 008): Eine Heizung <strong>als</strong> Klangkörper,<br />
sogar <strong>als</strong> Musikinstrument? Wenn man am Thermostat dreht, ändert sich<br />
die Tonhöhe der Pfeif- und Brummtöne, den speziell die drei Heizkörper im<br />
Raum 318 aussenden. Das ist ein Raum, in dem sich seit einigen Jahren<br />
Hamburger Geräuschkünstler treffen. Es war wohl nur eine Frage der Zeit,<br />
bis der musikalisch nutzbare Aspekt der schlecht funktionierenden Wärmespender<br />
erkannt wurde. Die Heizung an sich hört man <strong>als</strong> ‚Ausgangsmaterial‘.<br />
Daneben dann, eingerahmt von Stefan Funck, die Verarbeitungen<br />
von Gregory Büttner, Funcks Partner in Für Diesen Abend und<br />
1000füssler-Gründer, von Nicolai Stephan, der eigentlich und hauptsächlich<br />
Fotograf & Filmemacher ist, und von Asmus Tietchens, dessen<br />
Erfahrungsschatz mit Geräuschquellen Wasserhähne und Druckmaschinen<br />
mit einschließt. Entsprechend seiner spöttischen Warnung vor dem ‚Mythos<br />
Basismaterial‘ genügt den Vieren ein denkbar prosaischer Alltagsgegenstand,<br />
um damit alle gestalterischen Finessen von ‚Geräuschmusik‘, von<br />
Musique concrète <strong>als</strong> Kunst der feinen Modulationen, auszureizen. Das Material<br />
beginnt zu ‚sprechen‘, bei Büttners ‚heiz‘ fast wörtlich, mit paranormalen<br />
Zisch- und Labiallauten, feucht-dampfig und geisterhaft, von feinen<br />
Drähtchen oder Kristallen durchknistert. Tietchens überrascht mit munterer<br />
Rhythmisierung, bei fast noch ausgeprägterem Electronic Voice-Phänomen.<br />
Bei Stephan ‚spricht‘ kein Geist aus der Heizung, dafür klickert und tackert<br />
‚es‘ (sie?) stottrig impulsiv und äußerst heftig. Ein Morsecode? Aber<br />
eigentlich ist schon der O-Ton ausnehmend pfiffig.<br />
73
V/A Otherness: Curated by DAVID COTNER<br />
(Sonic Arts Network 05.07, CD + Booklet): Wer<br />
sich zum Ziel gesetzt hat, „to inspire by example,<br />
inform by design, incite by amazement“, wie der<br />
1970 in L.A. geborene Literalist und Hertz-Lion-<br />
Macher David Cotner, der bringt auch schon mal<br />
Backsteine oder Schuhe zu Klingen. Bekannt ist<br />
Cotner für seine Actions communiqué-E-Mails,<br />
eine erschöpfende Fleißarbeit, die einen ausgiebig<br />
mit Leftfield-Nachrichten versorgt über Avant-<br />
Aktivisten und Black Hole-Aktivitäten, die er akribisch<br />
vernetzt mit Hertz-Lion, einem Portal zu<br />
den ‚Grey Areas‘ des ‚eternal Now‘. Sein Beitrag<br />
zur Sonic Arts Network-Reihe, illustriert von<br />
Jeffrey Catherine Jones formerly known <strong>als</strong> der<br />
Fantasy- & SF-Illustrator Jeff Jones, dreht sich um<br />
‚das Andere‘. Cotner fasst Otherness, den zentralen<br />
Begriff in Emmanuel Lévinas Face-to-face-<br />
Ethik oder Michael Taussigs marxistischer Anti-<br />
Ethnologie, auf <strong>als</strong> „in-betweenness“ und „boundless<br />
imagination“, wobei er sich von Alterity <strong>als</strong><br />
Subjekt-Objekt-Konstrukt distanziert. Tina Manske<br />
schreibt dazu in www.titel-forum.de ganz treffend:<br />
“Wer an dieser Stelle denkt: Mist, da erwartet<br />
mich möglicherweise etwas, was meinen Horizont<br />
erweitert – der hat ganz bestimmt recht.“<br />
Als akustische Illustratoren von Otherness vernetzt<br />
Cotner Cluster & Eno, Faust, Roland<br />
Kayn, Conrad Schnitzler, Stockhausen, Lee<br />
Ranaldo und David Toop mit Robert Haigh,<br />
Mick Harris, Kallabris (Dr. phil. Michael Anacker<br />
räsoniert über die Blessuren, die einem das<br />
Unerwartete beschert), Eddie Prévost (mit flirrendem<br />
Solo-Tam-Tam), Michael Prime (mit<br />
hörbar gemachter Bioaktivität von Shiitakepilzen),<br />
Ramleh (Gary Mundy im Alleingang 1986),<br />
Rapoon (Robin Storey mit outsider-melancholischen<br />
Moments of Beauty), dem Beequeen-Nachfolgeprojekt<br />
Wander und Z‘ev. Und er sprenkelt<br />
diese kraut-akzentuierten ambienten Mysterien<br />
aus Elektronik, Ethno- und Xenophonie - Ranaldo<br />
belauschte Lautsprecherdurchsagen der Shibuya-U-Bahn-Station<br />
in Toyko, Toop einen zeremoniellen<br />
Dialog südvenezuelanischer Yanomamos -<br />
mit Dissonant Elephant (japanisch angehauchter<br />
Neofolk aus Frankreich), Ecclesiastical<br />
Scaffolding (Drone-bekannte australische<br />
Ambientelektronik von Blair Rideout), Kraig<br />
Grady (kalifornischer Outside- & In Between-<br />
Mikrotonalist und Anaphoria-Insulaner ehrenhalber<br />
-> www.anaphoria.com), Indian Jewelry<br />
(Swarm of Angels-verbundener Girlgang-Act aus<br />
Texas mit Invasive Exotics-Freakfolk), Lovely<br />
Midget (Ex-Fischmunt Rachel Shearer aus Neuseeland<br />
mit Kiwi-Drones), The Mystical Unionists<br />
(Duo der Lavender Diamond-Frontwoman<br />
Becky Stark) und Sedayne (Ex-Metgumbnerbone<br />
Sean Breadin, happily wandering the hinterlands<br />
mit seiner hermetisch-traditionellen Folklore).<br />
Wurm- und Karnickellöcher zuhauf, um durch zu<br />
rutschen zu Inseln und Hinterländern, in denen<br />
die verkehrte Welt upside down tanzt. Amazing.<br />
74
SOUND AND VISION<br />
Sehen mit Ohren? Das Auge hört mit? Wie auch immer. Die Film & Musik-Abteilung<br />
bescherte mir diesmal Schallundrauch (NurNichtNur 106 11 11, 3“ DVD, 22<br />
Min.), einen Flohhustwalzer von UTE VÖLKER mit Bildern von ERIKA ENDERS.<br />
Für Völkers Akkordeontönchen braucht man feine Ohren. Enders verbrennt<br />
dazu Streichholzheftchen und wer ganz feine Ohren hat, der hört das Feuer in<br />
ppp knistern. Die kleinen Zündelflämmchen verkohlten wie Kämme, verwandeln<br />
sich in schwarz verkrümmte Brandleichen mit grauen Köpfchen und machen<br />
dabei erstaunlichen Effekt. Dann sieht man die roten Streichholzköpfchenreihe<br />
von oben, die Flamme frisst sich von links und rechts darauf zu, die Opfer krümmen<br />
sich und entflammen. Die Musik ist nun etwas mehr in Schwung gekommen,<br />
ein Hauch von Beat sorgt für Bewegung, auch die Flämmchen selbst knistern<br />
und zischeln. Im dritten Akt stehn die Zündheftchen in roten Pantöffelchen Spalier,<br />
der Feuerteufel verkohlt sie erneut zu bizarren schwarzen Skulpturen, zu<br />
vielbeinigen, sich in stummer Agonie krümmenden ‚Spinnen‘. Dazu hört man erst<br />
nur ein Schaben, bis allmählich auch das Akkordeon wieder zu atmen anfängt.<br />
Schallundrauch ist eine heiße Sache, die hält, was sie verspricht.<br />
Fast möchte ich die düsteren Märchenbilder und melancholischen Klänge von<br />
Poca Luce, Poco Lontano (Noble Records, CXBL-1002, DVD, 36 Min.) für etwas<br />
durch und durch Alteuropäisches halten, eine Arbeit aus Tschechien etwa. Aber<br />
die blau oder braun getönen Szenerien und nächtlichen Visionen stammen von<br />
NA<strong>BA</strong>KAN, das ist Hisakazu Nakabayashi, ein Maler und Kinderbuchillustrator<br />
in Tokyo. Die kammermusikalische Stimmungsmalerei zu seinen langsam morphenden<br />
Laterna magica-Bildern von Häusern, Straßen, schattigen Landschaften,<br />
