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<strong>BA</strong>D<br />

ALCHEMY<br />

<strong>55</strong><br />

1


Everything is confused, not mysterious, but lost like a set of car<br />

keys or the meaning of a cliché. We look to our roots, sort of retrace<br />

our steps. Find some sort of primal self-awareness. We look<br />

to varying degrees of alterity, our own journey to the East. But<br />

metaphysics just aren't in vogue any more. We need a medium. Some<br />

means of connection. Some language bridging the gap between<br />

action and belief... Rhythm, steady beating...<br />

It is a language even if our people's politicians and business execs<br />

can't hear it... But what does it mean to us? Does it mean anything<br />

or are we inventing some sense to it does it matter?... We allow ourselves<br />

to be confused by it. But in the shared sound is the familiarity<br />

of not being alone in our loneliness; connection with something.<br />

A sense of something beyond the self. Music, rhythm, freedom,<br />

and spirituality all blend together in a way unique to the listener,<br />

the culture, and create the listener-already-in-culture.<br />

Jazz is the crossroads, the journey to and in one's culture/self.<br />

Tim Duggan Street Gospel Intellectual Mystical Survival Codes<br />

www.angelfire.com/jazz/masada/jazz23.html


...Jacopo Battaglia (Zu), Gregg Bendian (The Mahavishnu Project), Daniel Denis (Univers<br />

Zero), Hamid Drake (DKV, Spaceways Inc.), Lou Grassi, Paul Lovens, Paul Lytton, Sean<br />

Noonan (The Hub), Ray Sage (W.O.O. Revelator), Dave Smith (Guapo), Chad Taylor<br />

(Chicago Underground Duo, Sticks and Stones), Claudio Trotta (Testadeporcu), Christian<br />

Vander (Magma), Weasel Walter (The Flying Luttenbachers), Tatsuya Yoshida (Ruins, Painkiller),<br />

Michael Zerang (Survival Unit III)... Die Godz of Rhythm meinen es offenbar gut mit<br />

mir, denn all diese Taktzersplittrer und Helterskeltergroover<br />

brachten mich in den letzten Jahren live zum<br />

Staunen und vor allem zum Headbangen.<br />

Einer jedoch fehlt noch, MEIN persönlicher<br />

21 Century-Drummer, der, der mitmischt<br />

beim Sten Sandell Trio und Scorch Trio,<br />

der Territory Band und dem Peter Brötzmann<br />

Tentet, bei FME, Powerhouse Sound<br />

und nicht zuletzt The Thing. Geboren am<br />

24.12.1974 in Molde, aber aufgewachsen<br />

in einem Jazzclub in Stavanger, den seine<br />

Eltern leiteten. Mit 19 gründete er an seinem<br />

Studienort Trondheim seine eigene<br />

Band - Element. Ab 1996 in Oslo wurde<br />

er schon von den Jazzgrößen Håkon Kornstad<br />

und Frode Gjerstad in die norwegische<br />

Premier League aufgenommen und <strong>als</strong><br />

Nächstes spielte er mit schwedischen<br />

NowJazz-Originalen wie Sten Sandell<br />

und Mats Gustafsson. Am liebsten aber<br />

mit seinem Studienzeitbuddy, dem Kontrabassisten<br />

Ingebrigt Håker Flaten. Die beidsind<br />

überall dort anzutreffen, wo der spriwörtliche<br />

Hund in der Pfanne verrückt wiund<br />

der Bär tanzt. Ach, den Namen habe<br />

noch nicht genannt? Der Mann heißt<br />

P A A L N I L S S E N - L O V E<br />

kurz PNL, und ist unter den Anheizern des aktuellen skandinavischen Avantfeuers<br />

der feurigste und gleichzeitig facettenreichste. Z. B. mit ATOMIC. Obwohl<br />

dieses Quintett zu den Speerspitzen des Nordland-Nowjazz zählt, kannte ich<br />

bisher nur ihre Nuclear Assembly Hall-Kollaboration mit School Days. Den schwedischen<br />

Saxophon- & Klarinettisten Fredrik Ljungkvist (*1969, Kristinehamn) hörte ich<br />

zudem mit der Territory Band. Und was Ingebrigt Håker Flaten & PNL angeht, da bin<br />

ich Groupie. Dazu kommen der auch mit Free Fall bekannte Pianist und, neben Ljungkvist,<br />

Hauptideenlieferant Håvard Wiik und der 1965 im schwedischen Huskvarna geborene<br />

Magnus Broo mit seinem flexiblen Trompetenton. Aber Knowhow allein macht<br />

es nicht und Cage‘sche Weisheiten ebensowenig. Entscheidend ist der Tropfen im Blut,<br />

der verursacht, dass einem die schöne neue Welt nicht schön und neu genug erscheint.<br />

Die erlöste Welt ist bekanntlich wie die unerlöste, nur ein wenig anders. Wie sich dieses<br />

‚ein wenig‘ anhören kann, wenn man es auf Jazz anwendet, darum dreht sich Happy New<br />

Ears (Jazzland Recordings, 987 6<strong>55</strong>-4). Beispielhaft beim lyrischen ‚Poor Denmark‘ mit<br />

seinen melodiösen Konsonanzen und Unisonopassagen. Nur klappert PNL dazu seltsames<br />

Zeug, bis auch er sich dem Blue Note-Bop der Bläser anschließt, die aber plötzlich wieder<br />

von ‚hard‘ auf poetisch umschalten, während im gleichen Moment die Rhythmik wieder<br />

zersplittert. Die fünf beherrschen dieses In-Out-Spiel mit kleinen Abweichungen virtuos.<br />

So dass einen gleichzeitig immer ein Déjà vu am Haken hat, Links in alle Ecken der Jazzgeschichte,<br />

mit Vorlieben für Giuffre oder Bill Evans, und doch ein Element ein wenig aus<br />

dem Ruder läuft. Mitwippseligkeit wie beim Ohrwurmmotiv von ‚Roma‘, traumhaft Schönes<br />

wie das Arcointro zum schönen ‚Sooner of later‘ oder wie Broos Trompetensolo bei ‚Crux‘<br />

und wie ‚Closing Stages‘ insgesamt, aber durchschauert von Frischeschocks. Denn hört<br />

euch nur an, wie PNL dazu trommelt - <strong>als</strong> ob er sich gegen Cecil Taylor behaupten müsste!<br />

Selbst wenn er Süßholz raspelt, fliegen Splitter. Durch diese spannungsvollen<br />

und leicht irritierenden Diskrepanzen, mit dem quirligen<br />

‚Two Boxes Left‘ <strong>als</strong> Merkur und dem brummigen ‚Cosmatesco‘<br />

<strong>als</strong> Saturn, macht Atomic tatsächlich happy.<br />

3


PNL hat mit LASSE MARHAUG einiges gemeinsam,<br />

den Jahrgang 1974, Norwegen <strong>als</strong> Brutstätte und<br />

eine Vorliebe für Noise, nicht <strong>als</strong> Nebeneffekt, sondern<br />

<strong>als</strong> Stoff. Bei Marhaug ist das Faible für<br />

SchMerzPunkDaDa à la Merzbow bekannt, durch Origami<br />

Replika oder Jazkamer. Er und PNL kennen<br />

sich spätestens seit 2003, <strong>als</strong> sie auf dem NuMusic<br />

Festival in Stavanger zusammen spielten (Personal<br />

Hygiene, Utech), seit 2004 agieren sie auch gemeinsam<br />

in der Territory Band. Gemeinsam ist ihnen definitiv<br />

auch der Spaß an Höllenkrach und entsprechend<br />

gebärden sie sich auf Stalk (PNL Records,<br />

PNL001) <strong>als</strong> ‚Paranoia Agenten‘ in einem ‚Satanico<br />

Pandemonium‘. Zuerst hört es sich an, <strong>als</strong> ob PNL<br />

hier auch zu elektronischen Waffen greift, um kakophon<br />

zu dampfen und zu spritzen. Aber dann erkennt<br />

man doch deutlich inmitten von Marhaugs<br />

Sampling- und Feedbackknurschen wie er Alarm<br />

schlägt, wie seine Becken beben und rauschen, wie<br />

er mit Holz und Bronze schabt und kratzt und mit<br />

Ketten rasselt. Bei ‚The Last Exile‘ und ‚The Lodger‘<br />

interagiert er mit splittrigen Flirrschlägen und rasenden<br />

Snarewirbeln mit Marhaugs Cut-up-Schnipseln<br />

von Stimmen oder aggressiv pochenden, stechenden<br />

Noisefetzen. ‚Tenebrae‘ ist ein nahezu manischer<br />

Trommel-Strepitus, zu dem Marhaug einen<br />

brüllenden Loop-Twister immer näher rücken lässt,<br />

bis man in den Mahlstrom mitgesaugt wird. ‚I Will<br />

Walk Like a Crazy Horse‘ lässt in der Ferne Panzer<br />

vorüber rollen, die Schrottteile klackernd beben lassen,<br />

während ein Funkgerät nur verstümmelte Laute<br />

spotzt. Das Grollen rückt immer näher, das gestörte<br />

Funkgerät prasselt ohne Kontakt. Und ich möchte<br />

wetten, dass zu dem, was die beiden Norweger verbindet,<br />

auch eine Vorliebe für nervenzerrende Action-<br />

und Schauerfilme gehört.<br />

PNL, der für Stalk sein eigenes Label installierte, hat<br />

zwar mit Sticks & Stones (SOFA, 2001) und 27 Years<br />

Later (Utech, 2005) demonstriert, wozu er alleine in<br />

der Lage ist, lieber aber sucht er die Herausforderung<br />

im Dialog mit Saxophonisten wie Vandermark,<br />

Gustafsson, Håkon Kornstad oder John Butcher,<br />

dem Moha!-Gitarristen Anders Hana, sogar mit einem<br />

Kirchenorganisten (Pipes & Bones, 2005). In<br />

der Transparenz der Trios mit Sandell & Berthling<br />

oder Vandermark & McBride zeigt er sich <strong>als</strong> agiler<br />

Teamspieler, kein Drescher, immer mit quicken, abrupten<br />

Bewegungen, starkem Vorwärtsdrang und<br />

übersprudelnder Klangvielfalt. Da zeigt sich schon<br />

sein vulkanisches Temprament, das ihn dorthin<br />

drängt, wo die Schmerzlust am grössten zu sein verspricht.<br />

Das flirrend Abrupte und ein sarkastischer<br />

Unterton erinnern an Lytton, aber PNL mischt dazu<br />

Free Form-Rockabilly und Hardcore. Diesen Neigungen<br />

entspricht auch sein halbstarker Outfit und seine<br />

Mimik, wenn er sich so richtig ins Zeug legt, etwa<br />

mit Raoul Björkenheim im Scorch Trio und beim rasanten<br />

Neo-No Wave von The Thing. Da explodiert er<br />

<strong>als</strong> Selbstmordattentäter für eine Erlösung der Welt<br />

durch Rhythm & Noise, wie es sich Stockhausen<br />

nicht besser erträumen könnte.<br />

4<br />

Eine absolute Herkulesaufgabe meisterte<br />

Nilssen-Love bei The First Original<br />

Silence (Smalltown Superjazz,<br />

STSJ124) von ORIGINAL SILENCE.<br />

Unter diesem unscheinbaren Namen<br />

probt ein Allstarteam den Aufstand<br />

gegen die Trägheit der Herzen, das<br />

sich zusammensetzt aus dem Zu-<br />

Bassisten Massimo Pupillo, den Gitarristen<br />

Terrie Ex und Thurston Moore,<br />

Jim O‘Rourke an Electronics und<br />

Mats Gustafsson an Bariton- & Slidesaxophon<br />

+ Effekten. Letztere bilden<br />

<strong>als</strong> Diskaholics Anonymous Trio die<br />

Keimzelle dieses Noisemonsters, dem<br />

Pupillo Säureblut durch die Adern<br />

pumpt mit seinem entsprechend<br />

monströs bratzenden Splatterfuzzbass.<br />

Im viertelstündigen ‚If Light Has<br />

No Age, Time Has No Shadow‘ legen<br />

sie <strong>als</strong> Grobschmiede ihre Eisen ins<br />

Feuer, im dreiviertelstündigen ‚In the<br />

Name of the Law‘ unternehmen sie<br />

eine Aventure und gleichzeitig eine<br />

Analyse des Bratzens. Während die<br />

Titel angeregt wurden durch Carl<br />

Frederik Reuterswärd, hierzulande<br />

bekannt durch seine verknotete Pistole<br />

vor dem Kanzleramt, saugt dieser<br />

kollektive Free Noise seine Lebensenergie<br />

aus mutierten Freakzellen,<br />

aus verzerrten Parts maudit von<br />

Rock, Jazz und Electro. ‚If Light...‘ ist<br />

hochenergetisch und PNL hat alle<br />

Hände voll zu tun, um dem schnell<br />

wachsenden Godzilla Schuppen und<br />

einen Zackenkamm zu schmieden.<br />

Man muss ein Alien sein, um zu PNLs<br />

Gepolter und dem Schrappeln der<br />

drei Stringwrestler ein Tänzchen zu<br />

wagen. ‚In the Name...‘ sammelt sich<br />

zur rasanten Schussfahrt, an deren<br />

Ende Gustafsson, von PNL angestachelt,<br />

einen Durchbruch bohrt. Nach<br />

allen Richtungen echolotend, durchqueren<br />

die Sechs eine Noiseuntiefe,<br />

bis erneut das Saxophon eine Membrane<br />

aufreißt, durch die sich bruitistische<br />

Ursuppe ergießt, die gemeinsam<br />

durchpflügt wird, um endlich ans<br />

Ziel zu kommen - das anfängliche<br />

Grundrauschen, das A und O, die<br />

Uroborosschlange, die diese Musik<br />

die ganze Zeit beschwört. PNL kann<br />

hier alles zeigen, den polternden,<br />

scheppernden Troll, vertrackt und<br />

groovig, den Kardiologen, der auf<br />

Kammerflimmern lauscht, den rasselnden<br />

Schamanen, der die Väter<br />

der Trägheit in Schach hält. An ihm<br />

beißen sich Zynismus und Borniertheit<br />

die Zähne aus.


THE THING vs ZU Live am 24. Mai 2007<br />

Wenn Boreas und Notos aufeinanderprallen<br />

Etwas Besseres <strong>als</strong> den kultigen club W71 in Weikersheim<br />

<strong>als</strong> zweite Etappe ihres Vierländerspringens<br />

mit den Stationen Schorndorf ... Wels - Stirling<br />

- Moers – Bergen hätten sich diese beiden Trios<br />

nicht wünschen können. Dazu war noch Reinhard<br />

Kager mit dem NOWJazz-Aufnahmewagen des<br />

SWR2 angereist, um die Mikrophone auf die zu erwartenden<br />

orkanartigen Böen zu richten. Vom<br />

Hausbrand der Gastgeber und Gekicke auf dem direkt<br />

benachbarten Sportplatz selber schon vorgeheizt,<br />

brauchten Mats Gustafsson, Paal Nilssen-<br />

Love & Ingebrigt Håker Flaten keine drei Minuten,<br />

um den Club von einer bereits dampfenden Sauna<br />

in eine Friteuse zu verwandeln und ihre schwarzen<br />

Ruby's Barbecue-T-Shirts noch etwas schwärzer zu<br />

färben. Harry Lachner spricht beim aktuellen SWR2-<br />

NOWJazz-Thema ‚Taktlos – vom Verschwinden des<br />

Beats’ von einer ‚Ästhetik des Zersplitterten’. Er<br />

muss dabei dieses norwegische Rhythm-Team im<br />

Ohr haben. Wenige zerhacken den Takt so fraktal<br />

und vehement wie Nilssen-Love, der mit seiner<br />

scheppernden, peitschenden Cut-Up-Ästhetik NOW-<br />

Jazz seinen Stempel aufdrückt. Håker Flaten bekrabbelt<br />

dazu seinen Kontrabass mit Fingern, so<br />

flirrend und verwischt wie futuristisch gemalt, er<br />

lässt die Saiten knallen und klatschen, kämpft wie<br />

ein Berserker, um noch die letzten Funken aus diesem<br />

Funk zu schlagen. Denn The Thing ist der unbändige Nordwind. Gustafsson bekommt<br />

einen ganz dicken H<strong>als</strong>, kniet sich mit aller Inbrunst dem Feuerdrachen auf die Brust, entflammt<br />

selbst, zerraspelt und zerplopt ein Reedblättchen nach dem andern, macht sich bei<br />

den hohen Tönen lang und dünn wie eine Rohrdommel, schürt die Glut wie ein Speedmetalgitarrist.<br />

So muss das sein.<br />

Im fliegenden Wechsel dann Zu, sprich Jacopo Battaglia – Drums, Massimo Pupillo – E-Bass<br />

& Luca T Mai – Baritonsax. Gleiche Intensität, aber ganz anderes Spiel. Wenn The Thing<br />

Free Jazz hyperventiliert, dann mischen die Italiener Melvins, NoMeansNo und Lightning<br />

Bolt. Battaglia bolzt mit der Basstrommel und rifft die ‚Muro Torto‘-Marschbeats, stakkatohaft,<br />

brachial. Mai, ein bulliger,<br />

schwarzbärtiger Ahabtyp<br />

pusht und hält Saxdrones<br />

wie ein elastisches, erdbebensicheresHochhausfundament.<br />

Aber der Gipfel, das<br />

sind Pupillos Basstraktate, so<br />

diskant, sprunghaft und rasend,<br />

so ‚Wolf Day‘-fuzzig und<br />

knurrig, dass selbst Hölle,<br />

Tod und Teufel sich ein Lächeln<br />

nicht verkneifen können.<br />

Ich muss zugeben, dass<br />

ich die Drei unterschätzt habe,<br />

Zu ist eine schwarze Maschine<br />

geworden, unaufhaltsam<br />

und mitreißend.<br />

Jetzt erst mal Pause zum<br />

Luftschnappen, mit klingelnden<br />

Ohren und nur langsam<br />

abklingendem seligen Grinsen.<br />

5


6<br />

Dann Doppelpack, Nordwind und Südwind,<br />

verabredet zur gemeinsamen<br />

Himmelfahrt, im wirbelnden, fauchenden<br />

Miteinander. Die beiden Drummer<br />

kicken in sagenhaftem Rapport immer<br />

wieder ricochettierende Synchronzuckungen<br />

los, splittern kontrapunktisch<br />

auseinander, die beiden<br />

Bassisten gehen <strong>als</strong> Einzelkämpfer<br />

durchs Feuer, die beiden Saxophonisten<br />

prusten und röhren bis die Trommelfelle<br />

an der Schädeldecke kleben.<br />

Stop & Go <strong>als</strong> Blitzgewitter, dann wieder<br />

Headbangerriffs, die man nur<br />

zustimmend abnicken kann, alles bei<br />

furiosem Gegenwind, und plötzlich<br />

sind wir mitten in ‚State of Shock’ von<br />

The Ex! ROCK’N’ROLL!!! Fast hilflos<br />

wirft man sich ungläubige Blicke zu.<br />

Ist das zu fassen!? Zwischen soviel<br />

gleisender Hymnik und Intensität<br />

stimmt Gustafsson lyrische Töne an<br />

und transferiert einen Schockzustand<br />

in einen andern. Dann wieder Noise<br />

as Noise can, von Håker Flaten per<br />

Laptop, Gustafsson mit Effekten und<br />

Pupillo mit stechenden, bratzelnden<br />

Stromkabelstörungen gekitzelt. Und<br />

schon wieder piano, Nilssen-Love<br />

boingt seinen Gong, versetzt dem Becken<br />

sanfte Stüber, lässt Bronzestaub<br />

rieseln und Gustafsson macht sich<br />

weich und leicht wie eine sanfte Brise,<br />

während der Schweiß von seiner<br />

Stirn längst nicht mehr tröpfelt, sondern<br />

rinnt. Irgendwann sind wir bei<br />

der dritten Zugabe, mit mehr <strong>als</strong> nur<br />

heißen Händen. Und das Sextett hat<br />

noch ein launiges Zackzackzackspiel<br />

in petto, die Drummer klacken im<br />

Wechsel Beatfolgen an, versuchen<br />

sich zu f<strong>als</strong>chen Einsätzen zu provozieren,<br />

aber die Band interagiert wie<br />

telepathisch auf Draht. Und geht,<br />

wenn‘s am schönsten ist.<br />

Soviel für Nichtpathetiker.<br />

Für die andern noch ein Nachsatz:<br />

Unter NowJazz verstehe ich die Art<br />

von Jazz, die nicht schon oder noch<br />

Jazz IST, sondern der Prozess eines<br />

WERDENS, getrieben vom Willen, direkt<br />

am Herzen von Musik sich die<br />

Lippen zu verbrennen. Ein Herz, das<br />

vielleicht ein weißes Rauschen ist,<br />

oder ein schwarzes Feuer. The Thing<br />

und Zu sind Zarathustrier, sowohl im<br />

Sinne von ‚Feueranbeter‘ wie von<br />

Nietzsche‘anische Dionysiker. Wer<br />

sich fragt, wie es klingt, wenn ‚alle<br />

Lust Ewigkeit, tiefe, tiefe Ewigkeit will‘,<br />

der hätte im W71 eine mögliche Antwort<br />

zu hören bekommen.