durch die sich dunkle Gestalten bewegen, von Vögeln, fallenden Blättern<br />
oder Wassertropfen, die schuf ATSUKO HATANO. Sie plonkt ihr Cello, spielt<br />
Geige, Einfingerpiano, Melodica(?), fast immer wie in Zeitlupe, simpel und ganz<br />
in Tristesse getaucht. Nakabans bewegte Gemälde nehmen ab und zu Farbtönungen<br />
an und erinnern dann an Malerei der 50er Jahre, Willi Baumeister z. B.<br />
Auf ‚Stone‘ folgt ‚Tree‘, auf ‚Tree‘ ‚Water‘, aufsteigende Blasen im Mitternachtsblau.<br />
Zum Abschluss singt Hatano mit Kinderstimme ein ganz wehmütiges, verhuschtes<br />
Lied. Happy Ends klingen anders. Hier bleibt alles Ton in Ton unheimlich<br />
und wie geträumt.<br />
Für Camera Lucida (L-NE, DVD Line 030) wurde ein physikalisches Phänomen<br />
genutzt, bei dem eine Flüssigkeit unter starken Druckschwankungen ultrakurze,<br />
hochenergetische Lichtblitze aussendet, seit seiner Entdeckung 1934 an der<br />
Universität Köln bekannt <strong>als</strong> Sonolumineszenz (von lat. sono „tönen“, luminesco<br />
„leuchten“). Dass die Video- & Installationskünstler EVELINA DOMNITCH &<br />
DMITRY GELFAND für das blau geisternde Bildschirmschonergeflimmer dabei<br />
tatsächlich physikalische Korrespondenzen zwischen den mikroelektronischen<br />
Sounds von Taylor Deupree + Richard Chartier, Alva Noto, Alexander<br />
Kaline, Asmus Tietchens, Kenneth Kirschner, Matmos, Coh und Carter<br />
Tutti sichtbar werden lassen, das verbreiten die sehr klein gedruckten Linernotes<br />
mit einiger Ausführlichkeit. Der ‚Mythos Basismaterial‘ siedelt das Geschehen<br />
an Physikalischen Instituten der Univ. Göttingen und in Japan an, nennt<br />
eine Reihe von Wissenschaftlern und ihr Rezept, per Ultraschall und einem Gemisch<br />
aus 97% Schwefelsäure und Xenongas, die implodierenden Mikrobläschen<br />
<strong>als</strong> blauen Dunst videografierbar zu machen. Ich kann in der reizvollen<br />
visuellen Chaotik zwar keinerlei dynamischen oder rhythmischen Zusammenhang<br />
zu den Klängen feststellen, was aber den psychedelischen Effekt der (auf<br />
schwarzer ‚Leinwand‘) ultramarin schimmernden und turbulent morphenden<br />
‚Wasserstrudel‘, gauloisblauen ‚Rauchkringel‘ und lumineszent tanzenden Glühwürmchen<br />
keineswegs mindert und der Schönheit der rasenden Lichtfäden und<br />
flüchtigen Leuchtspuren erst recht keinen Abbruch tut. Das zugehörige oder<br />
zumindest begleitende minimalistische Funkeln, sirrende Dröhnen, nadelspitze<br />
oder angeraute Pulsieren, kristalline Knistern, koboldige Zucken, sonore Tüpfeln,<br />
hauchdünne Schillern versetzt einen in synästhetische Verwirrung. Eine<br />
gutartige Verwirrung, die auf gutartige Klang- und Lichtgeister schließen lässt.<br />
75
Mit 23 ZOOMS (1000füssler, DVD-R, 60:24 + CD-R,<br />
<strong>55</strong>‘) vertiefte sich GREGORY BÜTTNER mit audiovisueller<br />
Akribie in Privatfotos, die er auf Flohmärkten<br />
gefunden hat. Die 23 Clips bestehen aus<br />
Zooms und Schwenks über Motive wie ‚junge mit<br />
flugzeug‘, ‚alter mann‘, ‚waldbank‘, ‚winterspaziergang‘,<br />
‚strandspiel‘, ‚frau auf schienen‘,<br />
‚<strong>als</strong>ter‘ oder ‚zimmer mit vase‘. Es sind Fotos in<br />
Schwarzweiß und in Farbe, manche verblasst,<br />
manche etwas unscharf, meist vermutlich aus<br />
den 50ern bis 70ern. Indem der Kamerablick ganz<br />
langsam die Bilder abtastet und erst allmählich<br />
von Details auf die Totale zurück fährt oder umgekehrt<br />
vom ganzen Motiv weg sich in Einzelheiten<br />
vertieft und darin à la Blow Up verliert, werden<br />
die Fotos zu riesigen Leinwänden, zu fotorealistischen<br />
Arbeiten von Gerhard Richter. Ausschnitte<br />
wirken dabei wie abstrakte Gemälde. Die<br />
Musik dazu ist kongenial unscharf, körnig oder<br />
weichgezeichnet, nostalgisch wie Philip Jeck, oft<br />
mit 40er Jahre-Touch. Mit patinierten Memories<br />
wie ‚Spanish Eyes‘ bei einem Senior, dem sein Kanarienvogel<br />
beim Briefschreiben über die Schulter<br />
blickt. Büttner scheint mit seinen Sounds &<br />
Visions die Fotos doppelzubelichten, mit einer<br />
psychologisierenden Einfühlsamkeit, die manchmal<br />
etwas geradezu Unheimliches in diesen eingefrorenen<br />
Momenten der Vergangenheit aufspürt.<br />
‚kinder im schnee‘ ist freiweg morbide,<br />
‚weihnachtsbaum‘, ‚schwestern‘ und ‚rote bowle‘<br />
gespenstisch, ‚gipfel‘ so erhaben erstarrt wie<br />
Caspar David Friedrichs Kreidefelsen und Eisschollen.<br />
Büttners Musik nimmt mehrm<strong>als</strong> Spieluhrcharakter<br />
an oder etwas Geisterhaftes, <strong>als</strong> ob<br />
sie aus dem Swedenborgraum herüber schallen<br />
würde, wie durch eine Membrane gefiltert. Sogar<br />
ein Dackel wird da zum Geisterhund, ein ‚zimmer<br />
mit vase‘ zu einem Stillleben verlorener Zeit. Ich<br />
selbst fand kürzlich auf dem Flohmarkt für 2 EUR<br />
ein schmales Buch von Wilhelm Genazino. Darin<br />
lese ich, wie er ebenfalls auf einem Flohmarkt auf<br />
eine Fotografie stieß, die ihn zu der Betrachtung<br />
‚Der gedehnte Blick’ anregte. Darin räsoniert er<br />
über die tragikomische Spiegelung der Melancholie<br />
der Welt im Blick der beiden Kinder auf dieser<br />
Fotografie. Über die Arbeit der Einbildungskraft.<br />
Über die Aporie, durch Spekulation die Welt verstehen<br />
zu können. Über den Umbau des kindlichen<br />
Verstehensoptimismus des Auges, das perplex<br />
ein Verstehenkönnen vertagen muss. Was<br />
sich niederschlägt <strong>als</strong> Melancholie oder zynische<br />
Erwachsenenvernunft. Vernunft heißt wissen,<br />
dass Bedeutung nur kurz <strong>als</strong> Epiphanie in einem<br />
Bedeutungstheater aufscheint. Ein erfahrener<br />
‚Konstrukteur des Schauens’ „bringt es fertig, aus<br />
stehenden Bildern bewegliche zu machen, weil er<br />
erfahren darin ist, sich etwas Totes <strong>als</strong> Lebendiges<br />
zu denken.“ Die 23 ZOOMS sind Übungen des<br />
‚gedehnten Blicks’. Und Büttner füllt zudem den<br />
blinden Fleck in Genazinos stummer Betrachtung<br />
– mit Musik, in der Erinnerungen und Sehnsucht<br />
gleichzeitig anklingen.<br />
76
LEST, IHR RATTEN<br />
Martin Schmidts kleines SURF BEAT-ABC (Ventil Verlag) kommt mir vor wie ein Mittelding<br />
zwischen der Sendung mit der Maus, allerdings mit Rat Fink <strong>als</strong> Maus, die einem<br />
erklärt, wer wer war (und ist) in der Surf- und Instromusik und wie die funktioniert, und<br />
einer Kochsendung – hier sind die Zutaten, für unser Rezept nimmt man seit 50 Jahren…<br />
Der Autor kennt sich in der Materie aus <strong>als</strong> Redaktionsmaus des Szenemagazins<br />
Banzai! und ist selbst Koch mit The Razorblades und <strong>als</strong> The Incredible Mr. Smith. Den<br />
Nachgeborenen muss man tatsächlich erst mal alles erklären: Was ne Danelectro ist,<br />
wozu man unbedingt ne Fender Stratocaster braucht, ne Gibson SG, Gretsch, Jazzmaster,<br />
einen Precision Bass und Fender Amps, welchen Stellenwert Glissandi einnehmen,<br />
Muted Picking oder der ‚Twang’ und wie der Surf Beat geht (durchgehende Achtel<br />
auf dem Ridebecken, Bassdrum auf der 1 und 3 und ein Snare-Doppelschlag auf dem 2.<br />
und -Einzelschlag auf dem 4. Beat). Die Rolle von Ikonen wie Batman und James Bond,<br />
von Biker- und Mafia-Movies, Italowestern, Tiki Culture, Goin’ Ape und dem ganzen Hawaii-Rave.<br />
Und die stilprägenden Hits der ersten Generation: ‚Rumble’ von Link Wray<br />
1958, ‚Apache’ von The Shadows, Henry Mancinis ‚Peter Gunn’ von Duane Eddy, ‚Walk,<br />
Don’t Run’ von The Ventures 1960, Joe Meeks ‚Telstar’ von The Tornadoes 1961, ‚Wipe<br />
Out’ von den Surfaris, ‚Miserlou’ von Dick Dale, ‚Pipeline’ von den Chanteys 1963. Wer<br />
wie ich 1954 geboren ist und <strong>als</strong> Kind mit Radio bedudelt wurde, der hat Instro-Schlüsselreize<br />
und -Prägungen intus vor allem durch Duane Eddys von Lee Hazelwood auf<br />
XXL aufgeblasene Twang-Monster, von ‚Rebel Rouser’ 1958 bis ‚Deep in the Heart of<br />
Texas’ und ‚Dance with the Guitar Man’ 1962. Mit Surfen hatte das selbst in Kalifornien<br />
nur am Rande zu tun. Was heute <strong>als</strong> skurriler Spleen erscheint, war, bevor es von der<br />
British Invasion weg gespült wurde, eine Hochzeit von Novelty-Sound, Style und Sophistication,<br />
mit dem Rumblin’ <strong>als</strong> Rebel-Credibilty und mit Mainstreamappeal nicht zuletzt<br />
durch die Lounge- und Exotica-Tunes <strong>als</strong> Traumkulisse, Lifestyledressing und Frostschutzmittel<br />
im Kalten Krieg.<br />
Die Beatles und die Stones waren nicht zuletzt deshalb so attraktiv, weil sie eine weit<br />
klarere Wasserscheide bildeten zwischen einer Youth Culture und bloßer Freizeitkultur.<br />
Was da nach 1963 passé gewesen war, erlebte zu Punk- und New Wave-Zeiten <strong>als</strong><br />
Zweite Welle und Surf Revival eine kaum bemerkte Wiederbelebung, mit Jon & The<br />
Nightriders <strong>als</strong> erfolgreichster Band und The Cruncher und Fenton Weills <strong>als</strong> Pionieren<br />
der deutschen Surf-Rezeption. All das wäre wohl kaum der Rede wert, gäbe es da nicht<br />
das Phänomen der 3rd Wave, das Schmidt <strong>als</strong> ‚Pulp Fiction und die Folgen’ überschreibt.<br />
Tarantinos Film und insbesondere der Soundtrack mit ‚Miserlou’, ‚Bustin’<br />
Surfboards’, ‚Comanche’ und ‚Surf Riders’ ließ Surf- und Instroaficionados wie Pilze<br />
sprießen und machte Surf Beats wieder zum internationalen Stil, mit Dutzenden von<br />
Bands von Belgien (Fifty Foot Combo) über Finnland (Laika & The Cosmonauts), Kanada<br />
(Shadowy Men on a Shadowy Planet) oder Kroatien (The Bambi Molesters) bis Norwegen<br />
(The Beat Tornados) und Schweden (Langhorns), mit The Mermen, Los Straightjackets,<br />
Man or Astro-man? und vor allem Slacktone in den USA selbst. Schmidt nutzt<br />
hier die Gelegenheit, die Krautsurf-Szene <strong>als</strong> eine besonders virulente zu präsentieren.<br />
Dass es sich tatsächlich um eine Szene handelt, vermittelt er mit ‚Surf Community – Labels,<br />
Fanzines, Websites, Radiowellen…’ Als ‚Artverwandtes’ mixt er dazu noch die B-<br />
52’s mit ihrem 50s-Flohmarkt-Pop, den Psychobilly von The Cramps, Brian Setzer mit<br />
seinem Neo-Rockabilly, den Trashfusel von The Turbo A.C.’s und Asbachspritzer wie<br />
John Barry, Martin Böttcher, Henry Mancini, Ennio Morricone, Peter Thomas zu einem<br />
Cocktail mit Green Onions von Booker T. & The MG’s, nach dem sogar Nichtschwimmer<br />
surfen könnten.<br />
Die lexikalische Darstellungsweise, die lauter einzelne Käsehäppchen an Plastikspießchen<br />
serviert, macht es schwer, sich eine Chronologie der Ereignisse zusammen zu<br />
reimen und popkulturelle Hall- und Echoeffekte im Zusammenhang & -klang zu erkennen.<br />
Als Appetizer und um Smalltalk-Kompetenz vorzugaukeln, reicht Schmidts Crashkurs<br />
aber locker aus. Wer den Geschmack intensivieren möchte, greift zu The Golden<br />
Age of Rock Instrument<strong>als</strong> von Steve Otfinoski, David Toops Exotica: Fabricated Soundscapes<br />
in a Real World und Elevator Music - A Surreal History of Muzak von Joseph<br />
Lanza oder hört sich an, wie Marc Ribot bei John Zorns The Gift seine Gitarre zum<br />
Surfbrett werden lässt.<br />
77
Unter extravagant versteht man das Gegenteil von edel und zurückhaltend, etwas<br />
Schrilles und Außergewöhnliches. Der <strong>als</strong> Veranstalter der Kieler ‚Sitzdisco’ Discohockern<br />
nicht ganz unbekannte Jens Raschke lädt unter dem Titel DISCO EXTRA-<br />
VAGANZA (Ventil Verlag) ein auf ‚Eine Reise ins Wunderland der sonderbaren Töne’,<br />
wobei ihm, wie schon Goethe erkannt hatte, Sonderbares hauptsächlich <strong>als</strong> das Unzulängliche<br />
und (nahezu) Unbeschreibliche entgegen schallt. Im angelsächsischen<br />
Raum ist dieses Sonderbare <strong>als</strong> ‚incredible strange’ bekannt. Seit V. Vales & A. Junos<br />
Incredible Strange Music (Re/Search, 1993/94) kann man sich sogar auf Jello Biafra<br />
berufen, wenn man etwa Klaus Beyer einem Nichtdeutschen begreiflich machen will<br />
– er ist ‚incredible strange’, seine Beatles-Lieder Songs in the Key of Z, wie Irwin Chusid,<br />
ein weiterer Kenner & Liebhaber von ‚Man muss es hören um es zu glauben-<br />
Musik’, das genannt hat. In der Disco Extravaganza tummeln sich Outsider neben Celebrities.<br />
Neben harmlosen Spinnern wie Alvin Dahn mit seinem Größenwahn oder<br />
dem paranoiden Marlin Wallace aka The Corillions, Menschen mit einem Draht zu höheren,<br />
zumindest extraterrestrischen Kräften, die ihnen den Floh ins Ohr setzen, unbedingt<br />
die Welt mit ihrer Musik beglücken zu sollen, findet man jene eitlen Tröpfe, die<br />
dem sprichwörtlichen Esel auf dem Eis noch die Schau stehlen wollen, indem sie zum<br />
Mikrophon greifen. Raschke kann in letzterer Kategorie mit mehr oder weniger mildem<br />
Spott Goldkehlchen vorführen wie William Shatner, Joseph Beuys, John Wayne<br />
und, etwas an den Rasputinhaaren herbei gezogen, Charles Manson. Die ‚Outsider’<br />
quellen gleich aus mehreren Schubladen: Als ‚Do It Yourself’ führt Raschke tragische<br />
Fälle vor wie den schwedischen Geek Anton Maiden (1980-2003) mit seinem Iron Maiden-Karaoke,<br />
Kuriosa wie die One Man Band Bob Vido (1915-1995) und das kultige<br />
The Langley Schools Project, bei dem der kanadische Lehrer Hans Fenger 1976/77<br />
seine Schüler Popsongs hatte singen und spielen lassen wie sie die Welt noch nicht<br />
gehört hatte. ‚Jenseits der Menopause’ begegnet man munteren Damen wie der<br />
Möchtegern-Operndiva Florence Foster Jenkins (1868-1944), die mit ihren Gejaule<br />
sogar die Carnegie Hall erschütterte, der neuseeländischen Krankenpflegerin Wing<br />
im Carpenters-, Elvis- und Abba-Delirium, das ihr einen Auftritt in South Park verschaffte,<br />
oder Lucia Pamela (1904-2002) und ihren Into Outer Space-Songs, für die<br />
auch schon Stereolab ein Faible entwickelte. Als ‚Joyful Noises’ präsentiert Raschke<br />