JOHN ZORNS POSSESSIONS<br />

Würde es nicht genügen, um At the Mountains of<br />

Madness (Tzadik, TZ7352, 2 x CD) zu würdigen,<br />

wenn ich einfach nur die Namen John Zorn, Marc<br />

Ribot, Jamie Saft, Ikue Mori, Trevor Dunn, Joey Baron,<br />

Kenny Wollesen & Cyro Baptista wie Perlen<br />

auffädle und feststelle, dass ELECTRIC MASADA<br />

live in Moskau und Ljubljana 2004 alle Wünsche erfüllte,<br />

die Herz & Hirn an Musik richten? Dass ich<br />

mir in den Arsch beißen könnte, weil bereits der<br />

Auftakter ‚Lilin‘ alle Register eines Updates von<br />

Jazzrock zog, ohne mich? Wobei der New Yorker<br />

Komponist & Altosaxophonist nur die dynamischsten<br />

und spannendsten Passagen von Mahavishnu<br />

Orchestra, Miles, Hancock und Zappa mit seinem<br />

Starkstromensemble an New York Now-Cracks aufgreift.<br />

Von seinen 50th Birthday-Allstars ist nur der<br />

Naked City-Drummer Baron auch ein weiterer Masada-Mann,<br />

aber mit Mori ist Zorn seit wohl 25 Jahren verbunden<br />

und was wären seine Filmmusiken ohne Ribot und Baptista? Dunn<br />

mit seiner Erfahrung <strong>als</strong> Mr. Bungle- und Fantomas-Bassist, Saft <strong>als</strong><br />

der Freak In-Keyboarder des Masada-Trompeters Dave Douglas, der<br />

New Klezmer- und Sex Mob-Trommler Wollesen, sie alle liefern die<br />

Synergie, um Zorns Fächer an Vorlieben so pfauenradmäßig aufzufalten,<br />

wie er das liebt. Jazz von Postbop bis zum schrillsten Overthe-Top-Kreischen<br />

auf dem Alto inklusive Naked City-Daumenkino<br />

(‚Hath-Arob‘), Exotica in träumerischer und schwelgerischer Opulenz,<br />

durchsetzt mit messianischer Hymnik (‚Abidan‘, ‚Kedem‘). Wobei<br />

all diese Hybridisierungen tatsächlich Zorns Vision einer New Jewishness<br />

entsprechen mögen, wenn ‚Jewishness‘ heißt, aus Allem<br />

das Beste zu machen und dabei H.P. Lovecraft mit Sabbatei Zwi,<br />

Marguerite Duras mit Mickey Spillane, Morton Feldman mit Carl<br />

Stalling und Primitiva mit Pangaea und I sing the Body Electric zu<br />

vermengen. Wer hat denn in den letzten Jahren Melodien zustande<br />

gebracht wie ‚Idalah-Abal‘ in all seiner von den Drummern zum Gipfel<br />

geprügelten Großartigkeit? Einen Blues wie ‚Yatzar‘, den Ribot<br />

herzzerreißend spielt, bevor man auf eine Enchanted Island entführt<br />

wird. Ribot ist trotz seiner Distanzierung von Zorns ideologischer<br />

Chuzpe mit ganzer Hingabe seine süßeste und seine gewaltigste<br />

Stimme. Für die Flohspringprozession ‚Metal Tov‘, im Vergleich zu<br />

der das Naked City-Original auf Radio zum folkloresken Tänzchen<br />

erblasst, schwingt er die Metal-Axt, um bei ‚Karaim‘, benannt nach<br />

dem türkischen Jiddisch und eine der innigsten Masadamelodien<br />

überhaupt, eines der schönsten Gitarrensoli der Instrumentalrockgeschichte<br />

zu erfinden. Da möchte man die Insel des vorigen Tages<br />

gleich noch einmal ansteuern und genau das geschah in Ljubljana.<br />

Sechs Stücke kehren wieder, nur zum Auftakt kommt statt ‚Lilin‘<br />

‚Tekufah‘ und beamt den 74er Miles 30 Jahre vorwärts in die Gegenwart<br />

und Ribot fetzt dazu einen Chorus nach dem anderen mit bisher<br />

unerhörten Delayeffekten. Moris Zwitschermaschine war selten so<br />

effektiv zu hören wie mit dieser phantastischen und toughen Wuxia-<br />

Musik. Jesus-Lookalike Saft läuft durch ‚Abidan‘ wie mit Katzenpfoten<br />

über Glas, dessen Splitter Mori funkeln lässt. Und Ribot, ach<br />

Ribot... Seine Gitarre killt vielleicht keine Nazis, aber sie spuckt Feuer<br />

und sie streut Rosen und manchmal bringt sie sogar die Rosen<br />

dazu, aufzuflammen. In solchen Burn, Baby, Burn-Momenten wird<br />

auch klar, wozu eine 3-köpfige Rhythmsection besonders gut ist. Wie<br />

sie bei ‚Idalah-Abal‘ Zorn auf ihren Schulten so nah ans Paradiestor<br />

stemmt, dass er ein Loch hinein bohren kann. Davon noch ganz fiebrig,<br />

federt sie durch ‚Kedem‘, das den Ljubljana-Abend mit einem<br />

Bitches Brew-Spektrum der elektrifizerten Masada-Ingredienzen beschließt.<br />

‚Jewishness‘ ist nur ein Gleichnis, das Unbeschreibliche,<br />

hier wird‘s getan.<br />

7


Die spezielle Befindlichkeit von Menschen, die ihrer ‚Jewishness‘<br />

‚entfremdet‘ sind, nannte Ned Rothenberg ‚Inner Diaspora‘. Bei John<br />

Zorn treibt dieses individuelle ‚Ausgesätwordensein‘ erstaunliche<br />

Blüten. Sein Anspielungsreichtum, unnötig belächelt, umfasst allein<br />

hier die dämonischen Töchter Liliths und Samaels (Lilin) und die 4.<br />

der Ägyptischen Plagen (Hath-Arob); Tekufah heißt (Jahres)-Kreislauf<br />

und Tagundnachtgleiche, Kedem bedeutet gleichzeitig Vergangenheit,<br />

Osten und vorwärts; ähnlich mehrdeutig ist Yatzar, erschaffen,<br />

hebr. wajjizer (1_Mos 2,7), wobei einige meinen, dass die zwei<br />

Jot auf das Zwiespältige der Schöpfung hindeuten (Jezer hara = böser<br />

und Jezer hatov = guter Trieb).<br />

Zorn ist permanent bestrebt, derart Disparates und In-Sich-Widersprüchliches zu<br />

fusionieren: The great work is the uniting of opposites - Kenneth Anger (Lucifer<br />

Rising), Antonin Artaud (Le Momo), Francis Bacon (Aporias), George Bataille (Leng<br />

Tch‘e), Hans Bellmer (Absinthe), Walter Benjamin (Angelus Novus), Joseph Beuys<br />

(The Nerve Key), Hieronymus Bosch (Chimeras), Luis Bunuel (Madness, Love and<br />

Mysticism), Ornette Coleman (Spy vs. Spy), Aleister Crowley (I.A.O.), Maya Deren<br />

(Filmworks X), Marcel Duchamp (Etant Donnes), Jean Genet (Elegy), Jean-Luc Godard<br />

(Godard), Ennio Morricone (The Big Gundown), Man Ray (Radio), Raymond<br />

Roussel (Locus Solus), Weegee (Naked City). Seine Mystic Fugu-, Number of The<br />

Beast-, Hermetic Theater- und Oulipo-Lesarten der Kabbala, die saloppe Art wie er<br />

das Buch Zohar zwischen dem Book of Heads und dem 7-bändigen Book of Angels<br />

neben das Necronomicon stellt, sein Zappen zwischen New York und Tokyo, Cartoon<br />

S/M, Manga-Bizarrerie und Jüdischer Überlebenskultur (The Port of Last Resort,<br />

Trembling Before G-d, Secret Lives) und wie er Tabu & Exil, Splatter & Romance<br />

ineinander blendet, das alles lässt sich kokett <strong>als</strong> TV-Sozialisation à la Tarantino<br />

oder Manie kurzer Aufmerksamkeitsspannen, <strong>als</strong> Chuzpe oder <strong>als</strong> dekadenter Eklektizismus<br />

abtun. Dabei folgt Zorn nur dem weißen Kaninchen von einer Faszination<br />

zur nächsten, seitdem er mit 19 sein erstes Stück komponierte und nach einem Gedicht<br />

von Coleridge ‚Christabel‘ nannte. Danach - ein wucherndes Aderngeflecht<br />

von Game Pieces, Bebop, Soundtracks, Jazzcore, Musica Nova, Fusion, Musique<br />

concrète, Exotica - Naked City (1989-92), Painkiller (1991-), Masada (1994-), Tzadik<br />

(1995-) ... William Schuman Award 2007 (mit Vorgängern wie Gunther Schuller 1989,<br />

Milton Babbitt 1992, Steve Reich 2000) ...<br />

Das Masada-Projekt ist Asher Ginzberg aka Ahad Ha‘am (1856-1927) gewidmet,<br />

dem Gründervater des Kulturellen Zionismus, der zu einer Renaissance<br />

der Jüdischen Kultur aufrief, die diasporisch verstreut, in Genisot versteckt<br />

oder durch Assimilierung kaschiert auf Schnitzeljäger wartet. Zorn zitiert dazu<br />

den Kabbala-Experten und Sabbatei Zwi-Biographen Gershom Scholem (1897-<br />

1982), der von „a treasure hunt“ gesprochen hat, „which creates a living relationship<br />

within tradition“, selbst wenn sie außerhalb des orthodoxen Rahmens<br />

stattfindet. Für Zorn kann der Rahmen nicht unorthodox genug sein - Sex, Crime,<br />

Kitsch, Werbung, Bacharach, Bolan, Gainsbourg... POWERFUL SECRETS<br />

are revealed through INTENSITY and EXTREMES of experience. Das Buch, in<br />

dem alles steht, ist zerfleddert in Fitzelchen, wie sie auf den Masada-Covers zu<br />

sehen sind. Die Gnosis des Isaak Luria (1534-1572) erklärt diesen Zustand mit<br />

dem Schebirath ha-kelim (dem „Zerbrechen der Gefäße“) und sieht den Erlösungsweg<br />

in Tikkun olam („Wiederherstellung“), von der auch das Buch Zohar<br />

spricht. Dabei geht es darum, die zerstreuten ‚Licht- / Geistfunken‘ zu sammeln<br />

- „You could call it stealing, you could call it quoting, you could call it a lot of<br />

different things.“ Soviel zu Zorns ‚Eklektizismus‘. Es geht um „spiritual possessions“<br />

im Sinne von Besitz- und Eigentum - aber vielleicht auch von Besessensein<br />

(wie im kabbalistischen Konzept des Ibbur) - , wobei Ha‘am das explizit<br />

nicht auf einen ‚Staat Israel‘ bezog, sondern auf Sprache und Literatur, auf ein<br />

‚Imaginäres Israel‘, ein ‚Inneres Israel‘. Jedes Fitzelchen Text ist dabei Teil eines<br />

größeren Puzzles, jeder Text ist Interpretation und wieder Gegenstand von<br />

Interpretation, Glied in einer Midrash-Kette, die um etwas Unnennbares kreist,<br />

das so bewusst gehalten wird. Zorn beschrieb Spillane <strong>als</strong> „a kaleidoscopic<br />

rollercoster ride through an imaginary narrative.“ Auch sein Lebenswerk <strong>als</strong><br />

Ganzes ist damit treffend charakterisiert.<br />

8


Die Six Litanies for Heliogabalvs (TZ 7361) hat Zorn Varèse, Crowley<br />

und Artaud gewidmet, aus dessen Héliogabale ou L’anarchiste couronné<br />

von 1934 er den Hinweis pflückte, den berüchtigten römischen<br />

Kaiser (+ 222) nicht <strong>als</strong> madman zu betrachten, sondern <strong>als</strong><br />

rebel. Als Marcus Aurelius Antoninus war der gerade mal 13-jährige<br />

Teenager Kaiser geworden und durch seinen Versuch, sich selbst<br />

<strong>als</strong> der androgyne Elagabal des Sonnenkultes zu vergöttlichen ein<br />

Stein des Anstoßes für alle, die Rom lieber <strong>als</strong> Phantasma aus Disziplin<br />

und ‚männlichen Tugenden‘ bewahren möchten. Zorn streut<br />

ihm mit seinen Six Litanies Rosenblätter, wie schon Lawrence Alma-<br />

Tadema, der mit The Roses of Heliogabalus (1888) eine sadomasochistische<br />

Phantasie der Decadence ausgemalt hatte - unter<br />

Rosenblättern zu ersticken. Allerdings sind Zorns Rosen perverse<br />

Blumen, wenn nicht des Bösen, dann der Schmerzlust, gepflückt im<br />

Garten der süßen Qualen. Mit Joey Baron, Trevor Dunn, Jamie Saft,<br />

Ikue Mori und dem Komponisten selbst sind 5/8 von Electric Masada<br />

im Einsatz, werden aber von Zorn über Naked City-Terrain gepeitscht,<br />

das mit Glassplittern übersät ist. Moris Werk? Safts Beitrag<br />

sind wenig geheure, LeVey‘sche Orgeldrones, ein sakral und doch<br />

schweflig angehauchtes Pathos. An Naked City gemahnt vor allem<br />

die hysterische Zickigkeit von Zorns Alto und der Yamatsuke Eye-<br />

Kecak von Mike Patton. Patton ist der Hohepriester dieses Elagabal-<br />

Kultes und die A capella-‚Litany IV‘ von gut 8 Minuten ein irrwitziger,<br />

ein wahrhaft gott-kaiserlicher Eintrag im Book of David Moss. Und<br />

eine Huldigung an Artaud, die ihresgleichen sucht. Ansonsten singt<br />

und schäkert auch ein 3-stimmiger Frauenchor zu Füßen des Kaisers,<br />

sonnenhaft und im grössten Kontrast zur unheiligen Helterskelter-Musik,<br />

die von Baron & Dunn‘schen Metal-Dämonen<br />

durchzuckt und durchstampft wird. In einem Moment silbriges Gefunkel<br />

zum Aaah und Oooh der zarten Frauenkehlen und blitzartig<br />

im nächsten zerSCHRIIIIIIILLT das Universum unter Stromschlägen.<br />

Jede der Litanies wird von solchen Kontrasten und Schocks gespalten<br />

und ist doch untrennbar wie ein Terminator T-1000. Die groteske<br />

und in meinen Ohren doch schaurig-schöne Hochzeit von Hildegard<br />

von Bingen und Fantomas, von Rosenblüten und Vulkanschlacke,<br />

von Pathos, Bizarrerie und Gelächter sollte <strong>als</strong> einer von Zorns<br />

geglücktesten Versuchen, Gegensätze zum Tanzen zum bringen,<br />

der damnatio memoria entgehen, die ihn schon zu Lebzeiten <strong>als</strong><br />

hemmungslosen Hochstapler und musikalischen Barbaren abschreiben<br />

möchte.<br />

9


B E L G I A N S O U N D S C A P E S<br />

Brüssel, 1977. Marc Hollanders und Vincent Kenis’ Gruppe mit dem mysteriösen<br />

Namen Aksak Maboul reißt thematisch, in aller Form des inszenierten<br />

Größenwahns, an, was dann wenig später in Großbritannien intellektuell en<br />

vogue sein wird, <strong>als</strong> das clever inszenierte Label PUNK vom Working Class<br />

Hero zum Art-School-Studenten transferiert wird: Eklektizismus, Internationalismus,<br />

freie und spielerische Vermischung von Formen, Kulturen und Genres<br />

(so wird das in den Anmerkungen zu Onze Danses Pour Combattre La Migraine,<br />

der ersten Platte, treffend zusammengefasst). Danach, und bis Mitte der<br />

1980er Jahre, ist Brüssel tatsächlich die ideale Stadt, um sich nochm<strong>als</strong> an<br />

den verschütt gegangenen Kunsttheorien und Utopien des auslaufenden Jahrhunderts<br />

abzuarbeiten - Situationismus, Lettristen, Debord, Dada, Artaud, Surrealismus,<br />

Futurismus, Heartfield beispielsweise - und diese musikalisch mit<br />

den Visionen des New Wave und neuen technischen Möglichkeiten zu konfrontieren.<br />

Nur logisch, dass sich mit der Gründung von Crammed Disc auch das<br />

R.I.O. / Recommended-Umfeld von der Ausrichtung und den Idealen des Labels<br />

angesprochen fühlt, denn theoretisch aufgeladen und abstrahiert kann auch<br />

die linientreue Linke sich dem Punk, bzw. im Falle von Hollander und Kenis der<br />

Freiheit des (genialen) Dilettantismus, ungefährdet annähern. Jauniaux,<br />

Berckmans, Leigh, Chenevier, Cutler und Frith spielen in den Reihen von Aksak<br />

Maboul und zum großen Teil auf dem zweiten Album Un Peu De L’áme Des Bandits.<br />

Die ersten Veröffentlichungen auf Crammed - außer den beiden Aksak<br />

Maboul-Alben z.B. Honeymoon Killers, Benjamin Lew, Minimal Compact, Tuxedomoon,<br />

Zazou/Bikaye, Deyhim/Horwitz, Hermine - sind dann vergleichbar mit<br />

der Aufbruchzeit von Rough Trade: Blueprints und Referenz für Vieles, was<br />

noch kommen wird.<br />

Michel Duval, Bennoit Hennebert und Annik Honoré rufen Les Disques Du<br />

Crépuscule 1980 ins Leben, und was zuerst <strong>als</strong> Factory Benelux konzipiert<br />

ist, schlägt schnell einen anderen, konsequenten Weg ein. From Brussels With<br />

Love, <strong>als</strong> Kassettenbeilage für den N.M.E. kompiliert und um textlastige Theorie<br />

ergänzt, gibt die Richtung vor, die später Labels wie Touch und Leaf mit einer<br />

ähnlichen Verschmelzung von Ästhetik und Musik verfolgen werden. Und auch<br />

heute noch erscheint das, was für diesen Sampler an Ideen in die Waagschale<br />

geworfen wurde, aktuell, clever und zeitlos; was auch immer uns das über die<br />

letzten dreißig Jahre Musikgeschichte sagen will. Wim Mertens, Michael Nyman,<br />

Glenn Branca, Marc Ribot, Cabaret Voltaire, Current 93, Ludus, Arthur<br />

Russell, Isabelle Antena und (auch)Tuxedomoon - die auf beiden Labels veröffentlichen<br />

- sind einige der Stilisten, die den Hipfaktor zwischen Kunst und Philosophie,<br />

Pop und Avantgarde kontinuierlich neu ausloten, justieren und vor allem<br />

auch mit der entsprechenden Verpackung versehen. Über die Jahre erweitern<br />

sich die Tätigkeiten von Les Disques Du Crépuscule um Buchpublikationen,<br />

Videoproduktionen bis, konsequenterweise, zu Ausflügen in die Modewelt.<br />

Seit 2004 liegt LDDC brach.<br />

Crammed Disc pflegt seit einigen Jahren seinen Backkatalog, ist aber, wie<br />

man weiß, vor allem zu einem der etabliertesten World-Music Labels in Europa<br />

aufgestiegen. Der Nachlass (?) von Les Disques Du Crépuscule wird kompetent<br />

von James Nice, einem Schotten, der in den erwähnten wegweisenden Jahren<br />

selbst in den Reihen des Labels arbeitete, betreut und ständig erweitert. Seinen<br />

Versuch, in den 1990ern einem “richtigen Beruf” (Anwalt) nachzugehen,<br />

hat er, wie soviele andere der dam<strong>als</strong> Infizierten, wieder der Romantik der<br />