ein gewissermaßen spirituelles Sammelsurium (Anton Szandor LeVey, L. Ron Hubbard<br />
etc.) und <strong>als</strong> ‚Nicht von dieser Welt’ ein spiritistisches Völkchen vom EVP-Guru<br />
Friedrich Jürgenson (1903-1987), der bereits bei C. M. von Hausswolff wieder zu Ehren<br />
gekommen ist, über Rosemary Brown (1916-2001), der sämtliche Komponisten<br />
von Rang aus dem Swedenborgraum neue Kompositionen diktierten, bis zu Linda J.<br />
Polley, die einen entsprechenden Draht zu John Lennon hat. Das bunteste Völkchen<br />
rangiert ‚Draußen vor der Tür’ – der Urhippie Eden Ahbez (1908-1995), der den Nat<br />
King Cole-Hit ‚Nature Boy’ schrieb und dessen ‚Music of an Enchanted Isle’ schon von<br />
David Toop gewürdigt wurde; The Legendary Stardust Cowboy mit seinem enthusiastischen<br />
Rockabilly; die unvergleichlichen The Shaggs, deren ‚Philosophy of the World’<br />
natürlich auch meine Sammlung ziert; die von Gavin Bryars 1970 gegründete Portsmouth<br />
Sinfonia mit scratch-orchestralen Versionen von Popular Classics. Die schönsten<br />
Geschichten handeln von dem durch MT-Records hierzulande entdeckten John<br />
Trubee und der merkwürdigen Entstehung und dem Schicksal seines Song-Poems<br />
‚Peace & Lova’ aka ‚A Blind Man’s Penis’; von dem schwedischen Operettenkönig und<br />
Pornografen Johnny Bode (1912-1983), der 1968 mit ‚Bordell Mutters Songs’, gesungen<br />
von Lillemor Dahlqvist, ein ganzes Genre begründete; von der Space Lady, einer<br />
in den 70ern & 80ern mit ihrer ‚Amazing Thingz’-Kassette bekannt gewordenen Straßenmusikerin<br />
in San Francisco; und von The Golden Voyager Record, die, seit 1977<br />
unterwegs, mit Voyager 1 2004 unser Sonnensystem verlassen hat, um <strong>als</strong> musikalische<br />
Flaschenpost Zeugnis zu geben, dass Homo sapiens das Zeug hatte zum Homo<br />
ludens und Homo extravaganza. Raschkes launiger Ton, etwas zu cool, um tatsächlich<br />
zu staunen, hüpft hin und her zwischen Nerdiness, leicht herablassender Ironie<br />
und spöttischem Sarkasmus. Überhaupt können derartige Ablenkungsmanöver kaum<br />
vergessen machen, dass es Musiken gibt, vor denen man Herzen und Hirne tatsächlich<br />
besser bewahrt. Komischerweise landen die aber nur selten in den für ‚Outsider’<br />
reservierten Kuriositätensammlungen, sondern mit einem Konsens, der verschwörungstheoretische<br />
Neigungen in mir reizt, auf subventionierten Opernbühnen und in<br />
den Hitparaden. Daher merke: Zu wahrer Extravaganz gehört das Seltene und Unangemessene<br />
und ein gewisses Scheitern, dem dann eine Auferstehung und höhere<br />
Gerechtigkeit widerfahren kann (meist posthum <strong>als</strong> Sammlerpreis).<br />
78
Die #72, Juin 2007 von REVUE&CORRIGÉE, 48 S. stark und so<br />
französisch wie man linksrheinisch nun mal ist, stellt mich wie immer<br />
vor die Rätsel einer mir fremden Sprache. Was hat Adriano<br />
Celentano mit Robert Johnson zu tun? Wer ist Bernard Martin?<br />
Wer Französisch kann, erfährt es, ebenso wie er Interviews lesen<br />
kann mit dem Elektroakustiker Jean-Claude Risset, Overhang Party<br />
und ihrem Landsmann, dem Pianisten, Komponisten & Altmeister<br />
der Avantgarde Yuji Takahashi. In ‚On the Edge 2‘ folgen weitere<br />
Bestandsaufnahmen zum Tanztheater, wobei Mark Tompkins<br />
die Fragen in den Raum wirft. Dazu wurden wieder Disques belauscht<br />
von Acid Mothers Gong bis Windsleeper, wobei R&Cs Mann<br />
für das <strong>Bad</strong> <strong>Alchemy</strong>stische, Pierre Durr, wieder besonders große<br />
Ohren machte.<br />
Schaffhauser Jazzgespräche Edition 02 (Chronos Verlag)<br />
bündelt in Form von Vorträgen und Gesprächsrunden den Diskussionsstoff,<br />
der im Rahmen des Schaffhauser Jazzfestiv<strong>als</strong> das<br />
Selbstverständnis und den Stand der Dinge der Schweizer Jazzszene<br />
zum Gegenstand hatte. Intaktmacher Patrik Landolt hat<br />
2004-06 diese Veranstaltung organisiert, bei der Musiker, Veranstalter,<br />
Funktionäre, Multiplikatoren und Geldgeber sich die Köpfe<br />
zerbrachen über Swissness, Schweizer Kulturpolitik, Jazzförderung,<br />
Lobbying, Gagenelend etc. Der eine Komplex, der dabei umkreist<br />
wurde, ist der Paradigmenwechsel von Breiten- auf Spitzenförderung.<br />
Dass z.B. die Pro Helvetia nicht mehr nach Gießkannenprinzip<br />
verteilt, sondern statt dessen international vermarktbare<br />
Aushängeschilder von Jazz made in Switzerland beglückt wie<br />
Koch-Schütz-Studer und Lucas Nigglis Zoom. Dass Musiker sich<br />
mit 300 F-Gagen abspeisen lassen müssen, weil es einerseits ein<br />
Überangebot an Jazzschulabgängern und Doppelverdienern gibt<br />
und andererseits eine Nachfrage, die Events und bekannte Namen<br />
bevorzugt. Selbst im Zürcher Jazzclub Moods spielen unbekannte<br />
Schweizer Acts vor 12 Leuten. Omri Ziegele verlangt daher vehement<br />
Solidarität unter Kollegen, um sich für eine Umverteilung von<br />
Subventionen stark zu machen (wo Oper und Theater war, soll<br />
mehr Jazz werden). Das alte Lied. Jahrzehntelange ‚Geschmacks-<br />
Bildung‘ lässt gerade das zahlungskräftige Publikum, auf das das<br />
Sponsering etwa der Credit Suisse abzielt, nach biederer Unterhaltung<br />
in entspannter Atmosphäre oder nach Events verlangen,<br />
bei denen man dabei gewesen sein muss. Das Selbstverständnis<br />
von Musik, die mehr sein will <strong>als</strong> Entertainment, steht dadurch vor<br />
der Zerreißprobe, ob dieser Mehrwert zu einer Nachfrage passt.<br />
Dabei stehen Schweizer Jazzer bereits an sich vor der Frage, ob<br />
es sie überhaupt gibt. Sprechen sie etwas genuin (Afro)-Amerikanisches<br />
nur <strong>als</strong> Fremdsprache? Kopieren sie etwas, an dem ein<br />
Schweizer nicht wirklich ‚mit dem Herzen‘ dabei sein kann? Legt<br />
diese Exzentrität und ‚Fremdheit‘ nicht nahe, Wurzeln in der<br />
Schweizer Volksmusik zu schlagen, mit Gejodel und Alphorn an<br />
Heimatgefühle zu rühren und sich damit <strong>als</strong> Aushängeschild zu<br />
profilieren? Oder ist Swissness selbst bloß ein Konstrukt völkischer<br />
und nationaler Phantasmen des 19. Jhdts.? Aber ist dann<br />
der Jazz selbst nicht auch nur eine ‚kulturelle Konstruktion‘? Eine<br />
Transferleistung von Heimatlosen, für die nicht lange Wurzeln,<br />
sondern schnelle Lern- und Mischprozesse ausschlaggebend<br />
sind? Jazz ein „Zollgrenzenverspotter und Läufer, der überall ist“<br />
(J. Cortázar), ein Zigeuner, der in die Stadt kommt? ‚Suiza non<br />
existe‘ und ‚Beyond Swiss Tradition‘ springen über solche Fragen<br />
hinweg ins offene Überall, wie Christoph Merki bemerkenswert<br />
ausführt, wenn er den Jazz in der Schweiz <strong>als</strong> Teil einer globalen<br />
Lingua franca begreiflich macht. Joe Zawinul oder Irene Schweizer<br />
zeigen exemplarisch, dass individuelle Identitäten wichtiger<br />
sind, <strong>als</strong> dass die Ururoma aus Timbuktu kommt.<br />
79
Der 1951 in Den Haag geborene schrijver,<br />
zanger, filosoof & neerlandicus<br />
COR GOUT<br />
taugte mir in einem Beitrag zu Elend &<br />
Vergeltung bereits <strong>als</strong> ein Modell für<br />
‚Sophistication’. Den Stoff dafür liefert er<br />
mit dem speziellen Zuschnitt seiner Poesie.<br />
Er schreibt seine Songs überwiegend<br />
Englisch, vieles andere (Noirette, 2003, 78-<br />
45-16-33, de toerentallen van de pop,<br />
2005) in Niederländisch. Sophisticated daran<br />
ist nicht allein, wie Gout mit politischen<br />
Themen, literarischen Anspielungen, persönlichen<br />
Neigungen jongliert. Zu ‚Sophistication’<br />
gehören die Ausstrahlung von<br />
Geist, eine gewisse Eleganz und Empfindsamkeit<br />
für Feminines. Bei Gout geht sie<br />
soweit, sogar schwule Fußballer zu besingen.<br />
Ebenso unverzichtbar ist aber auch<br />
der Kurzschluss zwischen High und Pop<br />
Culture, wenn man so will zwischen Europa<br />
und Amerika. Die Problemsicht eines<br />
Alteuropäers, aber in 1000 populären Gestalten.<br />
Der ganze Horizont seiner Poesie<br />
ist nun aufgefächert in<br />
T r e s p a s s e r s W -<br />
l’intégrale 1984 à 2006:<br />
22 ans de chansons (RytRut),<br />
in französischer Übersetzung, für die Gout<br />
selbst zusammen mit Ladzi Galai gesorgt<br />
hat. Derart komprimiert, wird überdeutlich,<br />
mit welchem Stoff Gout seine Trespassers<br />
W-Songs fütterte – Spanischer Bürgerkrieg,<br />
Nation<strong>als</strong>ozialismus, Apartheid, Nicaragua,<br />
Jugoslawienkrieg -, welche Figuren<br />
ihn faszinieren – Artemesia Gentileschi,<br />
Ferdinand Domela Niewenhuis, Van<br />
Gogh, Mahler, Munch, Beckett, Saint-Exupery,<br />
Houdini, Carmen Miranda, Rock Hudson,<br />
Jacques Brel. Geschichte, Personen,<br />
Orte, Worte und wie sie in einem späteuropäischen<br />
Kopf herum rumoren. In einem<br />
‚Melancholy Man’, den nicht nur die<br />
‚Tränen eines Dodo’ trübsinnig stimmen,<br />
sondern die Veränderungen, die er an Den<br />
Haag (Flucht Over Den Haag, 2000) und<br />
Scheveningen (Scheveningen, op locatie,<br />
2001) beobachtet. ‚Nostalgie’ ist sein Leitmotiv<br />
von Dummy (1988) über Aimez-vous<br />
Trespassers W? (1990) und die Kinder EP<br />
(1991) bis The Drugs We All Need (2005).<br />
80
Seine Verehrer in St Mury-Monteymond<br />
glaubten, Gouts Anspielungsreichtum mit<br />
Fußnoten verständlich(er) machen zu<br />
müssen. [1984 ist von Huxley? Slapp Happy<br />
eine 1978 in Australien gegründete Band?<br />
Mon Dieu! Der in ‚Domela dans Het Bilt’ angesprochene<br />
Strauß ist nicht Ervin, sondern<br />
David Friedrich 1808-74] Mir wird dabei<br />
bewusst, mit wie vielen deutschen Motiven<br />
Gout sein Oeuvre gespickt hat. Mit<br />
Macht Kaputt und Kinder hat er gleich 2<br />
EPs deutsch getauft, erstere nach Ton<br />
Steine Scherben, letztere nach Bettina<br />
Wegner, von der er auch noch ‚Ikarus’ gecovert<br />
hat (zusammen mit ‚Sehnsucht’ zu<br />
finden auf Fly Up In The Face Of Life,<br />
1996). Auch das ‚Einheitsfrontlied’ (Brecht<br />
/ Eisler) hat sich Gout zu eigen gemacht.<br />
Auf der Punt-EP gibt es ‚Nussfarben’ und<br />
sogar ‚Deutsches Städtchen’. Auch tauchen<br />
deutsche Brocken wie ‚Wäschezettel’<br />
und „Zimmer frei“ (wobei sich das spöttisch<br />
auf die 1944 aus Paris abrückenden<br />
Wehrmachtstruppen bezog), Biedermeier,<br />
Sturm & Drang und Weimar bei Gout auf,<br />
Ludwig Feuerbach, Schopenhauer, Goethe,<br />
Gropius und die Comedian Harmonists<br />
explizit, Eichendorff, ETA Hoffmann und<br />
Storm implizit. Die ‚Reichsstraße 1’ zieht<br />
sich von Aachen nach Königsberg durch<br />
The Drugs We All Need (2005). Hitler, Göring<br />
und der Reichstagsbrand 1933 (für<br />
den ein Holländer hingerichtet wurde)<br />
geistern umher, ohne dass das Reich der<br />
Mäuse- und Erlkönige darauf reduziert<br />
wird. Wolfgang Staudtes Film Die Mörder<br />
sind unter uns (1946) wird erwähnt in<br />
‚Space for Thoughts’ (auf Leaping the<br />
Chasm, 2000). Doch im Grunde ist jedes<br />
Gout-Gedicht ein Raum für Gedanken. Die<br />
vor allem bei ‚Riefenstahl’ (auf 5, 4, 3, 2,<br />
1… 0, 1993) um Hybris und Blindheit kreisen:<br />
Ruf nach Authentizität, Ruf nach Vollkommenheit,<br />
Ruf nach Vernichtung der<br />
Veränderlichkeit des Zeitraums. Raum…<br />
dem Zorn… des Schimmelreiters. Denn<br />
Gout weiß, Nostalgie ist nichts anderes <strong>als</strong><br />
der ‚Ruf nach Vernichtung der Veränderlichkeit<br />
des Zeitraums’, daher: Go away,<br />
you’re not the kind of drug i need anyway.<br />
81
Cor Gout ist ein Word Artist, he fills Space with thoughts. Wie<br />
Chris Cutler oder Scott Walker reflektiert er Geschichte und Mythen<br />
in poetischen, oft scheinbar ephemeren, nicht selten witzigen<br />
Splittern. In ihnen fängt er die Nachwehen von Sturm & Drang<br />
und Biedermeier ein und das, was uns die Furie des Verschwindens<br />
raubt. Überspitzt gesagt, ist er ein exzentrischer deutscher<br />
Dichter, voller Wehmut und Sehnsucht, wie sie im Buche steht,<br />
aber gegengepolt mit der Sophistication, die hierzulande 1933<br />
die Koffer packen und Englisch lernen musste.<br />
Als Vorschlag für eine Rezeption ins Deutsche hab ich einfach<br />
mal versucht, ‚Save the Dormouse’ (aus 'The Ex-Yu-Single', 1998 /<br />
'Textuur') zu übersetzen. Gouts Collage aus Alice im Wunderland<br />
und Hamlet ist exemplarisch für seine Methode, Geschichte und<br />
Träume, Literatur, Phantasie und die Much-too-muchness der<br />
Realität anspielungsreich und wortspielerisch zu mischen.<br />
Save The Dormouse Schützt die Schlafmaus<br />
There was a table set out under a tree Da unter ‘nem Baum war ein Tisch gedeckt<br />
In front of a house which recently Vor einem Haus das kürzlich erst<br />
Had been shattered by a curtain fire Von Kugelhagel erschüttert gewesen<br />
Caused by militia who couldn't decipher Durch Miliz die den Namen nicht konnte lesen<br />
The name of the house painted on a sign Von dem Haus, gemalt auf ein Schild<br />
So they committed this senseless crime Das machte sie wohl so blindwütig wild<br />
There was a table set out under a tree Da unter ‘nem Baum war ein Tisch gedeckt<br />
A Hare and a Hatter were having tea at it Ein Märzhas’ und ein Hutmacher nippten dort Tee<br />
A Dormouse was sitting between them, sleeping Zwischen den beiden saß ‘ne Haselmaus und schlief<br />
And the other two had their elbows resting on it Und die beiden stützten ihre Ellbogen darauf<br />
Which to the Dormouse may have been unkind Für die Schlafmaus war das vermutlich ‘ne Qual<br />
But as it was asleep I think it wouldn't mind Aber da sie schlief war es ihr glaub ich egal<br />
But then to be or not to be, Doch Sein oder Nichtsein,<br />
In other words to die, to sleep, to dream, Anders gesagt, Sterben, schlafen, träumen<br />
that … is the question das … ist die Frage<br />
It's either taking arms against Entweder sich waffnen gegen<br />