Selbstausbeutung und seinem Label mit dem bezeichnenden Namen Les<br />

Temps Moderne geopfert.<br />

In einer Stadt wie Brüssel (und in Belgien überhaupt) steht die Nostalgie allerdings<br />

nur bedingt im Kurs. Außer Carbon 7 mit seinem offenen Labelraster<br />

für Altes und Neues, das von den beiden ehemaligen Univers Zero-Musikern<br />

Andy Kirk und Guy Segers betrieben wird, und Sub Rosa, das die Industrial-<br />

Wurzeln um kontemporäre Klassik und Geräuschmusikpioniere ergänzt, gibt es<br />

bei den jungen, meist ebenfalls von Musikern gegründeten Mikro-Unternehmen<br />

wie matamore recordings., Stilll, (K-RAA-K)3 in Gent oder Ultima Eczema<br />

und Audiobot in Antwerpen wenig Bezugspunkte zur Historie.<br />

10


Blessed By Sleeplessness: Half Asleep<br />

“Langsam begegnet eine Melancholie, die eine Melancholie durchquert, einer weiter entfernten<br />

Melancholie, die vergeht und sich in eine neue Melancholie verlängert “<br />

Henri Michaux, Erste Eindrücke<br />

Mit schon drei bei verschiedenen Mikrolabels in Brüssel und<br />

Frankreich erschienenen Alben ist Valérie Leclerq alias Half<br />

Asleep für eine weitere Facette der gleichermaßen heterogenen<br />

wie individualistischen belgischen Szenerie verantwortlich. Träfen<br />

die (von der dortigen Presse behaupteten) Vergleiche mit der<br />

New Weird (?) Folkscene, dem mühsam heraufbeschworenen<br />

Hype 2007 ff, tatsächlich zu, wüßte man davon wahrscheinlich<br />

auch außerhalb des frankophonen Teils Europas. Der (musikalisch)<br />

reklusive, welt-verstreute Zirkel von Einzelgängerprojekten<br />

wie jene von Cécile Schott (Colleen), Islaya, Es, Matt Elliott,<br />

Murcof, Bark Psychosis beispielsweise, die vornehmlich von Labels<br />

wie Leaf, Fonal oder Ici D’ailleurs gehegt und gepflegt werden,<br />

scheint aber künstlerisch eher der ihrige zu sein. In der Musik<br />

von Half Asleep gibt es zwar bisweilen durchaus folkige Anleihen,<br />

aber ebenso wie auch kleine satieeske Miniaturen auftauchen<br />

haben die meist langsamen und mit Gitarre und Klavier gespielten<br />

Stücke alle mehr <strong>als</strong> einen Hauch europäischer Strenge<br />

geatmet. Der spröde, manchmal gar liturgisch schwere Grundton,<br />

und das dunkle Timbre der Stimme tun das Übrige. “Low hatten sicherlich<br />

einen großen Einfluß auf mich ausgeübt, indem sie mir<br />

den Mut gaben diese ruhige und langsame Musik zu spielen, die<br />

ich spielen wollte. Ich mag Tara Jane O’Neill, sie ist aber mehr<br />

eine Klangforscherin und kreiert musikalische Landschaften,<br />

während ich mehr an Melodien interessiert bin. Strukturen sind<br />

sehr wichtig für mich; mit zwei oder drei Akkorden kann ich nicht<br />

zufrieden sein, ich würde immer den Eindruck haben, dass der<br />

Song nicht fertig ist und etwas fehlt. Es erscheint mir deshalb<br />

auch bizarr, wenn man meine Musik <strong>als</strong> einfach beschreibt. Vielleicht<br />

bringt man da Simplizität und Minimalismus durcheinander.<br />

Klassische Musik ist nicht auf bloße Akkorde aufgebaut, sondern<br />

auf Variationen, auf erzählende Melodien, die sich ständig entwickeln.<br />

Das inspirierte mich auf die eine oder andere Weise. Ich<br />

habe keinen klassischen Background, ich kann Musik weder lesen<br />

noch schreiben, aber ich besuchte Musikstunden für fünf Jahre<br />

<strong>als</strong> ich klein war. Dies war eine spezielle Schule, in der wir lernten<br />

zu hören und zu spielen, aber keine Stücke zu lesen, es war eine<br />

sehr intuitive und spontane Annäherung.” Half Asleep's Musik hat<br />

grundsätzlich mehr eine Überwachheit <strong>als</strong> Somnolenz im Sinne.<br />

Diese scheinbar desperate Stimmung ist ähnlich den Geisterschiffelegien<br />

Elliotts' mit einem unwirklichen Unterton aufgeladen;<br />

die Geschichten Valérie Leclerqs sind zudem meist surrealironischen<br />

Gehaltes, so dass in der Kombination eine weitere Illusion<br />

einer leicht verschobenen Parallelwelt entsteht, die mich immer<br />

irgendwie an die Atmosphäre von Henry James’ Turn Of The<br />

Screw erinnert (z.B. in der Interpretation von Nicos’ Secret Side,<br />

in der der Gotikcharakter mit einer brüchigen Ambivalenz unterlegt<br />

ist). “Die Texte sind fragmentiert und visuell. Ich bin fasziniert<br />

von absurden Dramaturgen und Schreibern wie Henri Michaux,<br />

Breton, Ionesco, aber auch Gombrowicz oder Harold Pinter. Alles<br />

dort ist fragmentarisch und rhythmisch. Ich denke, Rhythmus ist<br />

mit am wichtigsten, es gibt dem Ganzen Kohärenz und Fluss. Auf<br />

der Seite der weiblichen Schreiber würde ich Virginia Woolf oder<br />

Janet Frame erwähnen, vielleicht Marina Tsvetaieva. Diese<br />

Schreiber haben mich sicherlich berührt und bewegt...Ich denke<br />

auch, dass Kristin Hersh eine briliante Texterin ist.”<br />

11


Alles beginnt mit dem Kontakt zu den umtriebigen<br />

Mikrokosmonauten von matamore.recordings.,<br />

die 2000 noch vor allem<br />

Musik-, Bücher- und Filmbestenlisten<br />

zwischen Luxemburg und der Wallonie<br />

hin- und hersenden, aber auf der Netzseite<br />

auch ein Forum für Musiker einrichten.<br />

Inzwischen auch zum Label erweitert,<br />

ist ihnen außer der Zweitauflage von<br />

Learning to Swim, dem zweiten Album<br />

von Half Asleep, die Veröffentlichung<br />

solch uneinsortierbarer Songpoeten wie<br />

V.O. (Boris Gronemberger, der sich bei<br />

Liveauftritten von Françoiz Breut <strong>als</strong><br />

sämtliche Instrumente der Welt beherrschendes<br />

Universalgenie herausstellte),<br />

Raymondo oder den Post-Rockern Some<br />

Tweetlove zu verdanken. matamore.recordings.<br />

hat sich zudem die Passion<br />

bewahrt, regelmäßig Konzerte in Brüssel<br />

und das jährliche Rhâââ-Festival zu organisieren.<br />

Für Valérie Leclerq ergibt<br />

dann das Eine das Andere. Über die Internetseite<br />

entstehen Kontakte zu Delphine<br />

Dôra, die später zur Zusammenarbeit<br />

führen sollten, und Vincent alias<br />

Dana Hilliot, einem der Betreiber von Another<br />

Record. Nach dem Zusenden einiger<br />

Demos erscheint dort das Debut<br />

Palms & Plums. Das dritte Album (We are<br />

Now Seated) In Profile wird bei dem<br />

schon semi-professionellen Toulouser<br />

Label Unique Records veröffentlicht, das<br />

Verbindungen zu den anderen beiden<br />

unterhält. “Diese drei Labels haben alle<br />

ihren eigenen Geist, den sie auch verfolgen,<br />

aber das Spezielle ist, das sie alle<br />

drei von Musikern betrieben werden. Für<br />

einen Musiker ist es gut zu wissen, dass<br />

er zu einem anderen Musiker spricht, die<br />

Freiheit und die geeignete Unterstützung<br />

erhält. Auch sind die Künstler und Betreiber<br />

der kleinen Labels sehr realistisch.<br />

Man weiß, dass man nicht reich werden<br />

wird, aber es geht darum, sich auf unserem<br />

bescheidenen Niveau an der Musik,<br />

die man liebt, zu erfreuen, und das würde<br />

man gegen nichts in der Welt eintauschen.”<br />

Zugesicherte künstlerische Freiheit heißt<br />

allerdings nicht, dass sich auch das Geschlechterverhältnis<br />

angeglichen hätte.<br />

“Matamore und Unique haben jeweils<br />

eine Künstlerin in ihrem Katalog, und das<br />

bin ich! Bei Another-Record gab es zwei<br />

Gruppen mit einer Sängerin und existiert<br />

noch das side-project musique en marge,<br />

bei dem es sich um die drei “genialen”<br />

Künstlerinnen li, Sandra und Delphine<br />

Dôra handelt. Auch ist das Publikum, das<br />

zu den Auftritten kommt, fast ausschließlich<br />

ein männliches.”<br />

Auf der Bühne wechselt sie zwischen Gitarre,<br />

Bass, Klavier und setzt ein Looppedal zur Variation<br />

ein. “Das ist noch alles sehr ruhig und<br />

amateurhaft, aber ich fühle mich zunehmend<br />

wohler. Für die Zukunft könnte es sein, dass<br />

ich das Konzept erweitere, z.B. mit einer<br />

Gruppe spiele oder mehr improvisatorisch<br />

vorgehe.”<br />

Palms And Plums (Another Record, 2003) und<br />

Just Before We Learned To Swim (matamore,<br />

2005) sind “klassische” Wohnzimmerproduktionen,<br />

aufgenommen mit Mini-Disc-Rekorder<br />

und ein bis zwei Mikrophonen, und doch läßt<br />

sich schon die Komplexitität der Kompositionen,<br />

Melodien und inszenierten Stimmungswechsel<br />

in der Musik Valérie Leclerqs heraushören.<br />

Das im Studio aufgenommene dritte Album<br />

(We Are Now) Seated in Profile (unique<br />

records, 2005) erfährt durch eine dezente Erweiterung<br />

des Instrumentariums (einige Tupfer<br />

Trompete, Glockenspiel und Perkussion)<br />

und die Beteiligung von Schwester Oriane (die<br />

auch auf dem Debut und anfangs bei Auftritten<br />

partizipierte), Thomas Boudineau und Produzent<br />

Gilles Deles bei einigen Stücken, eine<br />

selbstbewusstere Umsetzung. Die Art von Musik,<br />

die ihr vorzuschweben scheint, ist schon<br />

auf dem ersten Album klar herauskristallisiert.<br />

Während für den Moment keine neuen Veröffentlichungen<br />

von Half Asleep geplant sind,<br />

sind einige Ergebnisse von Kollaborationen<br />

mit befreundeten Musikern / musizierenden<br />

Freunden schon dokumentiert. Mit der anarchistischen,<br />

auf ihre Art einem weiblichen Jad<br />

Fair nicht unähnlichen Delphine Dôra entstand<br />

2005 die EP For Christmas. “Delph arbeitet auf<br />

eine sehr spontane Art und Weise, sie hat ihre<br />

völlig eigene musikalische Welt, verrückt und<br />

berührend zur gleichen Zeit, in der praktisch<br />

alles erlaubt ist. Ich schätze es sehr mit ihr zusammenzuarbeiten,<br />

das ist wie Alkohol trinken,<br />

die Selbstkontrolle wird beeinträchtigt<br />

und die Verkrampftheit reduziert.” Auf dem<br />

aktuellen Album besagter Delphine Dora<br />

(Delphine Dora & Friends, Greed Records)<br />

partizipiert neben ihr selbst auch Jullian Angel.<br />

Auch auf dessen eigenem, schwer psychedelisch-folkigen<br />

Album Life Was The Answer<br />

steuert sie zwei Gesangparts bei. Schließlich<br />

besteht, seit man sich auf dem Rhâââ-<br />

Festival 2005 kennenlernte, auch Kontakt zu<br />

Matt Elliott; bei einigen Auftritten in diesem<br />

Jahr spielte sie in seiner Band.<br />

weitere infos:<br />

www.halfasleep.be;<br />

http://myspace.com/halffasleep (sic!);<br />

www.uniquerecords.org;<br />

www.matamore.net;<br />

www.another-record.com/delphine;<br />

http://www.jullian-angel.tk;<br />

http://www.ikerspozio.com<br />

12


Ignatz – The Gloom Of The Darkest Day<br />

Steigt man an der Gare Du Nord aus dem Zug, bekommt<br />

man, sobald man der schmierigen Vorhalle entkommen ist<br />

und in den Himmel von Europas Hauptstadt blinzelt, einen<br />

ersten Eindruck von dem, was die Einheimischen Bruxellisation<br />

nennen. Schaerbeeck; städtebauliche Verwahrlosung,<br />

mit dem Ziel, die eigene Vergangenheit zu zerstören,<br />

um mit der Zukunft zu experimentieren; Art Nouveau, High<br />

Tech-Coolness, großangelegte Parks aus Zeiten Kaiser<br />

Leopolds II, Ruinen, wild durcheinander gewürfelt und an<br />

den Ringstraßen <strong>als</strong> gemeinsamer Nenner zur überdimensionierten<br />

Tankstellen- und Shopping Mall-Landschaft verdichtet.<br />

Von perverser Faszination, J.G. Ballard winkt vom<br />

Parkdeck um die Ecke, und natürlich wurde das alles schon<br />

längst von den ansässigen Comickünstlern aufgearbeitet.<br />

Gut vorstellbar, dass sich hier eine Maus vom Schlage Ignatz<br />

zurechtfände, die surreale Endlosigkeit der Kakteenlandschaft<br />

gegen die Stadtwüste eintauschend. George<br />

Herrimans minimalistisch-genialer Zeitungs(s)trip Krazy Kat<br />

aus den 1910-40er Jahren, in dem er mit bewundernswerter<br />

Sturheit in endlosen Variationen ein (Liebes-)Dreieckverhältnis<br />

ausleuchtet, ist in seiner untertrieben inszenierten<br />

Schlichtheit immer noch unübertroffen. Die verschlagene,<br />

aber 'very cute' Maus Ignatz wirft <strong>als</strong> Zeitvertreib vorwiegend<br />

Backsteine an den Hinterkopf von Krazy Kat, das<br />

diese (oder dieser?) <strong>als</strong> Liebesbeweis auffasst. Hund Pupp,<br />

der Polizist, sucht stets nach Gründen, die Maus einzulochen,<br />

damit er freie Bahn bei der Katze hat.<br />

Natürlich wählt Bram Devens Ignatz <strong>als</strong> alter ego für sein musikalisches Projekt.<br />

Die neunte Kunst war ursprüglich für ihn, der im beschaulich-langweiligen Hasselt, übrigens<br />

vorbildlich <strong>als</strong> Sohn kommunistischer Eltern, aufwuchs, für lange Zeit die erste<br />

und weitaus faszinierender <strong>als</strong> die Musik. Trotzdem, <strong>als</strong> Independent zum Mainstream<br />

degenerierte, landete er auch <strong>als</strong> mäßig Interessierter zwangsläufig in einer Band und<br />

versuchte sich an entsprechenden Weisen. Nach bescheidenem Amusement auf diesem<br />

Gebiet zog es ihn schnell wieder in die Abgeschiedenheit der eigenen vier Wände<br />

zurück; allerdings nun angefixt von der Welt der Töne. Über Experimente mit der Manipulation<br />

von Kassetten und exzessivem Improvisieren auf der Gitarre entwickelte sich<br />

nach und nach der Sound, der jetzt schon, nach zwei Alben, <strong>als</strong> unverwechselbar bezeichnet<br />

werden darf. Eskapismus ist dabei <strong>als</strong> Grundhaltung zu verstehen; nur so<br />

klingt die Musik wie sie klingt: Willkommen zu den magischen Klangfahrten ins Ignatzland.<br />

Bram Devens' Texte, sofern man sie aufgrund Verfremdung und Murmeln überhaupt <strong>als</strong><br />

solche wahrnehmen kann, spielen mit Phrasen und Nichtigkeiten der Populärmusik, <strong>als</strong>o<br />

dem Resultat von jahrzehntelanger anglo-amerikanischer Beschallung und sind, so Devens,<br />

“auf dem intellektuellen Stand eines Fünfjährigen, da ich ja nicht wirklich Englisch<br />

spreche”.<br />

Dass die Musik aber keinesfalls Cartooncharakter hat, sondern in gar seltsame und versponnene<br />

Soundmisanthropien führt, ist natürlich seiner Kunst geschuldet. Obwohl nur<br />

mit akustischer Gitarre gespielt, sind die Stücke mit Effekten und Bearbeitungen enorm<br />

verdichtet und mit Verfremdungen, minimalistischen Drones und irgendwo durch ferne<br />

Echokammern gejagte Melodien und bizarren Stimmen entstellt. Psychedelisch, wenn<br />

man will, aber wie alle Musik, insbesondere aber solche abstrakte, läßt sie sich nicht<br />

wirklich in Worte fassen. Es schimmert die Affinität für amerikanische Folk- und Rootsmusik<br />

- mehr aus der Faszination für deren schäbigen Low-Fi-Sound <strong>als</strong> aus Werkstreue<br />

heraus geboren – durch und gibt Struktur vor. Ignatz I [(K-RAA-K)3, KO49] ist so<br />

klaustrophobisch (und ironisch) wie nur irgend möglich; während des Entstehens von<br />

Ignatz II [(K-RAA-K)3, KO53] scheint Devens doch hin und wieder von seinem Zimmer in<br />

den Vorgarten gespäht und einen Streifen Licht abbekommen zu haben; trotzdem bleibt<br />

die vage Stimmung erhalten: irgendwie dunkel, hypnotisch, endlich und auf ähnlich unerklärlicher<br />

Weise so unheimlich wie Lynchs Hasen in Inland Empire; beispielsweise.<br />

13


Außer zwei Platten in den beiden vergangenen Jahren, veröffentlicht<br />

Bram Devens in loser Folge Momentaufnahmen aus seinem Wohnzimmer<br />

in Form der guten alten Kassette. “Der kreative Prozess ist vergleichbar<br />

mit dem beim Zeichnen. Es entstehen Skizzierungen, an denen ich herumspiele,<br />

ausbessere, ergänze etc. Intuition und innere und äußere Einflüsse<br />

tun das Übrige. Außer Gesang und Gitarre verwende ich nur einige<br />

Effektgeräte und einen Computer. Auch Samples, ohne die Auftritte nicht<br />

möglich wären, speisen sich aus eigenen Quellen. Die Möglichkeiten dieser<br />

rudimentären Ausrüstung sind für mich bei weitem noch nicht ausgeschöpft<br />

und erst, wenn ich mich wiederholen würde, müßte ich über Alternativen<br />

nachdenken. Speziell bei Liveauftritten läuft man allerdings<br />

Gefahr, bei den improvisierten Parts immer die gleiche Lösung zu<br />

wählen.”<br />

Nach dieser Schlußfolgerung ist Wiederholung <strong>als</strong>o Stillstand und daher<br />

inakzeptabel. Die Stücke für die beiden (offiziellen) Alben wurden aus einem<br />

jeweils aktuellen Fundus von ihm und dem Plattenlabel nach einem<br />

Punktesystem ausgewählt. Was nicht Gnade in den Ohren der “Jury” fand,<br />

wurde, da Devens zudem den Anspruch hat, stets Aktuelles zu veröffentlichten,<br />

vom Computer erbarmungslos gelöscht.<br />

Die Verbindung mit (K-RAA-K)3 ist eine glückliche - und für belgische<br />

Musiker abseits des Gängigen überhaupt die momentan erste Adresse.<br />

Gerade hat man im Headquarter in Gent auf den zehnjährigen Geburtstag<br />

mit Nurse With Wound, Jac Berrocal und Maher Shalal Bash Haz anstoßen<br />

können. Was mit Toothpick <strong>als</strong> Kassettenlabel begann, mündete<br />

1997 in die Gründung von (K-RAA-K)3 und mit dem Versuch Label, Distribution<br />

und Promotion für andere Musiker und Konzertorganisation parallel<br />

nebeneinander laufen zu lassen. Seit 2002 konzentriert man sich auf<br />

Label und Konzertorganisation und wird mittlerweile auch staatlich<br />

(flämisch) bezuschusst, wodurch sich nun neben der von Dave Driesmans<br />

zwei weitere Teilstellen finanzieren lassen. Auf drei ausgewiesen anspruchsvolle<br />