A sea of troubles or suffering from them Eine See von Plagen oder daran leiden<br />
In frightening dreams which we would gladly In Schreckensträumen die wir viel lieber<br />
Farm out to the Dormouse Der Schlafmaus überlassen<br />
So let it guard our secret fears Sie soll unsre heimlichen Ängste hüten<br />
It will suppress them in its dreams Sie wird sie verdrängen in ihren Träumen<br />
And if it wakes up, it will be only Und wacht sie auf, dann nur um<br />
To sing 'Twinkle, twinkle, twinkle' ‘Funkel, funkel, funkel’ zu singen<br />
Or to tell you a senseless story Oder mit einem Schmarrn zu kommen<br />
About sisters drawing everything Von Schwestern die alles zeichnen<br />
That begins with an M, like 'muchness' Das mit M anfängt, wie ‘Manches Mal’<br />
So let's save the glorious Dormouse Lasst uns die prächtige Schlafmaus schützen<br />
Let's not put it away in a teapot, Wir wollen sie nicht in ne Teekanne stecken<br />
Because teapots will fly away to Denn Teekannen fliegen davon und<br />
Leave us behind with our nighmares Lassen uns mit unseren Alpträumen allein<br />
Let's put our trust in the Dormouse Wir wollen der Schlafmaus vertraun<br />
Let us place our fate in his dreams Unser Schicksal ihren Träumen überlassen<br />
Save the Dormouse, let's pay the Dormouse Schützt die Schlafmaus, zahlt an die Schlafmaus<br />
Our life insurance premiums Unsre Lebensversicherungsprämien<br />
82
- Miliz und Namensschild evozieren einen Schauplatz in Ex-Jugoslavien - Sein oder<br />
Nichtsein in konkretester Form<br />
- Vor dem Hause stand ein gedeckter Teetisch, an welchem der Märzhase und der<br />
Hutmacher saßen; eine Haselmaus saß zwischen ihnen, fest eingeschlafen, und die<br />
beiden Andern benutzen es <strong>als</strong> Kissen, um ihre Ellbogen darauf zu stützen... "Sehr<br />
unbequem für die Haselmaus" dachte Alice; "nun, da sie schläft, wird sie sich wohl<br />
nichts daraus machen."<br />
(Alice im Wunderland Die tolle Teegesellschaft)<br />
- Apropos Türschild: Neben dem Haus von Winnie-The-Poohs bestem Freund Piglet<br />
steht ein kaputtes Schild auf dem steht: "Trespassers W". Ferkel sagt, das wäre der<br />
Name seines Großvaters, und sei die Kurzform zu "Trespassers Will", was wiederum<br />
die Kurzform von "Trespassers William" sei. Übrigens hat auch A.A. Milne die Haselmaus<br />
poetisch verewigt: What shall I call My dear little dormouse? His eyes are small,<br />
But his tail is e-nor-mouse...<br />
- Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: / Ob's edler im Gemüt, die Pfeil’ und<br />
Schleudern / Des wütenden Geschicks erdulden, oder, / Sich waffnend gegen eine<br />
See von Plagen, / Durch Widerstand sie enden... Sterben – schlafen - Schlafen! Vielleicht<br />
auch träumen!<br />
- Twinkle, twinkle, little bat! / How I wonder what you’re at! / Up above the world you<br />
fly, / Like a tea-tray in the sky. Die Alice-Übersetzungen parodieren ersatzweise ‚O<br />
Tannenbaum’ mit O Papagei, o Papagei! Wie grün sind deine Federn! oder singen<br />
Tanze, tanze, Fledermaus. Das Original-Lullabye wurde eingedeutscht <strong>als</strong> ‚Funkle,<br />
funkle kleiner Stern, was du bist, das wüßt ich gern.’ Die Verwirrung komplett macht<br />
unser Hymnendichter Hoffmann v. Fallersleben, der zur gleichen Melodie ‚Morgen<br />
kommt der Weihnachtsmann‘ getextet hat, wobei auch hier die 1. Strophe nicht mehr<br />
gesungen wird. Der aus Alicens Wunderland entflogene ‚Flying Teapot‘ landete bekanntlich<br />
bei Gong.<br />
- …they drew all manner of things—everything that begins with an M—’…, such as<br />
mouse-traps, and the moon, and memory, and muchness— you know you say things<br />
are “much of a muchness“… (dt. ...und sie zeichneten Allerlei -; Alles was mit M anfängt<br />
-…wie Mausefallen, den Mond, Mangel, und manches Mal -, wobei ‚much of a<br />
muchness’ so viel wie ‚eins wie‘s andere’ heißt und das eigentlich gemeinte M-Wort<br />
‚mustard’ ist, Senf, dessen Schärfe bei Shakespeare schon die Augen wässerte und<br />
dadurch Titania so blind machte wie die Liebe blind macht, der bei Carroll jedoch <strong>als</strong><br />
verdauungsfördernder Traumarbeiter fungiert, <strong>als</strong> Gegengift gegen den Schlafmohn<br />
und die Pilzoptik, die Alice gefangen halten.<br />
83
Einen Moment, sagte der Fuchs zum Hasen<br />
2002 war schon? Na und? Ich kenne dieses aus der Bahn geradene<br />
Einmannorchester erst seit Kurzem. Und bin nach einem verwirrten<br />
Telefonat mit dem Künstler im unterfränkischen Euerhausen<br />
doppelt verwirrt. Statt wirrer und sonderbarer Töne eines Dilettanten<br />
auf der Suche nach Genialität sind UDO MADER mit seinen<br />
Fuchsbaumelodien (2002, Selbstverlag) im Mehrspurverfahren<br />
Songs & Instrument<strong>als</strong> gelungen mit soviel Lo-Fi-Charme und<br />
musikalischem Einfallsreichtum, dass sich Ironie und f<strong>als</strong>che<br />
Rücksicht erübrigen. Mader ist kein völlig unbeschriebenes Hinterwaldblatt.<br />
Der Dylan- und Dunaj-Fan mit Neigungen, seinen inneren<br />
Zengarten zu rechen, gleichzeitig aber die Verhältnisse, die<br />
nicht so sind, mit Kaurismäkiblick zu registrieren, hat in der Berliner<br />
Volksbühne und im Club der Polnischen Verlierer gespielt, Musik<br />
für internationale Modeschauen geschrieben und an der Musik<br />
für die ARD/BR-Doku Unter Deutschen Dächern (2000) mitgewirkt.<br />
Er ist Multiinstrumentalist mit einem Faible für Sperrmüllfunde<br />
oder Sammlerstücke, speziell für eine Naturfellrahmentrommel,<br />
ein kaputtes Hohner E-Piano und ein Knopfakkordeon mit klemmenden<br />
Knöpfen, die er neben Melodica, klassischer Gitarre, Kontrabass<br />
und Percussion verwendet. Für seine Bosselei bezeichnend<br />
ist z. B., dass er die Drumparts separat spielt und overdubt.<br />
So entstanden mit viel Liebe zum Detail eine Reihe von Stücken, zu<br />
straight für Antivolk, zu schräg für irgendwas Gängiges. Die<br />
Fuchsbaumelodien sind versponnen-fantasyhaft bei ‚Ice Palace‘,<br />
wüstenhaft-verdaddelt bei ‚Desert Desperado‘, mit schmachtendem<br />
Akkordeon bei ‚Na <strong>als</strong>o, es geht doch!‘, schnurrendem bei<br />
‚The Big Move‘, marschgetrommeltem bei ‚Karfreitag‘, gleichzeitig<br />
unamerikanisch und undeutsch, so dass sich schwer sagen lässt,<br />
wo dieser Fuchs sein Revier hat. Wäre ‚1-2-3 und nocheinmal‘<br />
nicht die perfekte Folklore für Heckenwirtschaftsgemütlichkeit?<br />
‚Fuchs‘ selbst und ‚Einen Moment‘ sind asiatisch getüpfelt, mit<br />
Gong und plonkiger Minimalpercussion, nur dass dazwischen<br />
‚Freiheit auf unserem Schiff‘ gegröhlt wird. Scherz? Ironie? Höherer<br />
Blödsinn? Was wäre dann das jazzige Schubidu von ‚Schoki<br />
Boki‘? Namen wie Karl Valentin oder Wolfgang Neuss nennt Mader<br />
mit mehr <strong>als</strong> nur Respekt. Seit Melchior (Aufmarsch der Schlampen)<br />
von H.N.A.S. war Germany selten so seltsam. ‚Lonesome Space‘<br />