Festiv<strong>als</strong> – Pauze und Courtisane in Gent und (K-RAA-K)3 in<br />

Hasselt – kleinere Konzerte in Brüssel und Antwerpen, dem Herausgeben<br />

des monatlich erscheinenden Ruis-Magazin und ein halbes Dutzend Labelveröffentlichungen<br />

pro Jahr hat man sich nun eingependelt.<br />

Schnell tief im musikalischen Niemandsland von Drones, Psych, Minimalismus<br />

und Free Folk findet sich derjenige, der sich in den Katalog hineinhört.<br />

Die beiden Alben von Ignatz, spröde I und II betitelt, sind persönliche<br />

Favoriten, aber auch die sich <strong>als</strong> grimmige Vertreter des Death Metal<br />

gebärdenden, musikalisch aber merkwürdigerweise dann doom-folkigen<br />

Silvester Anfang, das zwischen Impro- und Geräuschmusik fungierende<br />

R.O.T.-Ensemble, die schön-seltsamen Psychedelic-Elektronica– und<br />

Gitarrenstücke des Einsiedlers Sami Sänpäkkilä aka ES ziehen nicht minder<br />

in den Bann. Tuk, das Projekt von Guillaume Graux geht live Verbindung<br />

mit visuellen Künstlern ein; die Stücke sind vorwiegend aus zerhäckselten<br />

und manipulierten Bausteinen aus Bekanntem entstanden<br />

und es wird zur Ratestunde eingeladen. Der Instrumentenbauer und Expunk<br />

Stef Heeren wirkt wie ein Sohn von Free-Folk Übervater David Tibet<br />

/ Current 93. Kiss The Anus Of A Black Cat läßt ein permanentes<br />

Augenzwinkern vermuten, lotet aber einen ähnlich globalen Spiritualismus<br />

aus. Greg Malcolm gehört zur jungen Generation von Gitarristen,<br />

die Improvisation im intellektuellen, Bailey'schen Sinn mit Folk verbinden.<br />

Und das nächste Ignatz–Album? Keiji Haino sei ein weiterer wichtiger Einfluss,<br />

mit Jack Rose oder Sunburned kollaborierte er schon – das<br />

(K-RAA-K)3-Netz macht es möglich - aber noch ist Devens mit Vorliebe<br />

Musiker und gleichsam talentierter Improvisierer in eigener Sache. Welche<br />

Drehungen und Wendungen das nehmen wird, interessiert hoffentlich<br />

nicht nur mich?<br />

mehr Infos: www.myspace.com/ignazt (sic!); www.kraak.net; www.mikro-wellen.net<br />

Michael Zinsmaier<br />

14


AltrOck Productions (Milano)<br />

‚Alt‘ nicht wie alt, sondern wie alternativ. Marcello<br />

Marinone stellte 2005 dieses dritte Standbein neben<br />

www.agarthaprog.com und dem Sesto Art<br />

Rock Music Festival auf die Beine, um für sein<br />

Faible für Prog Rock, Rock In Opposition, Canterbury,<br />

Avant-jazz & Contemporary einen weiteren<br />

Kanal zu installieren. Der Auftakt, YUGENs Labirinto<br />

d‘acqua (ALT001), ist prompt ein RIO-Paukenschlag.<br />

Kopf des Projektes ist der 1972 in Milano<br />

geborene Komponist & Gitarrist Francesco Zago.<br />

Und was für ein Kopf. Ein wahrer Brainiac, der<br />

musikalische Artistik von Barock & Musica Nova<br />

bis Prog (bisher mit MusiCaMorfosi & The Night<br />

Watch) vernetzt mit philosophisch-literarischen<br />

Vorlieben für J. L. Borges (abgebildet im Booklet<br />

<strong>als</strong> Musiklauscher), C. E. Gadda, Ernst Jünger,<br />

Leipniz & Wittgenstein. Zagos Hausgott scheint jedoch<br />

Erik Satie zu sein, dem er mit AltrOck-Versionen<br />

von ‚Sévére réprimande‘ und ‚Danse cuirassée‘<br />

huldigt. Kompositorisch setzt er jedoch vor<br />

allem um, was man in der Hohen Schule von Univers<br />

Zero, Motor Totemist Guild & Konsorten lernen<br />

kann. In den Bläserzuckungen von Peter A.<br />

Schmid, Markus Stauss & Marco Sorge, die das<br />

Klangspektrum von Klarinette und Sopranosaxophon<br />

bis Bassflöte, Bassklarinette, Subkontrabasssaxophon<br />

und Tubax auffächern, scheint beständig<br />

das Fagott von Lindsay Cooper oder Michel<br />

Berkmans anzuklingen. Ebenso markant und<br />

RIO-charakteristisch sind die Springprozessions-<br />

und Kniebrechrhythmen von Batteria und Bass<br />

(Mattia Signòs & Stephan Brunner), perkussiv angereichert<br />

mit Vibraphon, Marimba & Glockenspiel<br />

(Massimo Mazza). Dazu kommen noch eine<br />

Phalanx aus Piano, E-Piano, Orgel, Moog, Mellotron<br />

& Cembalo, Elia Mariani an der Geige und Zagos<br />

Gitarre und fertig ist ein mitreißendes Update von<br />

‚Electric Chamber Music‘, ein bereits von Motor<br />

Totemist Guild‘s Mastermind James Grigsby aufgegriffenes<br />

Etikett, das von Zappa seinen Ausgang<br />

nahm. Zago scheint Zappa aber auch darin nachzueifern,<br />

dass ein Orchester das ‚ultimative Instrument‘<br />

ist. Daher sind seine Arrangements ebenso<br />

dicht wie komplex, wuchtig wie wendig, dramatisch<br />

wie sophisticated. Für Letzteres mag Satie<br />

Pate gestanden haben, aber die Univers Zero‘eske<br />

Orchestralität plündert hörbar auch Strawinsky<br />

und Prokofjew. Nur dass Zago davon die Essenzen<br />

auspresst und zudem ständig zappt und flippert -<br />

selbst das Titelstück dauert nur 1:21. So entstand,<br />

bewusst verschachtelt, ein Garten der Pfade, die<br />

sich verzweigen, gleichzeitig Labyrinth und Parco<br />

dei Monstri, manieristisch und neutönerisch, wobei<br />

jeder Splitter, ob der alchemistische ‚Corale<br />

Metallurgico‘, das groteske ‚Brachilogia‘ oder das<br />

dynamische ‚Quando La Morte Mi Colse Nel<br />

Sonne‘, das Ganze spiegelt, das zwischen Babel<br />

und Helipolis zuckt. In Tlön aber gilt solche Musik<br />

<strong>als</strong> entartet.<br />

15<br />

Auch beim zweiten Streich von AltrOck,<br />

Rational Diet (ALT002) von RA-<br />

TIONAL DIET, sind Musik und Sophistication,<br />

Schweinchen und Kopf ab<br />

eins. Der Gitarrist Maxim Velvetov, der<br />

Geiger Cyril Christya & Vitaly Appow<br />

am Fagott (+ tenor sax & accordion),<br />

das Exekutivkomitee eines streckenweise<br />

durch Cello, Keyboards, Bass &<br />

Drums erweiterten weißrussischen (!)<br />

Prog-Brückenkopfs, nehmen Bezug<br />

auf die Oberiuten Daniil Charms & Alexander<br />

Vvedensky und den ‚Zaum‘-Futuristen<br />

Aleksei Kruchonykh. Deren<br />

radikale poetische Experimente liefern<br />

die Munition für die Sprechgesänge<br />

eines vierteiligen, 2004 entstandenen<br />

Mittelblocks (der schon auf Audio-<br />

TONG <strong>als</strong> The Shameless zu hören<br />

war), eingerahmt durch ‚From The<br />

Grey Notebook‘ von 1999. In allen musikalischen<br />

Aspekten ist Rational Diet<br />

ein Nach- und Widerhall von RIO, weitgehend<br />

unplugged, Geige und Fagott<br />

oft verzopft, öfters noch synchron, <strong>als</strong><br />

Doppelspitze und flügelstürmerische<br />

Leaders of the Pack, auf einem Fond,<br />

den E-Bass und Rhythmusgitarre bereiten.<br />

Stakkatohaft repetitive, folkloreske<br />

Zackenkämme, gekrähte Kinderreime<br />

oder lakonisch hingeworfene<br />

Oberiutensprüche und vor allem<br />

ein angriffslustiges Tempo bestimmen<br />

den Duktus, der fiebrig erregt flickert<br />

und krummtaktig vorwärts kapriolt.<br />

Keyboard und Schlagzeug spielen nur<br />

in der Rahmenhandlung eine Rolle,<br />

der Sound ist auch ohne sie dicht gewoben<br />

und die Rhythmik der musikalischen<br />

Sprache selbst inherent. Rational<br />

Diet, was ich mir <strong>als</strong> Kur durch<br />

Vernunft übersetze, klingt mal wie<br />

eine ‚Eastern‘ Version von Western<br />

Culture, mal wie Univers Zero, mal wie<br />

Cyberfolk oder wie aufgedrehte Verwandte<br />

von Metamorphosis. AltrOck<br />

knüpft mit dieser Entdeckung an<br />

‚Points East‘ an, eine von Chris Cutler<br />

1987 ausgegebene Parole, an die ReR<br />

heuer zum 20-jährigen mit The Points<br />

East Box erinnert. Auch wenn das<br />

neue Europa oft dem alten ähnelt, der<br />

Zusammenhang von Fressen und Moral<br />

steht immerhin wieder auf der<br />

Tagesordnung.


C I M P / C A D E N C E J A Z Z R E C O R D S (Redwood, NY)<br />

Die Familie Rusch und der Spirit Room in Rossie, NY, sind<br />

für Viele die erste, definitiv aber die heimeligste Adresse<br />

des Postbop. Wo sonst wird dieser Strang des Modern<br />

Jazz bekocht wie von Susan Rusch, bemalt wie von Kara<br />

D. Rusch, tontechnisch eingefangen wie von Marc D.<br />

Rusch und ans Herz gedrückt wie von Bob Rusch <strong>als</strong> ein<br />

Elementarteil der Great American Music, wie ansonsten<br />

nur der Blues.<br />

Auf Change-Up (CIMP #356), dem zweiten Band zu 3 The<br />

Hard Way (CIMP #346), danken es der Drummer MAT MA-<br />

RUCCI, der Soprano- & Tenorsaxophonist und Stritchspieler<br />

DOUG WEBB und der Bassist KEN FILIANO ihren<br />

Gastgebern mit ‚Riff for Rusch‘, ‚Spirit Room‘ und<br />

‚Upstate Connection‘. Um sich von Kalifornien bzw.<br />

Brooklyn aus auf den Weg in den St. Lawrence County-<br />

Zipfel New Yorks in ein Kaff mit kaum 800 Seelen zu machen,<br />

dazu braucht es ein besonderes Date. Aber Bob<br />

Rusch hatte bei Marucci die Bestellung „your origin<strong>als</strong>...<br />

maybe one standard... no compromises“ aufgegeben und<br />

da sind 3000 Meilen kein Thema. Der Mehrwert für Body &<br />

Soul besteht im absoluten Rapport der Drei und in den<br />

quicken, hellen, melodiösen Schnörkeln, die aus Webbs<br />

Rohr sprudeln wie aus einem Wasserspeier, der Freude<br />

und Überfluss symbolisiert. Den ‚Spirits‘ jedoch opfert<br />

und dankt man bluesig und innig.<br />

Gut 9 Wochen später, live in der Savanna‘s Lounge in<br />

Sacramento, CA, zupfte mit Kerry Kashiwagi wieder eine<br />

verlässliche Westcoast-Cat den Bass im MAT MARUCCI<br />

- DOUG WEBB TRIO. No Lesser Evil (CJR 1203) hatte lediglich<br />

zwei der neuen Spirit Room-Stücke im Programm,<br />

dafür aber gleich ein halbes Dutzend Oldies-but-Goodies,<br />

von ‚A Night in Tunesia‘ über ‚You‘ve Changed‘ bis ‚Take<br />

5‘. Eine typische Mischung, bereits <strong>als</strong> „tame and tuneful“<br />

gelobt, ausdrücklich weil sie Zuhörern, die wohl Jazz am<br />

liebsten in Bernstein gefasst hören, nicht zumutet, eine<br />

‚Erfahrung‘ zu machen. Schluck.<br />

Ist ein Piano involviert, dann muss CIMP in die Gilbert Recital<br />

Hall der St. Lawrence University in Canton ausweichen,<br />

ein ganzes Stück weit nordöstlich auf der US Route<br />

11. Dort entstand Ota Benga of the Batwa (CIMP #357) <strong>als</strong><br />

ein erneutes Tête-a-tête des Pianisten DAVID HANEY<br />

mit dem Posaunenveteranen JULIAN PRIESTER. Sie<br />

lassen bei ihren intimen und lyrischen Meditationen einen<br />

Gedanken an Bebop erst gar nicht aufkommen. Dafür<br />

brüten sie, meist verhalten, oft leise, in Thema und Variationen<br />

und gedämpft Gershwin‘esken Tonfarben über das<br />

Schicksal des Pygmäen Ota Benga (1884-1916), der 1906<br />

auf der Weltausstellung in St. Louis <strong>als</strong> exotisches Exponat<br />

und anschließend im Zoo der Bronx <strong>als</strong> kuriose Attraktion<br />

ausgestellt worden war, zusammen mit den Gorillas.<br />

Nach Protesten wurde er in ein Waisenhaus für<br />

Farbige abgeschoben, von einer Familie aufgenommen<br />

und <strong>als</strong> er es nicht mehr aushielt, vielleicht weil er von<br />

seinem Lebensraum abgeschnitten ‚Like Dersu Uzala‘,<br />

der kirgisische Nomade, zu ersticken drohte, da verbrannte<br />

er seine Kleider und schoss sich eine Kugel in<br />

den Kopf.<br />

16


Für The Crookedest Straight Line (CIMP #358) erweiterte<br />

der Trompeter & Flügelhornist John Carlson das von Jay<br />

Rosen an den Drums, François Grillot am Bass und dem<br />

Leader an seinem Sopranosax geformte Trio zum CHRIS<br />

KELSEY QUARTET. Mit Titeln wie ‚Post Modern Times‘ und<br />

‚Heterophonous‘ deutet Kelsey schon an, dass er die üblichen<br />

Postbopformeln gerne etwas abwandelt. Mit einer Prise<br />

Lacy im eigenen Ton und Echos der Quirkyness der Dolphy-Ervin-<br />

und Coleman-Cherry-Couples in Doppelgezüngel<br />

dieser abwechselnd swingenden und bluesigen Brass Music.<br />

Kelseys quäkige Munterkeit, „a type of folk music for<br />

smart people“, wie er selber witzelt, nimmt schon bei ‚Poor<br />

Relations‘ einen klezmeresk klagenden Unterton an, aber<br />

statt klischeehaft jämmerlich klingt das bei ihm leicht grotesk<br />

und querulant. Carlson, zuletzt schon mit dem William<br />

Gagliardi Quintet ein Ohrenzupfer, folgt Kelsey wie ein<br />

zweieiiger Zwilling, ein eigensinniger Schatten, der bei seinen<br />

Solos den Reißverschluss aufzippt und die wahre Free<br />

Range Rat zum Vorschein kommen lässt. Auf Dauer sind<br />

das aber Striche, wie sie bei mir schon nach 1 Tasse Kaffee<br />

krakeliger geraden würden. Soviel zu ‚crookedest‘.<br />

Der aus Philadelphia stammende Jay Rosen gehört quasi<br />

zum Inventar des Spirit Room. Nach der August-Session mit<br />

Kelsey kehrte er im September schon wieder ein <strong>als</strong> Taktgeber<br />

des STEPHEN GAUCI TRIO neben Michael Bisio<br />

am Bass. Substratum (CIMP #359) zeigt den New Yorker Tenorsaxophonisten<br />

einmal mehr in übersprudelnder Spiellaune,<br />

mit der er am gleichen Wochenende auch noch CIMP<br />

360: Circle This (CIMP #360) befeuerte, <strong>als</strong> zweite Spitze<br />

des MICHAEL BISIO QUARTET neben Avram Fefer. Bei<br />

seinen eigenen Tunes nuanciert er auf der Skala zwischen<br />

Schrei und Lullabye vorwiegend die feinen Gefühlsnuancen.<br />

Der Löwe von ‚Threshold‘ wird zum träumerischen Koi<br />

bei ‚Branching Streams Flow In The Darkness‘ und ‚This<br />

Cannot Be Lost‘. Geschmeidig evoziert er die Blue Notes<br />

eines Sonny Rollins und stellt sich mit beiden Füßen in das<br />

Substrat, auf dem der CIMP-Postbop weitestgehend fußt.<br />

Aber gedämpfte Töne liegen Gauci näher <strong>als</strong> halbstark<br />

vollmundige, mit Bisio und Rosen <strong>als</strong> Dream Team, das ihm<br />

selbst in die tiefe Melancholie von ‚One That Got Away‘ und<br />

‚The Dead Can Only Live‘ wie ein Schatten folgt. Bisio hüllt<br />

diese Elegien in schwarzen Samt, akzentuiert aber <strong>als</strong> Leader<br />

des Releases, der einen kompletten CIMP-Zyklus vollendet,<br />

die Vielfalt der Temperamente. Beim Bläserduett ‚Its<br />

Own Universe‘ lässt er Gauci und Fever ihre Hörner aneinander<br />

krachen, ‚By Any Other Name‘ zupft er selbst auf<br />

der lyrischsten seiner Saiten. Rosen war an diesem Wochenende<br />

wieder einmal für alles zu haben, <strong>als</strong> Seelenführer<br />

bei Gaucis Traumwandlereien in die Unterwelt, <strong>als</strong> launiger<br />

Zirkustrommler bei ‚Island Circus‘, <strong>als</strong> Swingfeder für<br />

jede Buckelpiste. Mein Lieblingsmoment auf der 360°-<br />

Scheibe ist der Auftakt zu ‚Times That Bond‘, wenn Tenor,<br />

Sopran und diskante Strings noch zusammenhangslos<br />

‚gestimmt‘ werden, um sich dann kopfüber die Doppelhelix<br />

des Postbop hinunter zu stürzen. Bisio scheint die Turbulenzen<br />

einer Herzattacke und seines Umzugs an die Ostküste<br />

ohne Weiteres umzumünzen in Spiel- und Lebensfreude.<br />

Mit ‚CRT‘, kurz für Cardiac Resynchronization Therapy,<br />

lässt er keinen Zweifel daran, dass er Musik für die<br />

einzig wahre Medizin hält.<br />

17


Die direkte Bekanntschaft des Drummers<br />

LOU GRASSI mit der Sun Ra-Legende<br />

MARSHALL ALLEN geht zurück auf<br />

dessen PoZest-Gastspiel 1999 bei<br />

Grassi‘s PoBand. Auf Einladung des Festivaldirektors<br />

Ajay Heble kamen die beiden<br />

2001 erneut zusammen, Live at The<br />

Guelph Festival (CJR 1192) in Ontario,<br />

nur drei Tage vor 9/11. Grassis Bruder<br />

entkam dem Crash der Twin Towers nur<br />

knapp und über dem familiären Schock<br />

geriet die Einspielung auf die lange Bank.<br />

Jetzt aber lässt sich mitverfolgen, wie der<br />

dam<strong>als</strong> 77-jährige Altosaxophonist das<br />

Sax-Drums-Format, wie vorher bereits<br />

Braxton mit Max Roach bzw. Andrew Cyrille<br />

oder Lyons mit ebenfalls Cyrille, auskostet<br />

in jenem Geist der Freiheit, der<br />

das Legat von John Coltranes Weltraumspaziergängen<br />

mit Rashid Ali ist. Dabei<br />

genügt Allen, ähnlich wie Coltrane, schon<br />

banaler Stoff wie ‚When You Wish Upon a<br />

Star‘ und ‚Prelude to a Kiss‘ <strong>als</strong> Sprungbrett<br />

für seine Expressionen, neben drei<br />

Ausflügen ins Blaue. Ganz vorsichtig tasten<br />

sie sich auf die ‚Far Side‘ hinüber, Allen<br />

mit zarten Flötenlockrufen, Grassi mit<br />

klappernden Muscheln und weichem Fingerspiel.<br />

Allen ist kein Wild Man from Saturn,<br />

obwohl ihn manche wegen seiner<br />

Over-the-Top-Soli im Arkestra so einschätzen.<br />

Feuerspucken ist nur die ultima<br />

ratio musikalischer Totalität, deren<br />

Kugelform Grassi & Allen ausloten. Nur<br />

um ihre Unergründlichkeit bestätigt zu<br />

finden. In ‚Blues for Two‘ verwischt Allen<br />

den Unterschied zwischen träumerischen<br />

Tönen und aufgekratzt ekstatischen<br />

in einem Atemzug. Grassis Feinarbeit<br />

dazu hat etwas Tatzenförmiges. Seine<br />

tapsige, pelzige Manier, seine Zwischensprints<br />

mit trommelnden Pfoten<br />

sind unverwechselbar. Bei ‚The Spirit of<br />

the Day‘ schiebt er tickelnd einen Vorhang<br />

zur Seite und rührt dazu sein Tambour-Trommelchen.<br />

Allen schreitet hindurch,<br />

ein feinstoffliches Geistwesen,<br />

schrill und kapriziös, aufbrausend an der<br />

langen Kette, mit der Grassi rasselt, <strong>als</strong><br />

ob er andeuten wollte: Wehe, wenn ich<br />

loslasse. Im Ellington-Song gibt sich Allen<br />

schmusig, aber nicht ohne dass sein<br />

Temperament aufblitzt, vor allem wenn,<br />

wie beim abschließenden ‚Boma‘, Grassis<br />

Gerumpel ihn noch anstachelt.<br />

Adam Lanes Zero Degree Music-Trio mit Vinny<br />

Golia & Vijay Anderson hat am 25.2.2005,<br />

direkt im Anschluss an seine Spirit Room-Session,<br />

verstärkt mit dem Trompeter Paul Smoker,<br />

gleich auch noch <strong>als</strong> ADAM LANE<br />

QUARTET Buffalo (CJR 1193) eingespielt.<br />

Kein Wunder <strong>als</strong>o, dass erneut ‚Spin with the<br />

EARth‘ erklingt, ‚Without Being‘ und das hymnische<br />

‚Free‘. Smoker war schon in Lanes<br />

Fo(u)r Being(s)-Quartett aufgetaucht. Sein<br />

schmissiger Ton neben Golias Tenorsaxgeknatter<br />

verändert Lanes ganze Taktik. Zwei<br />

Stürmer erlauben völlig andere Spielzüge,<br />

verdoppeln den offensiven Charakter und ermöglichen<br />

Zangenangriffe. Theoretisch. Aber<br />

kaum hat Golia den Ball, tribbelt er drauflos<br />

und hört nicht mehr auf. Toll anzuhören, aber<br />

halt doch das Übliche, denn Smoker macht‘s<br />

umgekehrt genauso. Primadonnen und tüchtige<br />

Wasserträger. Zwei starke Trios, aber ein<br />

Quartett? Spannend wird es, wenn sich die<br />

Bläser überschneiden, erstm<strong>als</strong> nach 10 Minuten<br />

und das nur beim fliegenden Wechsel<br />

zum Trompetensolo. Das schon nach zwei Minuten<br />

von einem federnden Zupfbasssolo abgeschnitten<br />

wird. Die Bläser biegen synchron<br />

auf die Zielgerade ein, Golia bringt noch ein<br />

paar Verzierungen an und die Erdumdrehung<br />

ist komplett. Die Aufnahme ist im Unterschied<br />

zum idiosynkratischen O-Ton aus dem Spirit<br />

Room absolut bassfreundlich. Lanes Arcointro<br />

zu ‚Without Being‘ ist auch unter diesem<br />

Aspekt erstaunlich. Die Bläser intonieren diese<br />

Elegie anfangs gemeinsam und lenken den<br />

Blick dorthin, wo die Erde sich von uns wegkrümmt.<br />

Smokers schnattriges Zackenkammsolo<br />

ist eines aus dem goldenen Buch. Wenn<br />

Golia dann <strong>als</strong> Sopranolerche aufsteigt, ist<br />

immerhin der Kontrast so bemerkenswert,<br />

dass man die Plattenbauweise dieser Musik<br />

eine weitere Viertelstunde wie die Himmelsschraube<br />

von Samara anstaunt. Beim dunklen<br />

Memento ‚In Our Time‘ in seiner dröhnend kakophonen<br />

Konsonanz kehrt endlich Magie in<br />

diese Musik ein. Die sich aber mit dem abschließenden<br />

Uptempo-Ständchen ‚Lucia‘s<br />

First Breath‘ gleich wieder auf das hohe Niveau<br />

ihrer Routine eingroovt. Nicht dass ich<br />

glaube, dass man diese Musik besser spielen<br />

könnte und dass sie das Leben nicht angenehmer<br />

macht. Aber when it was all over I<br />

said to myself, is that all there is? If that's all<br />

there is my friends, then let's keep dancing.<br />

Let's break out the booze and have a ball. If<br />

that's all there is to magic music.<br />

18


CREATIVE SOURCES RECORDINGS (Lisboa)<br />

Thomas Pynchons Against the Day, dem mit „It‘s always night, or we<br />

wouldn‘t need light“ ein Ausspruch von Thelonious Monk voran gestellt<br />

ist, beginnt mit dem Start des ‚hydrogen skyship‘ Inconvenience mit den<br />

Chums of Chance an Bord. Als GROSSE ABFAHRT haben sich ebenfalls<br />

gleich acht ‚Freunde der Fährnis‘ zusammengetan, um sich mit erstes<br />

Luftschiff zu Kalifornien (CS 065) den Balken des Himmels anzuvertrauen.<br />

Das nicht sattelfeste Deutsch scheint gewollt und ist wohl den Copiloten<br />

Serge Baghdassarians & Boris Baltschun (beide electronics) geschuldet.<br />

Zusammen mit Chris Brown (piano & electronics), Tom Djll<br />

(trumpet), Matt Ingalls (clarinet), Tim Perkis (electronics), Gino Robair<br />

(analog synthesizer) und John Shiurba (guitar) brechen sie mit einer<br />

Handvoll Strohhalme einem 450 Fuß langen Proto-‚Zeppelin‘ das ‚Genick‘.<br />

Die überwiegend kalifornische Crew nimmt nämlich mit den Titeln ‚am anfang<br />

Zerstörung‘ und ‚Morrell remained hopeful‘ Bezug auf the first<br />

airship disaster in the U.S. In 1908 in Berkeley, Cal. a 450-foot long balloon<br />

collapsed and exploded, injuring 15 passengers and the inventor,<br />

John A. Morrell. Statt Action und Abenteuer vermittelt das Oktett jedoch<br />

nur die seltsam dünne Luft im Innern von ‚ein dicker gas bag‘. Ihre extrem<br />

rationierte Geräuschwelt scheint permanent auf Notstrom zu laufen. Jeder<br />

einzelne Klang ist ein Phänomen, das im Vorüberdriften einem zuwinkt<br />

wie eine verlorene Seele, leichter <strong>als</strong> Luft, durchsichtig und schon<br />

nicht mehr von dieser Welt. Mich, eh nicht schwindelfrei, beutelt doppelter<br />

Höhenkoller in solch gespenstischen Höhen, nur durch eine dünne,<br />

poröse, fadenscheinige Schallfolie vom Nichts getrennt.<br />

Dass E. Rodrigues die diskrete Ausrichtung seines Label nicht puristisch<br />

hütet, zeigt sich einmal mehr mit The Long And The Short Of It (CS 091).<br />

Denn der Sopranino- & Altosaxophonist STEFAN KEUNE (*1965) und<br />

seine Partner, der Drummer ACHIM KRÄMER (*19<strong>55</strong>) und der Kontrabassist<br />

HANS SCHNEIDER (*1953), sind alle drei altgediente Bergleute<br />

und Froschmänner im Who is Who des Plinkplonk. Keune, der mit seinem<br />

Solo Sunday Sundaes (CS 030) bereits das Lissabonner Terrain sondiert<br />

hatte, ist im Duo mit John Russell und mit dessen Projekt Quaqua seit<br />

Jahren direkt verlinkt mit dem britischen Way of Improvising. Krämer &<br />

Schneider sind sogar seit noch Längerem schon Kumpel im Georg Gräwe<br />

Quintett und im Grubenklangorchester, Schneider ist daneben auch noch<br />

in Quatuohr zu finden und immer wieder an der Seite von Paul Lytton,<br />

Krämer heuer in Moers bei Eckard Koltermanns Border Hopping. Die<br />

Hauptparameter ihrer Ästhetik <strong>als</strong> Trio sind daher nicht ‚Geräusch‘ und<br />

‚Reduktion‘. Im Gegenteil. Weitgehend maximalistisch spritzen sie mit quicken<br />

und quirligen Klangverwirbelungen um sich, interagieren mit abrupten<br />

dynamischen Changes. Im Austausch der Incus- & Bead-Versuchsreihen<br />

mit Soundaspekten der kontinentalen King Übü Orchestrü-Schule<br />

des Ungehorsams werden quasi Lachenmann‘sche Partituren mit der<br />

Virtuosität von Varietékünstlern oder F<strong>als</strong>chspielern wie Asse aus den<br />

Ärmeln geschüttelt. Das Cover zeigt Stapel alter Säcke. Nichts könnte irreführender<br />

sein, um das ständige Funkeln und Blitzen in der Trioretorte<br />

zu illustrieren. Selbst abgeflachte und gepresste Passagen wie etwa der<br />

lange Ausklang von ‚In due form‘ oder das molekular ausgedünnte ‚Three‘<br />

und selbst ‚On the quiet‘ sind noch durch ihre Äquivalenz zu<br />

Pollock‘scher Expressivität geprägt. 19


Das Schweizer SIGNAL QUINTET hat von seiner Japantour<br />

2006 Yamaguchi (cut 021) mitgebracht, einen Livemitschnitt<br />

aus der gleichnamigen Stadt an der äußersten<br />

Südwestspitze der japanischen Hauptinsel Honshu, genauer,<br />

aus dem dortigen Center for Arts and Media. Das YCAM<br />

operiert mit der Agenda, Zugang zu bieten to the world<br />

view of the 21st century, that is, a new universe of information,<br />

which is made possible through the fusion of information<br />

society, electronic and networking technologies.<br />

Das Quintett, bestehend aus Jason Kahn, Tomas Korber,<br />

Norbert Möslang, Günter Müller & Christian Weber, ist elektroakustisch<br />

bestückt mit Analogsynthesizer & Percussion,<br />

Gitarre & Electronics, geknackter Alltagselektronik, Ipods<br />

& Electronics und Kontrabass. Fasst hätte ich ‚einfach<br />

Kontrabass‘ geschrieben, aber was Weber mit seinem Instrument<br />

hier macht, ist alles andere <strong>als</strong> schlicht. Etwas<br />

anders zwar <strong>als</strong> sein Spiel mit Day & Taxi, WWW oder Olaf<br />

Ton und anders auch <strong>als</strong> im Spiel mit Meursault und TGW,<br />

mit Kahn oder Yamauchi, wo er sich aufs Feinste auf<br />

Dröhnminimalismen einpendelt. Während seine vier Partner<br />

einen Elektronensturm anfachen, ein anschwellendes<br />

Sirren, Knurschen, Zwitschern, Schleifen, Pulsieren, Splittern<br />

und was sonst an subatomaren Delirien, in Schallwellen<br />

verwandelt, denkbar ist, meine ich Weber herauszuhören<br />

mit dunklen Plonks. Sie sind nur identifizierbar durch<br />

die paar Sekunden an der Rückseite des vorübergezogenen<br />

Sturmes, <strong>als</strong> stoische Noten, die Stand hielten, weil sie<br />

dem Sturm zugeneigt waren. Der dritte Flügel dieses Mikronoise-Triptychons<br />

zeigt, wie auch der Auftakt schon,<br />

wieder die Alltagsgeräusche am knisternden und wabernden<br />

Ground Zero des Krauchens & Flauchens, des Aasens<br />

& Wesens der werdenden und vergehenden Dinge. Und ist<br />

fast so prickelnd, wie wenn man das Ohr über ein Glas<br />

Sprudel neigt.<br />

Ellen Fullman + Sean Meehan (cut 022) beschert die Begegnung<br />

mit einer der Größen des Long String-Sounds.<br />

ELLEN FULLMAN, 1957 in Memphis, Tennessee geboren<br />

und heute in Seattle zuhause, mag zwar <strong>als</strong> Baby von Elvis<br />

geküsst worden sein und am College Janis gemimt haben.<br />

Berühmt wurde sie ab 1981, <strong>als</strong> sie in Brooklyn die Faszination<br />

dröhnminimalistischer Vibrationen entdeckte und<br />

ihr Long String Instrument erfand. Sie erzeugt mit 14 Meter<br />

langen Drähten, die sie mit kolophoniumbestäubten Fingern<br />

bespielt, Mikrotonschwingungen, die im Klangbild<br />

zwischen Glasharfe, Mundharmonika, Akkordeon und Orgelhaltetönen<br />

vexieren. Ihr Partner, SEAN MEEHAN, ist in<br />

New York aktiv <strong>als</strong> ‚abstract drummer‘ und Ultraminimalist.<br />

Nur mit Snaredrum und Cymbal macht er Sachen, wie sie<br />

auf Sectors (For Constant) (SoSEDITIONS) zu hören sind.<br />

Während Meehan ansonsten einem gerne zumutet, auch<br />

lange Stille auszuhalten, gibt es hier drei je durchgängige<br />

Haltetonbeben. Nur zwischendurch hört man kurz die Außenwelt.<br />

Fullman formt wie ein Glasbläser riesige Tonblasen,<br />

Kugeln und Glocken, wie sie im Garten der Lüste <strong>als</strong><br />

Lustspender zu sehen sind. Meehan bringt seine Schnarrtrommel<br />

zum Beben oder nutzt das Sustain und das Wash-<br />

Rauschen eines Beckens (vermutlich, indem er mit einem<br />

Geigenbogen über die Kanten streicht). Sagte nicht einer<br />

mal: Die Welt ist Klang? Zumindest ist Physik a many-splendored<br />

thing, so simpel und ungeheuer effektvoll.<br />

20<br />

C U T (Zürich)


empreintes DIGITALes (Montréal)<br />

Der nickelbebrillte DARREN COPELAND, 1968 im kanadischen<br />

Bramalea geboren, fungiert <strong>als</strong> Artistic Director of<br />

New Adventures in Sound Art (NAISA) in Toronto. Die Kollektion<br />

Perdu et retrouvé (IMED0683, DVD-A) umfasst 6 Arbeiten<br />

der Jahre 2001-03, ergänzt mit zwei früheren Werken<br />

von 1991-92. Der Auftakt ‚They‘re Trying to Save Themselves‘<br />

ist ein übler Fall von Ploitation, der den hysterischen<br />

CNN-O-Ton einer Augenzeugin von 9/11 verwurstet. Find<br />

ich Scheiße, sorry. Eigentlich tendiert Copeland auch zu<br />

eher abstrakten Sound- und Dreamscapes, wobei er<br />

‚f<strong>als</strong>chen Fehlern‘, unerwünschten Anomalien, ein Gastrecht<br />

einräumt oder sogar ein ganzes Stück daraus baut<br />

(‚The Wrong Mistakes‘). ‚Streams of Whispers‘ hastet haspelnd<br />

über eine wordsoundartistische Wendeltreppe aus<br />

Gewisper; ‚On Schedule‘ dreht sich um Eisenbahngeräusche<br />

und die Strecke von London nach Moskau; das prasselnd<br />

überrauschte ‚Early Sign<strong>als</strong>‘, entstanden zum 100.<br />

Jahrestag der ersten transatlantischen Radioübertragung,<br />

um die Radiopioniere Marconi und Eckersly; ‚On a Strange<br />

Road‘ mit seinem Dröhn-‚Gesang‘ aus Regengeräuschen<br />

und Dopplereffekten ums Dahin-Fahrn-Fahrn <strong>als</strong> Autobeifahrer.<br />

‚Faith-Annihia‘ verdichtet <strong>als</strong> ‚urban soundscape‘ im<br />

abrupten Wechsel krachige Attacken und stille Löcher zu<br />

Großstadtstress. In Alltagsstoffen öffnen sich leichter die<br />

Freiräume, in die Copeland die Imagination locken möchte,<br />

<strong>als</strong> im schockästhetischen Effekt. Seine abstrakten, vagen<br />

oder ‚unmöglichen‘ Phantasielandschaften mögen sogar<br />

<strong>als</strong> „new ground of experience... to cultivate sensitivity“<br />

taugen mit dem Idealziel ‚Always Becoming Somebody Else‘.<br />

<strong>BA</strong>s letzte Begegnung mit ADRIAN MOORE liegt auch<br />

schon wieder gut 5 Jahre zurück, <strong>als</strong> wir Traces belauschten,<br />

frühe Arbeiten des Akusmatikers aus Nottingham, der<br />

bei Jonty Harrison studierte und nun selbst <strong>als</strong> Lecturer in<br />

Music an der University of Sheffield den akademischen<br />

Nachwuchs elektroakustisch düngt. Rêve de l‘aube<br />

(IMED0684) präsentiert nun zwei ca. 14-min. Kompositionen<br />

von 2004, ‚Dreaming of the Dawn‘, das mit Emily Dickinson-<br />

Flair orchestrale Klänge einkocht, während das heftige<br />

‚Power Tools‘ auf den transformierten Geräuschen von Rasenmäher,<br />

Heckenschneider und eines Stahlwerks in Sheffield<br />

basiert. Das nur 7-min. ‚Piano Piece (for Peter)‘ für Piano<br />

und Tonband entstand, mit Denis Smalleys Piano Nets<br />

und der Klaviersonate No.6 von Skrjabin im Hinterkopf, für<br />

den Pianisten Peter Hill. Die zweite Hälfte nimmt dann das<br />

gut halbstündige, 6-teilige ‚Sea of Singularity‘ ein, eine farbenprächtige<br />

Arbeit von 2001-03, die inspiriert wurde<br />

durch die Malerei der Fauves. Aus Moores Leinwand brechen<br />

Pferde, ein Akkordeon, Wassergeplätscher, Parkszenen,<br />

Trommler in der Berliner U-Bahn, die Glocken von<br />

St. Markus und die Gondeln von Venedig, ein Volksfest, Vögel,<br />

Grillen, blökende Schafe und nochm<strong>als</strong> Pferdehufgeklapper.<br />

Die Kontraste tendieren absichtlich ins Surreale.<br />

Moores Stillleben erfassen das Leben, wie wir es kennen,<br />

mit Augen und Ohren, <strong>als</strong> ob wir es nicht kennen. Harmonie<br />

ist weder so noch anders im Preis inbegriffen. „The white,<br />

fluffy clouds of a permanent ecstasy are stained with the<br />

grease of commercialism“ und die daraus resultierende<br />

Bizarrerie schmeckt nach Pfefferminzsoße.<br />

21


EXTREME (Preston)<br />

Extreme setzt seine Antripodean-Reihe fort mit Devic Kingdom (XCD-059) von Dr. RO-<br />

BERT VINCS. Der Australier, der heute am Victorian College of the Arts in Melbourne<br />

lehrt, hat <strong>als</strong> Fairlight CMI-Pioneer seit 1983 seine Spuren auf so mancher Hochglanzproduktion<br />

hinterlassen, aber auch für Tanztheater und Dergleichen komponiert und seit 15<br />

Jahren spielt er im Trio Zeno‘s Wig auch noch Jazz. Hier geht es um seine Virtuosität an<br />

Saxello, Tenorsaxophon und der koreanischen Knochenflöte, wobei er die Klänge mit interaktiver<br />

Elektronik aufmotzt. Dazu wird die Soundpalette noch erweitert durch Garry<br />

Greenwood mit einem ‚Lederhorn‘ & MAX processing-Rhythmik und beim letzten Track<br />

spielt Scott Dunbabbin einen extrem knurrigen Six String Upright Bass zu Vincs ätherischer<br />

Flöte. Was Trompeter von Toshinori Kondo bis Andy Diagram oder Carlos Bechegas<br />

schon mit elektronisch frisierter Flöte anstellten, das überträgt Vincs in unterschiedlichen<br />

Verfremdungsgraden (extrem bei ‚Body without Organs‘) auf Saxophon & Co., mit<br />

faszinierenden ‚Possible Music‘-Effekten. Beim Titelstück gleich zu Beginn, bei ‚Vision<br />

Quest‘, ‚Light Bomb‘ und ‚The Trainman‘ klappert dazu ein Drum‘n‘Bass-Programm vertrackte<br />