pfeift sich eins in seiner Einsamkeit und auch der Vogel beim<br />
‚Konzert für einen ...‘ ist Mader selbst, der ‚Trickster‘ all dieser<br />
ausgefuchsten Melodien, der den Kragen hoch schlägt und pfeifend<br />
von dannen schlendert, während ENDE über die Leinwand<br />
flimmert.<br />
Seit 2003 feilt Mader an seinem Live-Programm „Ausser der Bahn<br />
is alles ausser der Bahn“ mit markanten Details wie einer Werksglocke<br />
beim Shanty ‚Freiheit auf unserem Schiff‘, das er mit Achim<br />
Reichel-Gusto vorgeträgt, oder Jagdhorn und Treibertrommel<br />
beim kindergeburtstagssimplen ‚Lied der Elefanten‘. ‚Lied für meine<br />
Schwestern und Brüdern‘ nutzt wieder die gespitzten Lippen<br />
<strong>als</strong> Melodieinstrument wie auch das zu einem Mader-Standard gewordene<br />
‚Konzert für einen Vogel‘, ein Prachtstück von Musica<br />
Nova im New Simplicity-Stil. ‚Karen‘ wiederum, mit dunklem Timbre<br />
direkt von Herz zu Herz gesungen, kann mit jedem Singer / Songwriter-Lovesong<br />
konkurrieren. Obwohl vertraut mit Aera-, Missus<br />
Beastly-, Embryo-Urgestein wie Freddy Setz, Jürgen Benz und Locko<br />
Richter, stellen sich keinerlei Kraut-Düfte ein. Mader ist auf<br />
seine eigene Weise eigen. Kein Wunder, dass er auf Kriegsfuß<br />
steht mit den normierten Freiheiten des Supermarktes, der sogar<br />
Individualität schon abgepackt zur Auswahl stellt.<br />
84
K O N T A K T A D R E S S E N<br />
12k/LINE - 63 Old Stone Hill Rd, Pound Ridge, NY 10576, U.S.A.; www.12k.com<br />
23five - www.23five.org<br />
7272 Music - 182 Mt. Tom Road, Northamton, MA 01060-4270, U.S.A.; www.7272music.com<br />
1000füssler c/o Gregory Büttner, T<strong>als</strong>tr.16, 20359 Hamburg, Germany; www.1000fussler.com<br />
Absinth Records - www.absinthrecords.com<br />
All About Jazz - www.allaboutjazz.com<br />
Alluvial Recordings - www.alluvialrecordings.com<br />
AltrOck - www.myspace.com/altrockproductions<br />
Ambiances Magnétiques - www.actuellecd.com<br />
A-Musik ( + Laden + Mailorder) - Kleiner Griechenmarkt 28-30, 50676 Köln, Germany; www.a-musik.com<br />
Antiinformation - www.0000-anti.info<br />
Aposiopèse Rec. - www.aposiopese.org<br />
Auf Abwegen - P.O. Box 100152, 50441 Köln; www.aufabwegen.com<br />
Avantgarde History / Rock History / Encyclopedia of New Music - www.scaruffi.com<br />
Ayler Records – www.ayler.com<br />
Bagatellen (Online-Magazin) - www.bagatellen.com<br />
Benbecula Records - www.benbecula.com<br />
Beta-Iactam Ring Records - www.blrrecords.com<br />
Bip_Hop - www.bip-hop.com<br />
CIMP/Cadence - www.cimprecords.com / www.cadencejazzrecords / www.cadencebuilding.com<br />
Collection cq - www.actuellecd.com<br />
Confront - www.confront.info<br />
Creative Sources Recordings - www.creativesourcesrec.com<br />
Cut - http://cut.fm<br />
D‘Autres cordes - Voie Romaine, 48100 La Monastier, France; www.myspace.com/dautrescordes<br />
Discographien - www.discogs.com<br />
Distile Records - www.distilerecords.com/<br />
Drone Records (+ Mailorder) c/o S.Knappe, Celler Str. 33, 28205 Bremen, Germany; www.dronerecords.de<br />
Editions Mego - www.editionsmego.com<br />
Empreintes Digitales - www.empreintesdigitales.com<br />
Euphonium - www.euphoniumrecords.com<br />
European Free Improvisation - http://www.shef.ac.uk/misc/rec/ps/efi/<br />
Extreme - PO Box 147, Preston VIC 3072, Australia; www.xtr.com<br />
Experimental Music Chronicled Hertz-Lion YIELD - www.hertz-lion.com<br />
Farai-Records - Stargarderstr.38, 10437 Berlin; www.farai-records.com<br />
Firework Edition Records - Sigfridswägen 6, 126 50 Hägersten, Sweden; www.fireworkeditionrecords.com<br />
For 4 Ears - Paradiesweg 10c, CH-4419 Itingen; www.for4ears.com<br />
Foxy Digitalis (Online-Magazin) - www.digitalisindustries.com/foxyd/index.php<br />
Geometrik Records - www.geometrikrecords.com<br />
Hausmusik - Waltherstr.1, 80337 München, Germany; www.hausmusik.com<br />
High Mayhem - www.highmayhem.org<br />
Honest Jons Records - www.honestjons.com<br />
Hux Records - www.huxrecords.com<br />
Intakt Records - Postfach 468, 8024 Zürich, Schweiz; www.intaktrec.ch<br />
Jazzland - www.jazzlandrec.com<br />
Korm Plastics - www.kormplastics.nl<br />
Last Visible Dog Records - PO Box 2631, Providence, RI 02906, U.S.A.; www.lastvisibledog.com<br />
The Leaf Label - www.theleaflabel.com<br />
Leo Records - 16 Woodland Avenue, Kingskerswell, Newton Abbot TQ12 5BB, UK; www.leorecords.com<br />
Lumberton Trading Company - www.lumbertontrading.com<br />
Marsh -Marigold Records - www.marsh-marigold.de<br />
Noble Records - www.noble-label.net<br />
No Man's Land (+ Mailorder) - Straßmannstr. 33, 10249 Berlin, Germany; www.nomansland-records.de<br />
NurNichtNur - Gnadenthal 8, 47533 Kleve, Germany; www.nurnichtnur.com<br />
Open Door (Mailorder) - Lauterbadstr. 12, 72250 Freudenstadt, Germany; www.open-door.de<br />
Ouie/Dire Production - 11 Rue St Louis, F-24000 Périgueux; http://ouiedire.com<br />
Own Records – PO Box 135, 4002 Esch/Alzette, Luxembourg; www.ownrecords.com<br />
Paris Transatlantic (Online-Magazin) - www.paristransatlantic.com/magazine<br />
pfMentum - www.pfmentum.com<br />
Pingipung c/o Dittberner, Bertha-von-Suttner-Str.10, 21335 Lüneburg; wwwpingipung.de<br />
PNL Records - www.paalnilssen-love.com<br />
Psi Records - www.emanemdisc.com/psi.html<br />
Quatermass - www.myspace.com/quatermassrecords<br />
Ragazzi Website für erregende Musik (Online-Reviews) - www.ragazzi-music.de<br />
RecRec (Laden + Mailorder) - Rotwandstr.64, 8004 Zürich, Schweiz; www.recrec.ch / www.recrec-shop.ch<br />
RéR Megacorp (+ Mailorder) - 79 Beulah Road, Thornton Heath, Surrey CR7 8JG; www.rermegacorp.com<br />
85
"revue & corrigée - 17, rue Buffon, 38000 Grenoble, Frankreich; revue-corrigee@caramail.com<br />
RytRut – http://rytrut.free.fr<br />
Der Schöne-Hjuler-Memorial-Fond - www.asylum-lunaticum.de<br />
Seven Things - www.seventhings.com<br />
Sijis Records - 2A Ropery Street, Mile End, London E3 4QF, UK; www.sijis.com<br />
Smalltown Superjazz - www.smalltownsupersound.com<br />
Soleilmoon Recordings- www.soleilmoon.com<br />
Sonic Arts Network - www.sonicartsnetwork.org<br />
Terrascope Online - www.terrascope.co.uk<br />
Third Ear Recordings - www.third-ear.net<br />
Tinstar Creative Pool - www.tinstarcreativepool.com<br />
Tocado-Records - www.tocado.com; www.myspace.com-tocadorecords<br />
Tosom Records - www.tosom.de<br />
Touch - www.touchmusic.org.uk<br />
Transacoustic Research - www.transacoustic-research.com<br />
Type Records - www.typerecords.com<br />
Tzadik - www.tzadik.com<br />
Unhip Records - www.unhiprecords.com<br />
Ventil Verlag - www.ventil-verlag.de<br />
VIA - www.vialka.com<br />
Victo - www.victo.qc.ca<br />
Vital Weekly (Online-Reviews) - www.vitalweekly.net<br />
club W71 - www.clubw71.de; http://de.wikipedia.org/wiki/Club_W71<br />
HERAUSGEBER UND REDAKTION:<br />
Rigo Dittmann [rbd] (VISDP)<br />
REDAKTIONS- UND VERTRIEBSANSCHRIFT:<br />