Tribal-Beats. Vincs beruft sich auf die Stringtheorie, wonach die Welt deshalb<br />

Klang ist, weil sie sich aus vibrierenden Objekten zusammensetzt. Das M der M-Theorie,<br />

ansonsten <strong>als</strong> Matrix, Master, mystisch oder Mutter gedeutet, steht bei ihm für Music<br />

Technology im Allgemeinen und für Mannigfaltigkeit im Besonderen. Stellt euch Elton<br />

Dean in Matrix-Virtualität vor, der in einer Cyberlandschaft, die ein wenig dem australischen<br />

Outback ähnelt, futuristische Songlines tiriliert.<br />

Mit The Garden of Forking Paths (XCD-061), einer<br />

weiteren Antripodean-Einspielung, lernt man den<br />

jungen Pianisten und Borgesleser MARC<br />

HANNAFORD kennen. Die komponierte Sonate<br />

‚I‘ll Go Down...‘ ist seine Visitenkarte, ‚222 1/2‘<br />

spielt er verhalten-nachdenklich im Duett mit dem<br />

Drummer Ken Edie, die weiteren Stücke dann zu<br />

dritt oder viert mit Philip Rex am Kontrabass<br />

und/oder dem Trompeter Scott Tinkler. Die kantig<br />

intonierten Pianotrios brauchen Vergleiche mit<br />

den spritzig-abstrakten Modernismen des Pandelis<br />

Karayorgis Trios oder Eric Zinman Ensembles<br />

nicht zu scheuen. Tinkler brilliert bei allen seinen<br />

drei Auftritten, wie nicht anders zu erwarten,<br />

wenn man sein experimentierfreudiges Andripodean-Solo<br />

Backwards kennt. Aber hier ziert er<br />

vor allem Hannafords Opus maximus, die 17-min.<br />

Komposition ‚G.E.B.‘ (Gödel, Escher, Bach?) mit<br />

schneidigen Postbopphrasierungen allererster<br />

Güte. Der Pianist zieht bei diesem Stück alle Register<br />

seines Thinking Man-Third Streams und<br />

verfolgt im anschließenden ‚Pure Evil‘ mit noch<br />

einmal betonter Lust am ‚absolut Bösen‘ die<br />

‚Weiße Linie‘, die atonikale Wien-Connection, um<br />

sie mit einem epileptischen Nicht-Swing so zum<br />

Tanzen zu bringen, wie es sich der Fluch des<br />

‚Don‘t mean a thing‘ nicht hätte träumen lassen.<br />

Das Solo ist pure Op.23-Schule, verschlippenbachter<br />

Schönberg. Danach müssen die einen ihren<br />

Kopf durchchecken lassen (‚Head Check‘),<br />

während wir andern gleich weiter zu krummen<br />

Takten Bocksprünge machen. Dass Monk ein<br />

Leitstern für Hannaford ist, dem er im Monk Project<br />

mit Jamie Oehlers folgt, versteht sich dabei<br />

von selbst. Bei ‚What was that?‘ (gute Frage)<br />

schmettert nochmal Tinklers Trompete und verkündet<br />

Australiens Ansprüche auf Jazzlorbeer.<br />

22


FARAI-RECORDS (Berlin)<br />

Nach den ersten Minuten von Grid Mesh (frec2) zu urteilen, scheint GRID<br />

MESH darauf aus zu sein, das weite Feld geräuschverliebter Improvisation zu<br />

beackern. Nach 6 Minuten bin ich mir aber da nicht mehr so sicher. Das in Berlin<br />

aktive Trio aus dem 1977 in Oberösterreich geborenen Rudi Fischerlehner,<br />

der mir mit Odd Shot schon seine Trommelstöcke zwischen die Füße geworfen<br />

hat, dem Saxophonisten Frank Paul Schubert, den 1999 die Berliner von der<br />

Frankfurter Szene weg lockte, und dem ‚Gitarrenwilden‘ Andreas Willers<br />

gleicht Thomas Crown, es ist nicht zu fassen. Willers ist hier der einzige Berliner,<br />

mit seinen Gibsons der Mann mit der meisten Erfahrung und einer Bandbreite<br />

von Hendrix bis Giuffre, denen er mit Experience bzw. In the North gehuldigt<br />

hat, wie auch der Blechtrommel mit den Tin Drum Stories und Max<br />

Frisch mit Montauk (letztere allesamt auf Between The Lines). Wie man bei<br />

‚Wucher‘ hört, verbindet er, da wo es passt, sein Fingerpicking mit elektronischen<br />

Rauschwolken, um daraus dann wieder mit Figuren aufzutauchen,<br />

so virtuos, wie sie ansonsten Kevin O‘Neil für Braxton von den Saiten pflückt.<br />

Und sich anschließend kopfüber in fuzzige, feedbackumjaulte Drones zu stürzen.<br />

Schubert gibt dafür seine guiffre‘neske Abgeklärtheit, seine feinen Alto- &<br />

Sopranolyrismen preis und zeigt unvermutete Reißzähne. ‚10.KM 2_5‘ schlägt<br />

nach all den eklektischen Exkursionen dann wieder den Bogen zum Auftakt,<br />

<strong>als</strong> eine gedämpfte Undefinierbarkeit, voller surrealer Widersprüche, rasend<br />

klackernden Beats zu zwielichtigem Gitarrenschimmer - Willers ist wirklich ein<br />

Stupor mundi-Gitarrist - und einer Saxophonhummel, die im Raum Achterbahn<br />

brummt. Gleichzeitig kontrolliert und intuitiv, kalkuliert und mit Lösungen, die<br />

überraschen und unmittelbar einleuchten.<br />

Puristen rümpfen die Nasen, während ich große Ohren bekomme, wenn Drummer<br />

& Farai-Macher Rudi Fischerlehner mit PINX erneut seinen Piefkeaffinitäten<br />

frönt. Das Gemälde von der totalen Mobilmachung einer Metropole auf<br />

dem Cover von Milieu (frec3 / NRW 3051) stammt von Katrin Plavcak, vorm<strong>als</strong><br />

Sängerin von Blendwerk, dem ‚Streßcore‘-Quartett, in dem Fischerlehner übte,<br />

bis 4 zu zählen und dass Volxmusik mit x geschrieben wird. Wie Pinx, ebenfalls<br />

ein Vierer, mit Fabian Kalbitzer am E-Bass, Sebastian Borkowski am Tenorsax<br />

und dem Trompeter Nikolaus Neuser. Fischerlehner rührt seine Trommelstöcke<br />

auch noch in Almut Schlichtings Sextett Shoot The Moon und im Sonic Fiction-Trio<br />

nhf. Kalbitzer kann auch Kontrabass und bedient mit Fischerlehner in<br />

Belleville Swing-, Musette- & Tango-Nostalgie. Borowski ist TIAO und tanzt <strong>als</strong><br />

solcher bei Brothers Keepers und liveDEMO auf wieder ganz anderen Hochzeiten.<br />

Neuser groovt ansonsten im Nu Jazz-Duo Trondheym und mit der Balkan-Disco-Truppe<br />

eto-x und macht meine Verwirrung, aber auch meine Freude<br />

komplett, dass derart disparate Elemente unter einen Hut passen. ‚Be a<br />

don‘t be a part of‘ ist dafür der paradoxe Leitspruch, ‚Schlaf ist keine Lösung‘<br />

sowieso. War Grid Mesh improvisiert, so ist der Pinx-Stoff von Fischerlehner<br />

notiert und arrangiert. Anfänglich uptempo, aber gleich auch schon im Stau<br />

und auf Umleitungen dirigiert. Trotz des E-Basses nicht fusion-orientiert, eher<br />

von abrupten Tempowechseln bestimmt, von cooler oder angerauter Trompetenpoesie,<br />

kontrastiert mit dringlichen Saxophonsturmläufen. Und mit der allerzartesten<br />

Coda (‚Waste‘). Fischerlehners Kniebrechtakte bestimmen den<br />

Antrieb. Sein krummtaktiger Swing ist total abgespeckt, Ockhams Rasiermesser<br />

in Aktion. Rhythm, isn‘t it? Manchmal reduziert auf eine bloße Schmauchspur<br />

wie beim Bartleby-Auftakt zu ‚Be a don‘t be...‘. Wobei sie Bartlebys „I would<br />

prefer not to“ in ihr ‚It‘s not not‘ verwandeln. Ein eigener Weg <strong>als</strong> Ausweg aus<br />

der Unmöglichkeit zu wählen, wenn auch mit prekären Momenten im Unwegsamen,<br />

die Bass und Trommelstöcke vorsichtig, aber entschlossen überbrücken.<br />

Bei ‚Xeno‘ könnte Fischerlehner an seine Wiener Jahre gedacht haben und an<br />

Karl Valentins Überlegung, dass der Fremde nur in der Fremde fremd ist. Mit<br />

‚Copy me‘ endet Pinx mit einem weiteren Paradox. Ein Koffer in Berlin scheint<br />

hier tatsächlich Allerhand für sich zu haben. Oder war es die Linzer Schule?<br />

23


FIREWORK EDITION RECORDS (Hägersten)<br />

Die Kingdoms of Elgaland-Vargaland, kurz<br />

KREV für KonungaRikena Elgaland-Vargaland,<br />

haben seit ihrer Gründung am 27. Mai<br />

1992 durch Subversion und Annektion ihr<br />

Herrschaftsgebiet ständig erweitert, zuletzt<br />

am 10.6.2007 durch die Okkupation<br />

der Isola di San Michele, der Toteninsel,<br />

ehem<strong>als</strong> Teil der Stadt Venedig und der<br />

Republik Italien. Das Reichsgebiet aus „all<br />

border territories between all countries on<br />

earth, and all areas (up to a width of 10<br />

nautical miles) outside all countries’ territorial<br />

waters ... including the Hypnagogue<br />

State (the state between being awake and<br />

being asleep), the Escapistic Territory<br />

(conscious, mental space travel akin to<br />

daydreaming, telepathy, and so on), and<br />

the Virtual Room (a borderless digital<br />

space)“ ist <strong>als</strong>o in beständigem Shapeshifting<br />

begriffen. Und es gibt dazu immer wieder<br />

Versuche, Kontakte zu Geistes- und<br />

Seelenverwandten unter sublimeren Intelligenzen<br />

zu knüpfen. So etwa mit dem Projekt<br />

“Angels via Spirits”, realisiert in der<br />

Robert Berman Gallery, Los Angeles, July<br />

17, 1999. Die KREV-Schlagzeile dazu lautete:<br />

LEIF ELGGREN and CM VON<br />

HAUSSWOLFF, founders of The Kingdoms<br />

of Elgaland-Vargaland and all the citizens of<br />

the Kingdoms of Elgaland-Vargaland establish<br />

contact with the angels. Live in LA (FER<br />

10<strong>55</strong>) dokumentiert, wenn ich die etwas<br />

kryptischen Mizinvormazions recht verstehe,<br />

den vorbereitenden Kraftakt der beiden<br />

Majestäten im Verbund mit PER<br />

SVENSSON, seit Juli 1998 KREV-Konsul in<br />

Smedsby, am 14.7. in den Räumen der<br />

Beyond Baroque Foundation im benachbarten<br />

Venice, CA. Wir hören Atemzüge,<br />

Stimmen, anrufende Morsesignale, dröhnminimalistisches<br />

Grundrauschen und<br />

Wummern beim Versuch, die dimensionalen<br />

Membranen über der Stadt der Engel<br />

durchlässig und die Atmosphäre leitfähig<br />

zu machen. Holziges Klappern lässt vermuten,<br />

dass auch bestimmte rituelle Handgriffe<br />

vorgenommen wurden. Wellen ziehen<br />

mit Dopplereffekt durch den Hörraum,<br />

der in seiner konservierten Schizophonie<br />

‚hier‘ & ‚jetzt‘ von sirrenden Mauerseglern<br />

und den Glocken von St. Adalbero zusätzlich<br />

durchstoßen wird. Eine Automatik beginnt<br />

gebetsmühlenartig zu rotieren, verlangsamt<br />

sich zu einem ‚Trommeln‘. Nach<br />

35 Minuten tatsächlich eine gurgelnde<br />

Stimme: ...I ....was ...born ...under ...a<br />

...wandering ...star. Die Luft wird weicher<br />

und harmonischer, die Kurbelwelle stampft<br />

und bohrt. Bis nur noch keuchende Atemzüge<br />

zu hören sind.<br />

CUNT 69 (FER 1063) ist nach Zzz..., Cod Fish<br />

Suit, 9.11, Two Thin Eating One Fat, The Party<br />

und Experiments with dreams ein weiteres<br />

Werk der Produktionsgemeinschaft von LEIF<br />

ELGGREN och THOMAS LILJENBERG. 66<br />

bruitistisch prasselnde, anfangs wie von<br />

Tambourgetrommel oder Gitarrenlärm durchzogene<br />

Minuten, in denen der Geist von Charles<br />

Bukowski herum gurgelt. Bei ‚Traumreich<br />

vers 2‘ lädt eine Stimme ein dorthin, wo schon<br />

berühmte Vorgänger der beiden Schweden,<br />

Swedenborg, Strindberg und Jürgenson, ihre<br />

Nasen hinein steckten. Bukowski war mehr<br />

der ‚Nose in your pants‘-Typ. Er wird beschworen<br />

<strong>als</strong> eine rau verzerrte Geisterstimme,<br />

die auf paranormalen Kanälen ‚Letzte<br />

Gedichte‘ stammelt (‚Röst‘). Nach diesem 24min.<br />

EVP-Kontakt, rezitieren und instrumentieren<br />

Elggren & Liljenberg Bukowski‘sche<br />

‚Nachlass-Gedichte‘, die ihnen 1996 in Kassel<br />

von einem Künstlersaufkumpan in die Hände<br />

gedrückt worden waren. Lakonisch kurze wie<br />

‚X‘ oder ‚1989‘, ‚(schl)echte‘ wie ‚Alcohol‘<br />

(and pussies / masturbating in front of the Television).<br />

Das 3-teilige ‚Opera‘ rumort mit<br />

Tonbandnoise und paranormalen Gesängen<br />

des Phantoms der Oper. ‚Cuca Cuka‘ träumt<br />

einen apokalyptischen Coca Cola-Alptraum,<br />

‚Nose in your pants‘ und ‚Gold‘ vertauschen<br />

Freudianisch den Johannes des Mannes bzw.<br />

Gold und Scheiße. Aaaaaaiiij!!!<br />

PER SVENSSONs Performance- & Klangkunst<br />

kreist auch bei EL/ELEMENT 1 (FER<br />

1064) um Energie, Element, Alkemi. EL<br />

entstand am 6.10.1987 auf dem Gelände des<br />

AKWs Forsmark I-III <strong>als</strong> Aktion gegen die nukleare<br />

Verschmutzung. Untermischt sind industriale<br />

Klänge aus dem alten Kanonenwerk<br />

in Skeppsholmen bei Stockholm, Gehämmer,<br />

Schweiß- und Mahlgeräusche, Theaterblechdonner.<br />

ELEMENT 1 war eine Aktion am<br />

17.9.1987 vor den Mauern des Königlichen<br />

Schlosses, an die Svensson, von Polizei und<br />

den Wachposten beargwöhnt, Weapon Death<br />

Heat Food Life schrieb. Elementare Geräusche<br />

von Erde, Luft, Feuer, Wasser und Metall<br />

mahnen, dass der Umgang mit ihnen heikel<br />

und zweischneidig ist. Eine Frage von Macht<br />

und Verantwortung. Der Anspruch schwedischer<br />

Elektroakustiker, <strong>als</strong> Neoschamanen<br />

und moderne Alchemisten auf Augenhöhe zu<br />

Göttern und den Mächten dieser Welt zu<br />

sprechen, wird dabei einmal mehr deutlich.<br />

Symbole ersetzen keine Politik? Letztlich sind<br />

auch die Aktionen des schwarzen Blocks, der<br />

Öko-Terrorismus eines Unabombers oder<br />

John Zerzans neo-primitivistische Scherbengerichte<br />

nur handfeste Zeichensprache.<br />

24


HIGH MAYHEM (Santa Fe, NM)<br />

Inzwischen überrascht es mich schon nicht mehr, dass das, was mich<br />

da aus Santa Fe erreicht, bezaubert und erstaunt. Mit The Defector<br />

(CD-R EP) debutieren THE BRILLIANT DULLARDS, ursprünglich ein<br />

Duo des Desertsongwriters Alex Neville mit dem Bassisten<br />

und Trompeter Chase Haynes. Ihre ausgedörrten<br />

Countrysongs mit Gitarren- oder Banjogeklampfe<br />

bekommen inzwischen einen federnden Untersatz<br />

durch das Tickling und die Besenshuffles von Grilly<br />

Biggs-Drummer Milton Villarrubias, der zusätzlich<br />

Staub mit seinem Laptop aufwirbelt. Den herzensbrecherischen<br />

Clou bringt jedoch der ziegenbärtige Jeremy<br />

Bleich ins Spiel, ansonsten Bassist von Birth und<br />

Oudspieler mit Eftah. Hier aber fiept er auf einer Melodica<br />

und verströmt mit ihrem ‚Mundharmonika‘-Quäken<br />

Melancholie und Untergangsstimmung. Wenn Haynes<br />

zu Nevilles heiserem Pathos noch Trompetentöne<br />

presst wie beim Abschiedslied ‚Sequester‘, dann wird<br />

die ‚Southern Tristesse‘ zäh und schwarz wie Teer.<br />

Was mit dem traurigen ‚Reveille March‘ beginnt, zieht<br />

wie ein geschlagener Haufen vorüber. Dass diese geprügelten<br />

Hunde dabei von einem wehmütigen Musette-Walzer<br />

träumen, bei ‚The Infraction‘ bittersüßen Klängen von South<br />

of the Border lauschen und doch noch mit einem weiteren kleinen Walzer,<br />

‚Children‘s Poems‘, schwanzwedelnd wieder Tritt fassen für den<br />

lärmigen, trompetendurchschmetterten ‚March Taps Out‘, das ist eine<br />

unerwartete Wendung. Die Southern Melancholie von Giant Sand, The<br />

Black Heart Procession, South San Gabriel, Souled America bekommt<br />

hier eine eigene Note.<br />

THE LATE SEVERA WIRES sind ein ganz besonderes Quartett und<br />

liefern mit three minutes a second (LP) die Argumente, um diese Besonderheit<br />

zu untermauern. Carlos Santistevan (bass), Mike Rowland<br />

(drumset), Ultraviolet (turntables, guitar) und Yozo<br />

Suzuki (guitar), außer Rowland allesamt noch mit<br />

Electronics verkabelt, klöppeln und häkeln anfangs<br />

nur fingerspitz an ihrem elektroakustischen Gewebe.<br />

Aber bald schraffiert Santistevan schon hitzigere<br />

Klangflächen und bei ‚Mass Over Volume‘ setzen Uptempodrumming<br />

und aufrauschender Gitarrennoise<br />

die Klangmoleküle massiv unter Druck. Die Wires entpuppen<br />

sich <strong>als</strong> Feuer spuckende Drachen mit einer<br />

Aversion gegen Kälte und Erstarrung. ‚No More Icebergs‘.<br />

Rowland klopft und tickelt, aber Struktur in<br />

dieses Grollen bringen allenfalls noch einige der<br />

plumpen Tanzschritte dieses Godzilla aus der Gila<br />

Wilderness von New Mexico. Bei ‚On/Off‘ zuckt er wie<br />

von elektrischen Schlägen gekitzelt, es macht ihn<br />

übermütig. ‚I‘m Feeling Lighthearted‘. In diesen vierpoligen<br />

Kollisionen zählt nicht mehr das Individuum,<br />

sondern der Überschuss an unvorhergesehenen<br />

Sounds. Godzilla schält und schuppt sich, sein Herz ist phosphorizierende<br />

Weißglut. ‚Like Shedding‘. ‚White Phosphorus‘. DJ Ultraviolet lässt<br />

sich zu mexikanischen Karnev<strong>als</strong>turbulenzen inspirieren, Mariachi on<br />

speed. Kinderstimmen, klappernde Hufe, der Bass brummig summend,<br />

Singsang und näselnde Blasinstrumente, die Tonhöhe wirft Falten, die<br />

Gitarre krabbelt auf der Tonleiter. Glaubt man die Wires zu kennen,<br />

wandeln sie mit ihrem Soundmorphing schon wieder selbst die Gestalt.<br />

Sicher ist hier nur die Anmutung des Phantastischen, beständig nur<br />

der Konjunktiv, garantiert nur das Abenteuer.<br />

25


I N T A K T<br />

(Zürich)<br />

FRED FRITH und CHRIS BROWN<br />

sind sozusagen ‚Mills Brothers‘. Frith<br />

lehrt an diesem bemerkenswerten<br />

College in Oakland Komposition & Improvisation,<br />

sein 1953 in Chicago geborener<br />

Kollege elektronische Musik.<br />

Entsprechend ist auch dessen perlendes<br />

oder gehämmertes Pianospiel bei<br />

Cutter Heads (Intakt CD 124) um ein E<br />

erweitert, das für interaktive Resonanzen<br />

und rätselhafte Phantomklänge<br />

sorgt. Saitenklang vexiert mit Innenklaviereffekten,<br />

perkussive Schläge<br />

traktieren den Gitarren- oder den<br />

Pianokörper, elektronisches Sirren<br />

könnte Brown, aber auch Friths E-Gitarre<br />

zum Ausgangspunkt haben.<br />

Selbst wenn Frith eine Akustische bekrabbelt,<br />

bleiben ununterscheidbare<br />

Sounds. Zu Browns Profil gehören neben<br />

Improvisationen mit Room und<br />

dem Glenn Spearman Double Trio, Interpretationen<br />

von Cowell, Ferrari, Riley<br />

und Zorn, Kompositionen wie Lava<br />

(Tzadik), Invention#7 & Alternating<br />

Currents (Ecstatic Peace) und Installationen<br />

wie Talking Drum und Transmission<br />

Temescal speziell Live Electronics-Performances.<br />

Die Duette mit<br />

Frith scheinen über die Synergie<br />

spontaner Erfindungskraft hinaus an<br />

jenem Faktor interessiert, auf den mit<br />

‚Dust‘, ‚Riddle‘ oder ‚Thick Air‘ hingedeutet<br />

wird. Dass ein drittes Element,<br />

unsichtbare Hände, mit ins Spiel kommen,<br />

wenn Browns Live Electronics<br />

auch Friths Gitarre mit transformieren,<br />

dem gemeinsamen Dritten einverleiben,<br />

an dem auf der vordergründigen<br />

Ebene weiter gezupft, geschrappt<br />

und getrillert wird. Wobei<br />

dieser Faktor, bei ‚Sings the Foundation‘<br />

allerdings erst, nachdem halluzinatorische<br />

Loops und Drones ganz<br />

allmählich ausdünnen, immer wieder<br />

und beim abschließenden ‚The Way<br />

You Do The Things‘ sogar besonders<br />

transparente und zarte Formen annimmt,<br />

<strong>als</strong> sirrendes Gitarrenfeedback,<br />

zirpiges Geflirr, diskantes Schaben<br />

und träumerische Pianotropfen.<br />

Seit dem Deutschen Jazzpreis 2005 hat sich herum<br />

gesprochen, dass ULRICH GUMPERT<br />

(*1945, Jena) einiges mehr geleistet hat, <strong>als</strong> im<br />

Zentralquartett Klavier zu spielen. Obwohl das<br />

ausreichen müsste für ein Plätzchen in der Jazz-<br />

Ruhmeshalle. Aber zu seinen Meriten gehören<br />

eben auch Satie-Interpretationen, auf den Punkt al<br />

dente, oder die Filmmusik für den von Günter<br />

Lamprecht verkörperten Berliner Tatort-Kommissar<br />

Markowitz (1991-95). Eine Folge hieß Berlin -<br />

Beste Lage und dieser Werbespruch scheint insbesondere<br />

junge Jazzer angesprochen zu haben,<br />

den Drummer Ulrich Griener, der 1994 aus Nürnberg,<br />

oder Jan Roder, Bassist von Die Enttäuschung,<br />

der ein Jahr später aus Lübeck kam, sogar<br />

den Tenorsaxophonisten Ben Abarbanel-Wolff,<br />

den es 2001 von Washington, D.C. an die Spree<br />

zog und der dort im Sirone Quartett und <strong>als</strong> Leader<br />

eines eigenen Fuß gefasst hat. Diese Drei<br />

spielen nun zusammen mit Gumpert seine Quartette<br />

(Intakt CD 127), darunter, in Reminiszenz an<br />

alte Brainstormingtage mit den Synopsis / Zentralquartettfreunden<br />

Sommer, Petrowsky und Bauer,<br />

die ‚Conference at Baby‘s‘, ‚...at Luten‘s‘ & ‚...at<br />

Conny‘s‘, verqualmte, hochprozentige Liebeserklärungen<br />

an die Cats, von denen die inspirierenden<br />

Impulse- und Blue Note-Klassiker stammen,<br />

die sich dabei auf den Plattentellern in der Christburger<br />

Straße am Prenzlauer Berg bei Baby oder<br />

Conny drehten oder bei Petrowsky, der Richtung<br />

Flughafen Schönefeld hauste. Gumpert hat sich<br />

mit seiner Sammlung von Vinylpreziosen am<br />

Schiffbauerdamm festgekrallt, mit Blick auf<br />

Brechts Hinterkopf, und beschreibt sein Lebensumfeld<br />

in ‚Blue Circus‘. ‚Von Hier und Anderswo‘<br />

pfeift mit Wehmut ein Lied aus vergangenen Tagen.<br />

‚Circulus Vitiosus‘ ist, was es heißt, ein 18-faches<br />

Play it again von 16 Takten, so wie Gumpert<br />

in endlos blauen Stunden die Motive seiner Helden<br />

umkreist, Coltrane, Coleman, Mingus, Miles, Cherry.<br />

Er kopiert keinen und doch sind sie alle gegenwärtig,<br />

die quecksilbrigen Geister aus dem Five<br />

Spot Cafe oder dem Village Vanguard. Die Quartette<br />

geben dem Stoff jeweils einen Dreh, der das<br />

Original aufschimmern und wie neu erscheinen<br />

lässt, wobei Abarbanel-Wolff vollmundig wie ein<br />

‚Alter‘ auftrumpft. Gumpert splittert dazu stahlblanke<br />

Pingkapriolen, grobe Richtung: Mengelberg<br />

oder Schlippenbach. Er war die treibende Kraft<br />

hinter Aus teutschen Landen gewesen und konnte<br />

dabei zeigen, dass Jazz im Grunde eine bestimmte,<br />

durch Erfahrungen der Migration und Verstädterung<br />

hindurch gegangene Weise ist, Volksmusiken<br />

rhapsodisch aufzupeppen, zu ‚Verzigeunern‘,<br />

zu ‚Amerikanisieren‘. Ganz Berlin könnte davon ein<br />

Lied singen. Statt dessen gefällt man sich <strong>als</strong> überdimensioniertes<br />

Sandbrötchen aus Hirschhornsalz<br />

und Zuckerguss. Bei Gumpert gibt es kein ‚Hier‘<br />

ohne ein ‚Anderswo‘.<br />

26


LAST VISIBLE DOG (Providence, RI)<br />

Chris Moon und sein mir mehr und mehr sympathisches Label in<br />

Providence, RI, stellen auf Crows of the World vol.1 (LVD<br />

099/100, 2 x CD) schräge Vögel vor, die den äußersten Rand<br />

des LVD-Biotops bewohnen. Als Vertreter der intelligenten Familie<br />

Corvidae begegnen einem da The Family Players aus<br />

dem finnischen Lutakko; <strong>als</strong> Western Automatic ein Soloprojekt<br />

des Zeniople-Mannes Matt Christensen in Chicago; das Organ-Duo<br />

Ilya Monosov/Preston Swirnoff; Andrea Belfi &<br />

Friends, immerhin ein Name, der in <strong>BA</strong> schon gefallen ist anlässlich<br />

seines Häpna-Releases Between Neck & Stomach; sowie<br />

Paper Wings, zu denen sich die Gitarristen Anthony Guerra<br />

& Antony Milton zusammentaten. Ebenfalls ein Gitarrenduo<br />

ist Northern Cross mit Geoff Mullen aus Providence & Kris<br />

Lapke; Brasil and the Gallowbrothers Band kommen aus<br />

Polen, finden erst keinen Anschluss unter dieser Nummer, bevor<br />

sie mit Gitarre, Korg, Orgel, Oszillator und hingehauchtem<br />

Sprechgesang in ihre Tristesse eintauchen lassen; mit Sunken<br />

geht ein weiteres Projekt des neuseeländischen PseudoArcana-<br />

Machers Antony Milton an den Start, diesmal mit Orgel, sakralem<br />

Murmelgesang und diskanten Rückkopplungen; daneben<br />

wirkt Kawaguchi Masami‘s New Rock Syndicate wie ein<br />

70s Rocktrio auf dem LSD-Marsch. Und abschließend hört man<br />

noch die weirden Freerocker Oaxacan aus Oakland mit Mike<br />

Guarino an den Drums, Derek Monypeny an der Gitarre und<br />

Amy Turgors „oo|o|oo||oo.o.oo. o.o.o....oo..o.oo.||||.ooo.o.o.o“-Vocalizing.<br />

Aufgefächert werden verschiedene Spielarten von<br />

dröhnminimalistischer Psychedelic und Ansätze von Freak Folk,<br />

etwa bei Digitalis-Macher Brad Rose in Tulsa, der unter dem Namen<br />

The North Sea zu mittelalterlichem Getrommel sein Banjo<br />

(?) <strong>als</strong> Laute pickt. Durch die Bank erklingt starker bis sehr<br />

starker Stoff, ob lo-fi, semiakustisch oder <strong>als</strong> dröhnender Feedbackmulm.<br />

Neuseeland ist definitiv eine Brutstätte für Freerock. THE IDLE<br />

SUITE ist ein Konglomerat von Leuten, die aus ihrer insularen<br />

Inzucht eine musikalische Tugend entwickelt haben und einen<br />

entsprechenden Humor: ‚We are the Urns from Undr‘. Mark Williams<br />

& David Hall von MarineVille spielen auf Up Two Sticks<br />

Road (LVD 110) Gitarre & Bass, Greg Cairns von Sferic Experiment<br />

und James Kirk von Sandoz Lab Technicians abwechselnd<br />

und im Doppelpack Drums, nur Keyboarder Kristen Wineea<br />

scheint ein halbwegs noch unbeschriebenes Blatt zu sein. Die<br />

improvisatorischen Daddeleien und Clashes kulminieren im 9minütigen<br />

‚Sphyma Zagaena‘, nicht zufällig benannt nach dem<br />

Glatten Hammerhai, und den 23 Minuten von ‚Forcefield‘. Es gibt<br />

sicher Musiken, die schneller auf den Punkt kommen, aber genau<br />

an diesem Punkt scheinen die Neuseeländer am wenigsten<br />

interessiert. Rock, der so ohne Netz und ohne Ziel umher<br />

streunt, lässt vor allem Williams die Freiheit mit seiner Gitarre<br />

zu tagträumen, bevor die Rhythmsection, allen voran der druckvolle<br />

Hall, ihn mit ihrem Acceleranto mit ins Rollen bringen.<br />

Aber gerade wenn der Zug abgeht, wird wieder umgeschaltet<br />

auf bekiffte Träumerei.<br />

27


Neuseeland ist eine Insel. James Kirk trommelt auch im Freerocktrio THE<br />

STUMPS (nicht zu verwechseln mit Kev Hoppers einst <strong>als</strong> ‚Trout Mask Replicants‘<br />

gelobten Stump). Die Downunder-Stumps formierten sich 2003<br />

aus Kirk, dem umtriebigen Antony Milton again und Stephen Clover am<br />

Bass, wenn man so will, in der klassischen Guru Guru-Besetzung. The<br />

Black Wood (LVD 111) lässt aus den Boxen ausschließlich instrumentale<br />

Psychedelic dröhnen, zäh wie Teer. Die Klänge stagnieren in ihrem halbflüssigen<br />

Zustand, ölige Schlieren blecken ihre bizarren Paisleyzungen.<br />

Rock ist das nur, wenn man die Zeit von Dali‘schen Uhren abliest. Kirk<br />

schlägt oft minutenlang keine Beats, sondern lässt nur perkussiven Hall<br />

im Hintergrund morphen. Darüber wölbt Milton metallic-schimmernde<br />

Wellen (die bei Trk 7 besonders prächtig aufwallen). Sporadisch knickt<br />

und knittert Kirk den Zeitstrom, nur um gleich wieder zeitlupig dahin zu<br />

hinken, <strong>als</strong> ob er in eine überreife, klebrige Riesenkiwi getreten wäre. Miltons<br />

Gitarrensounds verziehen sich wie in einem alchemischen Ofen,<br />

verfärben sich vom Rötlichen ins Weißliche, knurren und wummern,<br />

durchmischt mit einem Bass, an dem sich ebenso wenig ein Puls fühlen<br />

lässt. Statt dessen hüllt sich Clover in Tintenfischwolken. Wenn sich die<br />

Drei mal rockig eingrooven (Trk 3), scheint Stumps Elevator Noir seine<br />

Tür mitten in den 70er Jahren zu öffnen. Zottelmähnige Japaner steigen<br />

zu und die Luft versuppt wie das Wasser des Toten Meeres. Strange.<br />

Providence ist uns Würzburgern ein Begriff durch die urigen, leider aufgelösten<br />

Urdog. Ihr Keyboarder Jeff Knoch tauchte seither in Eyes Like<br />

Saucers auf und nun an der Seite von Erik Carlson in AREA C. Dessen<br />

Loops & Gitarre und Knochs Farfisa- & Harmoniumgepumpe geben Haunt<br />

(LVD 113) das ganz spezielle Klangbild. Der Titel korrespondiert mit einem<br />

gleichnamigen Gedichtband von Keith Waldrop, Chevalier des arts et<br />

des lettres in Providence. Ob man sich auf Space-Trip mitgenommen fühlt<br />

oder in eine meditative Stimmung versenkt wird, das bleibt der jeweiligen<br />

Imagination überlassen. Mir scheint Area C hier näher bei Town & Country<br />

<strong>als</strong> bei Popol Vuh. Dröhnminimalistisch brummende Mäander, durchsetzt<br />

mit pulsierenden Schüben und stotternden Impulsen, atmen zuallererst<br />

die seltsamen Orgel- oder Akkordeonklänge von Farfisa & Harmonium.<br />

Das ist ‚strange‘ per se. Und entfaltet einen fast unwiderstehlichen<br />

Sog ist Träumerische und Geheimnisvolle, halb Exotica, halb Nostalgie,<br />

Fernweh und Flucht aus der Zeit. ‚Names of Places‘ bringt für knapp 3 Minuten<br />

eine Drummachine ins Spiel, bevor ‚Circle Attractor‘ mit hypnotisch<br />

repetierten Keyboardfiguren drehwurmartig hinter der Zirbeldrüse zu rotieren<br />

beginnt. Der Monstertrack, durchsetzt mit regnerisch tröpfelnden<br />

oder schleifenden Loops, spaltet sich in zwei Teile, verfällt im zweiten in<br />

ein schwermütiges Brüten, aus dem die Gitarre am Ariadnefaden einer<br />

sehnsuchtsvollen Melodie wieder hinaus führt. Absolut ‚haunting‘.<br />

Andrew Moon, ein weiterer Neuseeländer, spielte in den 80ern Schlagzeug<br />

in Goblin Mix, bevor er ab Mitte der 90er <strong>als</strong> rst monumentale Werke<br />

für Dröhngitarre zu erschaffen begann - The Acceleration Station (1995),<br />

R136a (1997), Warm Planes (2000) - , mit denen er bei Ecstatic Peace und<br />

Corpus Hermeticum auf offene Ohren stieß. Mit Axes (LVD 114) versucht<br />

er einmal mehr, die Schwerkraft zu überwinden. Dazu braucht er sich nur<br />

mit Mondlicht voll zu saugen und sich ganz auf den Stern zu konzentrieren,<br />

zu dem er sich aufschwingen möchte. Energie liefern ihm brummende<br />

Grundtöne, verschieden getöntes fuzziges, knurriges, wummerndes<br />

Dauerfeedback, auf das er eine kleine Melodie tupft oder ein weiteres, allerdings<br />

ganz helles Dröhnen, wie der Singsang einer Glasharmonika.<br />

Oder eine pulsierende Schwingung, ein zwitscherndes Sirren. Ein Titel<br />

wie ‚Return to the Stars‘ macht klar, was Moons kosmonautisches Streben<br />

antreibt - Heimweh. Seine Gitarre verwandelt sich vollständig in ein<br />

Sternenschiff. Was sich sonst Dröhnminimalistik oder Dark Ambient<br />

schimpft, will doch nur den Weltinnenraum gemütlich machen. rst ist darüber<br />

erhaben. Sein Mondstrahl ist stabil genug, um darauf hinaus und<br />

davon zu reiten.<br />

28


THE TERMINALS sind Veteranen des Neuseeland-<br />

Rocks. Im selben Jahr 1986 wie The Dead C traten sie<br />

auf die Flying Nun-Szene. Die aktuelle Besetzung besteht<br />

seit 1990 aus den Gitarristen Stephen Cogle &<br />

Brian Crook, die auch die Musik beisteuern, aus Mick<br />

Elborado (keyboards), John Chrisstoffels (bass) und<br />

Peter Stapleton (drums). Crook, Elborado & Metonymic-Macher<br />

Stapleton bilden zusammen auch noch<br />

Scorched Earth Policy und Stapleton stünde schon allein<br />

von The Pin Group bis Flies Inside The Sun für ein<br />

Vierteljahrhundert Downunderground. Dunkel glühendes,<br />

eng verzahntes Doppelgitarrenriffing, tribale<br />

rhythmische Stoik und eine Stimme mit Brian Ferry-<br />

Vibrato beschwören den Geist der Gründerjahre der<br />

Termin<strong>als</strong>, <strong>als</strong> punkgefilterte Rückkopplung von Joy Division<br />