R. Dittmann, Franz-Ludwig-Str. 11, D-97072 Würzburg<br />
E-mail: bad.alchemy@gmx.de • www.badalchemy.de<br />
<strong>BA</strong>D ALCHEMY # <strong>55</strong> (p) Juli 2007<br />
MITARBEITER DIESER AUSGABE:<br />
Guido Zimmermann, Michael Zinsmaier<br />
Fotos:: Schorle Scholkemper 3, 5, 6, Gerard Anderson 22, Caroline Forbes 36,<br />
Anna van Kooji 43, Claudio Casanova 47, GZ 56<br />
Illustrationen: Jeffrey Cathrine Jones 73, John Tenniel 1, 81, Ror Wolf 88<br />
Alle nicht näher gekennzeichneten Texte sind von rbd, alle nicht anders bezeichneten Tonträger sind<br />
CDs, was nicht ausschließt, dass es sie auch auf Vinyl gibt<br />
<strong>BA</strong>D ALCHEMY erscheint ca. 3 mal jährlich und ist ein Produkt von rbd<br />
Zu <strong>BA</strong> <strong>55</strong> erhalten Abonnenten die Fuchsbaumelodien von UDO MADER<br />
Für <strong>BA</strong> 56 geplant ist eine Rmx-CD-R des Memminger Labels TOSOM<br />
Als back-issues noch lieferbar -Magazin mit 7" EP: <strong>BA</strong> 32, 33, 35 bis 42<br />
nur Magazin: <strong>BA</strong> 43, 45, 46, 52 - 54<br />
Einige Leseproben findet man unter http://stefanhetzel.de/esszumus.html,<br />
die <strong>vergriffen</strong>en Nummern <strong>BA</strong> 44, 47, 48, 49, 50 <strong>als</strong> pdf-download auf www.badalchemy.de<br />
.........................................................................................................................................................................<br />
Preise inklusive Porto<br />
Inland: <strong>BA</strong> Mag. only = 3,85 EUR Back-issues w/CD-r = 7,45 EUR Abo: 4 x <strong>BA</strong> w/CD-r = 27,80 EUR*<br />
Europe: <strong>BA</strong> Mag only = 5,- EUR Back-issues w/CD-r = 10,50 EUR Abo: 4 x <strong>BA</strong> w/CD-r = 40,- EUR **<br />
overseas: <strong>BA</strong> Mag only = 5,- EUR Back-issues w/CD-r = 12,- EUR Abo: 4 x <strong>BA</strong> w/CD-r = 46,- EUR***<br />
[* incl. 5,80 EUR / ** incl. 18,- EUR / *** incl. 24,- EUR postage]<br />
Payable in cash or i.m.o. oder Überweisung auf nachstehendes Konto:<br />
R. Dittmann, Sparkasse Mainfranken, Konto-Nr. 2220812, BLZ 790 500 00<br />
I<strong>BA</strong>N: DE08 7905 0000 0002 2208 12 SWIFT-BIC: BYLADEM1SWU<br />
86
I N H A L T:<br />
3 PAAL NILSSEN-LOVE<br />
5 THE THING vs ZU: LIVE IM W71<br />
7 JOHN ZORNS POSSESSIONS<br />
10 BELGIAN SOUNDSCAPES: HALF ASLEEP - IGNATZ (Michael Zinsmaier)<br />
49 DAS POP-ANALPHABETH: BEINS - RLW<br />
56 DER PROVOKATEUR UND DIE DAME: KOMMISSAR HJULER UND FRAU<br />
75 SOUND AND VISION<br />
77 LEST, IHR RATTEN: DISCO EXTRAVAGANZA - SURF-BEAT ABC<br />
80 COR GOUT: SAVE THE DORMOUSE<br />
84 UDO MADER: FUCHS<strong>BA</strong>UMELODIEN<br />
ALTrOCK 15 - CIMP/CADENCE 16 - CREATIVE SOURCES 19 - CUT 20 - EMPREINTES<br />
DIGITALES 21 - EXTREME 22 - FARAI 23 - FIREWORK EDITION 24 - HIGH MAYHEM 25<br />
INTAKT 26 - LAST VISIBLE DOG 27 - LEO 30 - pfMENTUM 34 - PSI 35 - RUNEGRAMMO-<br />
FON 38 - 7HINGS 40 - TOCADO 42 - TOSOM 44 - TOUCH 45 - VICTO 46<br />
ALLEN, MARSHALL 18 - ALOG 38 - AREA C 28 - ASHEIM, NILS HENRIK 45 - ATOMIC 3 - <strong>BA</strong>LANESCU,<br />
ALEXANDER 33 - <strong>BA</strong>RK! 36 - BEINS, BURKHARD 49 - BERTHIAUME, ANTOINE 49 - BESSER, JO-<br />
NATHAN 34 - BISIO, MICHAEL 17 - BORBETOMAGUS 48 - BRAXTON, ANTHONY 32 - THE BRILLIANT<br />
DULLARDS 25 - BROWN, CHRIS 19, 26 - BRZYTWA, MARYCLARE 49 - BÜTTNER, GREGORY 73, 76 -<br />
CAN_OF_BE 42 - CARROLL, ROY 30 - CASSERLEY, LAWRENCE 35 - CATLIN, TIM 49 - CHISHOLM, HAY-<br />
DEN 64 - CLINE, NELS 46 - COPELAND, DARREN 21 - DAS SYNTHETISCHE MISCHGEWEBE 50 - DEL-<br />
BECQ, BENOIT 35 - DESORGHER, SIMON 35 - DOMNITCH, EVELINA 75 - DÖRNER, AXEL 50 - DOW-<br />
LING, PETER 40 - EASTLEY, MAX 66 - EGLE SOMMACAL 51 - DIETER EICHMANN ENSEMBLE 31 - ELEC-<br />
TRIC MASADA 7 - ELGGREN, LEIF 24 - ELLIS, BRIAN 51 - ENDERS, ERIKA 75 - ERGO PHIZMIZ 61 -<br />
EYES LIKE SAUCERS 29 - FAGO SEPIA 51 - FENNESZ 45 - FERRARI, LUC 41 - FILIANO, KEN 16 -<br />
fORCH 37 - FORMICATION 52 - FRITH, FRED 26 - SATOKO FUJII MIN-YOH ENSEMBLE 47 - FULLMAN,<br />
ELLEN 20 - FUNCTION 52 - GAUCI, STEPHEN 17 - GELFAND, DMITRY 75 - GENARO 53 - GIES, JOA-<br />
CHIM 30, 31 - GRASSI, LOU 18 - GRATKOWSKI, FRANK 31 - GRID MESH 23 - GRIENER, ULRICH 26, 31,<br />
68 - GROSSE ABFAHRT 19 - GUILLAMINO 53 - GUMPERT, ULRICH 26 - GUY, <strong>BA</strong>RRY 37 - HALF ASLEEP<br />
11 - HANEY, DAVID 16 - HANNAFORD, MARC 22 - HARRY MERRY 42 - HATANO, ATSUKO 75 - HAUSS-<br />
WOLFF, CM v. 24 - HIJOKAIDAN 48 - HOLMES, A.J. 54 - HOULE, FRANÇOIS 35 - HUHTA, JEAN-LOUIS<br />
53 - THE IDLE SUITE 27 - IGNATZ 13 - IRVINE, ZOE 40 - KATAMINE 54 - KELSEY, CHRIS 17 - KEUNE,<br />
STEFAN 19 - KOMMISSAR HJULER 57 - KRÄMER, ACHIM 19 - KTL <strong>55</strong> - KYRIAKIDES, YANNIS 40 - LANE,<br />
ADAM 18 - THE LATE SEVERA WIRES 25 - LES KLEBS <strong>55</strong> - LEWIS, GEORGE 37 - STEUART LIEBIG MI-<br />
NIM 34 - LILJENBERG, THOMAS 24 - LOPEZ, RAMON 33 - LUSHUS 43 - LYTTON, PAUL 37 - MACHINE-<br />
FABRIEK 58 - MANDERSCHEID, DIETER 31 - MARHAUG, LASSE 4, 45 - MARTIN, AARON 58 - MARUCCI,<br />
MAT - 16 - MATTIN 41 - MEEHAN, SEAN 20 - MERKEL, CLEMENS 58 - MIKHAIL 59 - MOHA! 39 - MOOR,<br />
ANDY 40 - MOORE, ADRIAN 21 - MORGENSTERN, JÜRGEN 59 - MURCOF 60 - NA<strong>BA</strong>KAN 75 - NA<strong>BA</strong>-<br />
TOV, SIMON 31 - NAD SPIRO 60 - NAMCHYLAK, SAINKHO 30 - NEWTON, LAUREN 30, 31 - NMPERING<br />
40 - SEAN NOONAN BREWED BY NOON 61 - OPSVIK & JENNINGS 38 - ORIGINAL SILENCE 4 - PALES-<br />
TINE, CHARLEMAGNE 40 - PARKER, EVAN 35, 36, 37 - PARKINS, ANDREA 46, 47 - PASK, ANDREW 34 -<br />
PEOPLE LIKE US 61 - PETROVA, EVELYN 33 - PHONO 62 - PINX 23 - PJUSK 62 - PRIESTER, JULIAN<br />
16 - PURE SOUND 63 - PUSH THE TRIANGLE 63 - RAINEY, TOM 46 - RATIONAL DIET 15 -<br />
REVUE&CORRIGÉE 79 - RIBOT, MARC 7, 61 - RICHTER, MAX 41 - RLW 72 - ROBERTSON, HERB 31 -<br />
RST 28 - SAKAMOTO, RYUICHI 45 - SAUNDERS, JAMES 64 - SCHMICKLER, MARCUS 64 - SCHNEIDER,<br />
HANS 19 - SIGNAL QUINTET 20 - SIGNAL TO NOISE 65 - SIX TWILIGHTS 65 - SOFT MOUNTAIN 66 -<br />
SPACEHEADS 66 - THE STILETTOS 43 - STÖMA 43 - THE STUMPS 28 - SUICIDAL BIRDS 43 - SVENS-<br />
SON, PER 24 - SWIMS 67 - TARAB 67 - THE TERMINALS 29 - THIEKE, MICHAEL 68 - THE THING 5 -<br />
THIS YEARS‘S MODEL 68 - TROYER, ULRICH 69 - ULTRALYD 39 - UNDERGROUND JAZZ TRIO 33 - V/A<br />
CAMERA LUCIDA 75 - V/A CROWS OF THE WORLD VOL.1 27 - V/A DAS DIETER ROTH ORCHESTER<br />
SPIELT KLEINE WOLKEN, TYPISCHE SCHEISSE UND NIE GEHÖRTE MUSIK 73 - V/A DESERT SPACE<br />
44 - V/A FREE ZONE APPLEBY 2006 36 - V/A FREI<strong>BA</strong>ND RMX 71 - V/A HEIZUNG RAUM 318 73 - V/A LEO<br />
RECORDS 25TH ANNIVERSARY LOFT, KÖLN 31 - V/A OTHERNESS 74 - V/A SCHAFFHAUSER JAZZGE-<br />
SPRÄCHE 79 - V/A STAINLESS 42 - VIALKA 70 - VINCS, ROBERT 22 - VINTAGE 909 41 - VÖLKER, UTE<br />
75 - WAARD, FRANS DE 71 - WEBB, DOUG 16 - WEBER, CHRISTIAN 20, 65, 68 - WESTON, MATT 69 -<br />
WHITE, SIMONE 69 - YUGEN 15 - Z‘EV 71, 74 - ZORN, JOHN 7 ff - ZU 5