an Velvet Underground. Melodramatik, in<br />

schwarzem Feuer geläutert, bei ‚Different Air‘ keyboardbestimmte<br />

Dark Wave-Tristesse, die bei ‚Last<br />

Days of the Sun‘ ungeniert käsig nach 80s duftet. Eine<br />

von Erfahrung gegerbte Monotonie dient <strong>als</strong> Front,<br />

aber hinter Cogles Gesang wühlen die Gitarren und<br />

schüren die Glut zu White Heat, während Stapleton<br />

sein Maureen Tucker-Tamtam klopft. Hymnen aus den<br />

letzten Tagen der Sonne, der Mond blau angelaufen,<br />

die Liebe nur noch Asche, John Cales Fear <strong>als</strong> letzter<br />

Freund, doch der Sound bäumt sich auf, dass man sich<br />

in seiner wilden Mähne festkrallen muss.<br />

Still Living in the Desert (LVD 117) hat Ex-Urdog Jeff<br />

Knoch aka EYES LIKE SAUCERS ausgebrütet, während<br />

er sich allein mit seinem Hund Parmalee in einem<br />

VW-Vanagon in die Wüste von Nordarizona zurückgezogen<br />

hatte. Mit dabei hatte er sein indisches Harmonium,<br />

seine Farfisa, Glockenspiel und ein 4-Spur-Aufnahmegerät.<br />

Nicht nur das Harmonium erinnert an Nico,<br />

der Titel stammt aus ihrem Tagebuch und meint<br />

die Wüste inside my head und das Gefühl, ein Alien im<br />

Exil zu sein. Der Volkswagen und Nico sind nicht die<br />

einzigen Spuren, die Knoch nach Deutschland legt. Er<br />

zitiert Heidegger, Wilhelm v. Humboldt und Meister<br />

Eckhart, wenn er von der Suche nach mystischer Abgeschiedenheit<br />

und Gelassenheit spricht. Wie Bruce<br />

Chatwin sieht er ‚travel‘ und ‚travail‘, Reisen und Arbeiten,<br />

<strong>als</strong> etwas Verwandtes. Er verweist auch auf<br />

den von Dharma Bum Gary Snyder vermuteten etymologischen<br />

Zusammenhang von ‚wild‘ und ‚Wille‘, sprich,<br />

freier Wille im Sinne von ‚proud and free... resisting<br />

any oppression... spontaneous, unconditioned‘ (The<br />

Etiquette of the Wild). Mit Robert Wyatts ‚Sea Song‘ besingt<br />

Knoch „a seasonal beast“ (So until your blood<br />

runs to meet the next full moon You're madness fits in<br />

nicely with my own), in ‚Frühling der Seele‘ zitiert er<br />

Georg Trakl: Dunkler umfließen die Wasser die schönen<br />

Spiele der Fische. Stunde der Trauer, schweigender<br />

Anblick der Sonne; Es ist die Seele ein Fremdes<br />

auf Erden. Knochs Musik gleicht wenigem auf dieser<br />

Welt, aber sie ähnelt doch dem minimalistischen Pulsieren<br />

von Town & Country, <strong>als</strong> pumpendes, summendes,<br />

schnarrendes Dröhnen, das mit Hingabe und all<br />

seiner sanften Gewalt ins Erhabene strebt. Von allen<br />

psychedelischen Trips ist das einer der intensivsten,<br />

der mir je zu Ohren gekommen ist.<br />

29


LEO RECORDS (Kinkskerswell, Newton Abbot)<br />

* Diese Zusammenarbeit der aus Tuva stammenden Vokalistin<br />

SAINKHO NAMCHYLAK mit ROY CARROLL (Electronics)<br />

stellt – wie der Titel Tuva-Irish Live Music Project (LR 480) vermuten<br />

lassen könnte – gottseidank keine Weltmusik-Fusion a la<br />

‚Kehlkopfgesang trifft auf Irish Folk’ dar. Die Seelenverwandtschaft<br />

dieser beiden Kulturkreise zeigt sich eher auf spiritueller<br />

Ebene, die Wurzeln in der grauen Vorzeit zu haben scheint. Zum<br />

Konzept dieser Live-CD gehört die Idee, ihre „Songs“ (streng genommen<br />

sind es keine) so aufzuführen, wie es in der prä-medialen<br />

Zeit üblich war: bei jeder Aufführung wurde das Liedgut der<br />

jeweiligen Situation angepasst und verändert. Selbst der Laptop<br />

von Carroll wurde so programmiert, dass die Electronics bei jeder<br />

Aufführung anders daher kommen. Dies ist auf den in Warenform<br />

starr gepressten Konzertmitschnitten naturgemäß nicht<br />

nachvollziehbar. Hier trifft Namchylaks Stimme, die sich zwischen<br />

tuvanischer Gesangstradition, Textrezitation und teilweise<br />

eher flächigem Gesang bewegt, auf elektronische Sounds.<br />

Diese hauen selten (und dann auch nur dezent) auf die Pauke,<br />

knacksen und kruschpeln gerne und gemahnen auch mal an<br />

Neue Musik aus der Ferne. Spannung kommt dabei leider keine<br />

auf.<br />

Anlässlich des 50. Geburtstages von SAINKHO NAMCHYLAK<br />

ließ es sich Leo Feigin nicht nehmen, ihr zu Ehren eine Compilation<br />

namens Nomad (LR 482) zu veröffentlichen, die ihre Wanderschaft<br />

zwischen Folk, Weltmusik, Jazz und Improvisation illustriert.<br />

Wobei wir wieder mal bei einer Aufzählung von Schubladen<br />

sind, die es eigentlich zu ignorieren gilt – auch für Namchylak<br />

sind diese Abgrenzungen zwischen den Genres offensichtlich<br />

nicht relevant. Zu hören ist sie hier nicht nur solo sondern<br />

auch mit Tri-o, Kieloor Entartet, The Moscow Composers<br />

Orchestra und vielen anderen. Wobei sie zwischen den faszinierenden<br />

tuvanischen Obertongesängen und easy Exotica in der<br />

Tat eine große Bandbreite vorzuweisen hat. Nicht alle Facetten<br />

stoßen da auf Gegenliebe. Aber wenn sie dann beispielsweise<br />

mit dem verstorbenen Peter Kowald im Duett zu hören ist, weiß<br />

man ihre Kunst wieder zu schätzen. GZ<br />

* Das Konzept dieser Zusammenkunft unter dem Motto Tenderness<br />

of Stones / Zärtlichkeit der Steine, Parts 1 – 10 (CD LR 481)<br />

von LAUREN NEWTON, JOACHIM GIES und Gästen (Michael<br />

Walz, Koho Mori) dreht sich um ein achtzeiliges Gedicht von Michael<br />

Speier, das hier in vier verschiedenen Übersetzungen (3x<br />

ins Englische, 1x ins Japanische) dargeboten wird – ohne die<br />

deutschsprachige Ursprungsversion zu rezitieren (ob da wohl<br />

einer in seinem früheren Leben Germanistik studiert hat?). Wobei<br />

mich diese Lyrik genauso wenig anspricht wie Rilke, den Gies<br />

bei einem seiner früheren Projekte beehrte. Newton benutzt ihre<br />

Stimme zumeist <strong>als</strong> Instrument, das selten Worte artikuliert. Wobei<br />

sie die volle Bandbreite zwischen geräuschhaftem, flächigem<br />

Vokal-Klang und extrovertiertem non-verbalen Gesang und<br />

klarer Text-Rezitation drauf hat. Und einmal sogar in unvermutete<br />

Tiefen vorstößt, aber auch in Konkurrenz zu den Saxophonen<br />

ihres Duo-Partner Gies tritt – in manchen Fällen fragt man sich,<br />

wer von beiden da denn jetzt so kiekst. Als Grundierung dienen<br />

diskrete Electronics zwischen Knistern und ruhigen Klangflächen,<br />

die für eine unaufdringliche Geräuschkulisse sorgen; nur<br />

zwei Stücke dieser knapp 58 Minuten kommen ohne diese aus.<br />

Insgesamt für mein einfaches Gemüt etwas zu verkopft, mehr<br />

Spontanität und Energie hätte diesem Werk gut getan. GZ<br />

30


2004 hatte Leo Records sein 25-jähriges Bestehen gefeiert, mit einem Leo-Festival<br />

im Kölner Loft. Während Joachim Gies & Denis Silke ganz leise in ihren Reeds-<br />

Drums-Dialog einsteigen, nutze ich die Gelegenheit, um daran zu erinnern, dass<br />

Leo nicht nur <strong>als</strong> Synonym für New Music from Russia steht und <strong>als</strong> treues Forum<br />

für Anthony Braxton, John Wolf Brennan oder Eugene Chadbourne; Leo Feigin hat<br />

auch immer wieder unverdrossen Delikatessen angeboten wie Joe & Mat Maneri,<br />

Pandelis Karayorgis, Metamorphosis, Gaël Mevel, The Remote Viewers, Wally<br />

Shoup, Who Trio. Delikatessen sag ich, auch wenn sie oft kaum beachtet vom Tisch<br />

gewischt und nur von Vögeln aufgepickt wurden. Einige seiner so geförderten Lieblinge<br />

spielten im Loft nun auf, um Leo Feigin zu gratulieren und zu danken, Gebhard<br />

Ullmann mit seinem Clarinet Trio, Frank Gratkowski im Duo mit Xu Fengxia<br />

und ihrer Guzheng und im Trio mit Paul Lovens und dem Pianisten Simon Nabatov,<br />

einem weiteren Leo-Favoriten, der Peter Ustinov immer ähnlicher wird. Das<br />

Trio erweiterte sich dann noch zum Quartett mit der wie eh gertenschlanken und<br />

zickenterroristischen Vokalistin Lauren Newton, die zudem ein Soloständchen<br />

zum Besten gab, für mich die ideale Pinkelpause. Und Aki Takase begoss im Rapport<br />

mit dem einmal mehr sensationellen Rudi Mahall die Purity & Sweetness von<br />

Musik mit Bier und macht Leo Records 25th Anniversary Loft, Köln (LR 483/484, 2 x<br />

CD) <strong>als</strong> aktuelle Leistungsschau der kompromisslosen Leo-Familie komplett.<br />

Celebrations (LR 485), ein weiterer Loftabend Anfang 2006, hatte einen anderen<br />

Anlass zum Feiern, den 47. Geburtstag von SIMON NA<strong>BA</strong>TOV an diesem 11.1.<br />

In seiner Partyband, die zum ersten Mal in dieser Besetzung antrat, standen dem<br />

Poeten am Klavier, der sein Instrument einsetzen kann wie ein Erzsucher seinen<br />

Prospektorhammer (Nietzsches berühmten Philosophenhammer) oder mit E-bows &<br />

Cracklebox erstaunliche Sachen macht, nur alte Bekannte zur Seite, der tiefgründige<br />

FRANK GRATKOWSKI mit seinem Altosax & Klarinetten, der gedankentrunkene<br />

Trompeter & Kornettist HERB ROBERTSON und der erfindungsreiche DIETER<br />

MANDERSCHEID am Kontrabass. Das Cover zeigt vier tote Heringe, zwei mehr <strong>als</strong><br />

Jesus für die Speisung von 5000 benötigte. Aber statt nun zwei Improfans in 5000<br />

zu verwandeln, würde er ihnen wohl eher die Dämonen austreiben wollen. Die Daimones<br />

sind Wesen, die, wie Plato schrieb, man sich selber <strong>als</strong> Schutzengel oder Totems<br />

wählt und keine Zeit und keine Macht zerstückelt, laut Goethe, diese geprägte<br />

Form, die lebend sich entwickelt. Obwohl an den Dämonenhaaren herbei gezogen,<br />

scheinen mir doch die Celebrations wie eine Verlebendigung jener ‚dunklen Kraft‘,<br />

in der Freiheit und Notwendigkeit oxymoronisch eins werden. Formgebung und Geformtes,<br />

Suchen und Finden vibrieren in Unschärferelationen, Lauschen und Hörbarmachen<br />

und wiederum Belauschen erzittern in Zeitparadoxien so paradox wie<br />

Nietzsches Werde, der du bist. Für den war letztendlich alles nur ein Singen und<br />

Tanzen, ein Feiern und Bejahen der Daimones, des lebendigen Sich-Entwickelns,<br />

mit einem Wort: Improvisation.<br />

Philosophisch geht es auch zu beim DIETRICH EICHMANN ENSEMBLE und The<br />

Hot Days (LR 486). Eichmann, ebenfalls Pianist und ebenso wie Nabatov & Co. ohne<br />

Scheu vor dem Paradoxen und Komplexen, unternimmt sogar explizit ‚tests of<br />

ethics‘, mit musikalischen Mitteln und politischem Beigeschmack. Worüber er sich<br />

Gedanken macht, zeigen Titel wie ‚sweets from above‘, ‚low income seniors‘,<br />

‚fingerprint of new security trend‘, ‚five star tragedy‘, Titel, die manchmal erst auf<br />

den zweiten Blick ihre Stoßrichtung offenbaren. Eichmann beginnt und endet in Duetten<br />

mit Gunnar Brandt-Sigurdsson, der mit Electronics & Hörgerät (?) jämmerlich<br />

jaulen kann. Zwischendurch wechselt er vom Piano zum Cembalo und mit dem<br />

Drummer & Perkussionisten Michael Griener zu einem weiteren Duopartner, der<br />

seinen gehämmerten Stakkati oder Innenklavierpizzikati mit aufrauschendem Getrommel<br />

begegnet. Chris Heenan an Altosax & Kontrabassklarinette stößt hinzu und<br />

für die 8 Min. von ‚the worm from the void‘ erweitern die beiden Kontrabassisten<br />

Alexander Frangenheim und Christian Weber Eichmanns flexibles Ensemble sogar<br />

zum Quintett. So auf subtile Weise spitz und kritisch wie seine Ethik, so diskant und<br />

ruppig, schnarrend, spotzend und rappelig ist die zugehörige Ästhetik. Der Kapitalismus<br />

scheißt und die New Security-Sheriffs bewachen vielleicht die größeren<br />

Haufen. Aber man muss kein ‚public servant‘ und low income senior in spe (wie ich)<br />

sein, um zu kapieren, dass Süßigkeiten schon lange nicht mehr vom Himmel fallen.<br />

31


ANTHONY BRAXTON ist inzwischen so etwas wie der Leo-Star,<br />

obwohl seine Kreativität über das Fassungsvermögen eines Label<br />

hinaus geht. Mit Trio (Glasgow) 2005 (LR 487 / 488, 2 x CD)<br />

sind wir im Kalender nur 4 Tage weiter gerückt seit 4 Compositions<br />

(Ulrichsberg) 2005 Phonomanie VIII (-> <strong>BA</strong> 52) und begegnen<br />

Braxton selbst an Altosax & Electronics im Verbund mit dem<br />

Kornettisten & Flügelhornisten Taylor Ho Bynum und der neuen<br />

Gitarrenentdeckung Tom Crean. Zusammen<br />

performen sie in zwei einstündigen Sets die<br />

‚Composition 323 a & b‘. Crean verdiente sich<br />

die Möglichkeit, in diesem ‚Diamond Curtain<br />

Wall Musics‘ Trio die Rolle eines Kevin O‘Neil<br />

oder einer Mary Halvorson zu spielen, durch<br />

sein Studium bei Braxton an der Wesleyan University,<br />

einer Reihe von Kompositionen wie ‚4<br />

Maps of Infinite Possibility‘ and ‚XXXX‘ für Gitarre<br />

& Computer, sein Mitwirken an Braxtons<br />

‚Sonic Genome‘-Project 2003 und der Aufführung<br />

mehrerer seiner Ghost Trance-Werke für<br />

Quartett 2004. So erlebt man nun das Phänomen,<br />

dass Ho Bynums stupende Virtuosität,<br />

die allein schon Aufmerksamkeit erregen<br />

könnte, nur ein Pol in einem Dreieck ist, das in<br />

Creans struppigem, unjazzigem Gitarrenspiel<br />

und in Braxtons auffällig zarten und quecksilbrigen Altoklängen<br />

ebenso starke Anziehungs- wie Abstoßungskräfte ausstrahlt.<br />

Und damit des Besonderen nicht genug, legt Braxton über weite<br />

Strecken mit seinen interaktiven Supercollider-Electronics einen<br />

irisierenden Schleier über diesen Tripol, schimmernde Gespinste<br />

aus feinen, leicht diskanten Drones. Crean kratzt und plückt<br />

dahinter auffällig stottrige, aleatorisch gestreute und rasante<br />

Kürzel von seinen Saiten, Ho Bynum sprudelt dazu ebenso<br />

schnelle, meist gepresste Linien. Dass Braxton sich aufs Alto beschränkt,<br />

stand eigentlich nicht auf dem Programm. Aber all seine<br />

übrigen Intrumentenkoffer gingen auf der Tour verschütt.<br />

Nach einer Dreiviertelstunde von ‚323a‘ keucht er Worte durchs<br />

Mundstück, eine weitere Irritation, die aber den freien Umgang<br />

dieses Trios mit flüchtigen, undefinierten Klängen und seinen<br />

Spaß an Noise, an Tempo und unvermuteten Träumereien demonstriert.<br />

Nicht umsonst hebt Ho Bynum unter seinen Erfahrungen<br />

mit Braxton zwei Punkte besonders hervor, „his insistence<br />

to keep challenging himself and his audience, and his refusal<br />

to accept any boundaries on his work.“<br />

Diese Suche nach Selbstherausforderung und Grenzüberschreitung<br />

ist wohl der Motor für Braxtons unermüdlichen Selbstbefragungen.<br />

Die aber ähnlich wie bei Picassos oder Max Beckmanns<br />

Selbstporträts nie bloß Suche nach dem eigenen Wasauchimmer<br />

oder eitle Blicke in den Spiegel sind, selbst wenn man dabei das<br />

Publikum <strong>als</strong> Spiegel ansieht. Solo (Pisa) 1982 (Golden Years, GY<br />

28) ist wie Solo (Köln) 1978 oder Solo (Milano) 1979 in erster Linie<br />

eine Befragung und ein Härtetest des Materi<strong>als</strong>, eigenem<br />

und ‚klassischem‘ - ‚Round ‘Bout Midnight‘, ‚You Go to My Head‘<br />

und vor allem ‚Giant Steps‘. Coltranes Eckstein war für Braxton<br />

die Herausforderung, um daran seinen Schnabel zu wetzen und<br />

seine gleichzeitige Nähe und Distanz zur Jazztradition im allgemeinen<br />

und zur Saxophonartikulation im Besonderen mit kreativer<br />

Spannung aufzuladen. Das Publikum in Pisa brachte er mit<br />

seiner rasenden, flatterzüngelnden, schädelbohrenden Hypervirtuosität<br />

völlig aus dem Häuschen, zu einer nicht enden wollenden<br />

Ovation.<br />

Im Übrigen ist ‚323 b‘ ebenso verblüffend und entgrenzt wie ‚323<br />

a‘, ein funkelnder Diamant in der Braxtonia-Krone.<br />

32


Weiß der Teufel, der sie reitet, warum Akkordeonisten oft eine manische<br />

Ader haben. ‚El Acordéon del Diablo‘ ist zu einem festen Begriff<br />

für diesen diabolischen Pakt geworden. Auch EVELYN PE-<br />

TROVAs Temprament lässt einen infernalischen Antrieb für ihr extrovertiertes,<br />

rauschhaftes Spiel auf der ‚Quetschkommode‘ vermuten.<br />

Ihre Leo-Scheibe Year‘s Circle (2004) hatte ihr internationale<br />

Nachfrage eingetragen. Für Upside Down (LR 489) konnte Alex Kan<br />

ihren Wunsch nach einem Teufelsgeiger <strong>als</strong> Partner übererfüllen,<br />

indem er ihr die Bekanntschaft mit ALEXANDER <strong>BA</strong>LANESCU<br />

vermittelte. So kann sich nun ihre slawisch-folkloristische Furiosität<br />

reiben und immer wieder entflammen an dessen rumänisch-jüdischen<br />

Tiefenerinnerungen. Der 1954 in Bukarest geborene Violinist<br />

kam zu Weltruhm mit seinem Balanescu Quartet und in der Michael<br />

Nyman Band im Crossover von Klassik, Film- und Popmusik. Die sieben<br />

von Petrova komponierten Duette erfinden mit meist rhythmisch<br />

pumpender und schneidender Uptempoverve eine<br />

‚Imaginäre Folklore‘ aus stürmischer Fiedelvirtuosität und akkordeonistischer<br />

Artistik à la Piazzolla. Petrovas Akkordeonfuror reimt<br />

sich auf Tribe und ebenso auf ‚crazy‘, schwelgt in dramatischen<br />

Verwicklungen (Journey‘, ‚Hungry Wind‘) oder heizt Party- (‚Torn<br />

Dress‘) und Feststimmung (‚Mouse Wedding‘) an und manchem wird<br />

dabei die ‚File under popular‘-Stoßrichtung einer Iva Bitova oder<br />

Amy Denio in den Sinn kommen. Nur ‚Shout‘ und ‚Dream‘ lassen im<br />

Bann von dunklen Stimmungen oder Sehnsüchten das ständige<br />

Stampfen und Wirbeln ganz. Petrova setzt durch Vokalisation zusätzliche<br />

Akzente, besonders effektvoll <strong>als</strong> keckernde Hexe bei<br />

‚Hungry Wind‘.<br />

Eigentlich hatte ich die leise Hoffnung, dass es bei Radio Free Europe<br />

(LR 490) zwischen mir und dem Gitarristen Mark O‘Leary endlich<br />

funken könnte. Immerhin hat er im UNDERGROUND JAZZ TRIO<br />

den Tortoise- und Powerhouse Sound-Drummer John Herndon und<br />

den Isotope 217-Bassgitarristen Matt Lux an der Seite. Er vermeidet<br />

es jedoch, in die Stiefel eines Jeff Parker steigen zu wollen und<br />

macht sein Ding. Das ist sowohl gut <strong>als</strong> auch schlecht. Gut, weil eigenständig,<br />

weniger toll, weil O‘Leary wie immer seine quecksilbrigen<br />

Singlenotetiraden nudelt oder die Sounds zieht und dehnt wie<br />

Kaugummi und in beiden Fällen in meinen Ohren Scheiße klingt. Es<br />

muss am Gitarrenklang, an der Art sie zu stimmen oder an mir liegen.<br />

Herndon und Lux sind leider nur brave Staffage für O‘Learys<br />

Geblubber aus dem ECM-temperierten Jazzmesolithikum. So wird<br />

das wieder nichts mit uns beiden.<br />

RAMON LOPEZ, wie O‘Leary ein typischer Leo-Act, hatte zuletzt<br />

im Trio mit Agustí Fernández & Barry Guy mit dem äußerst lyrischen<br />

Sound von Aurora (Maya) überrascht. Mit Swinging with Doors (LR<br />

491) knüpft der Spanier, wie der Untertitel Drums Solo II hervor<br />

hebt, an sein Leo-Debut Eleven Drum Songs an. Rhythmik spielt dabei<br />

nur eine Nebenrolle. Indem er zwei, drei Geräuscherzeuger herauspickt<br />

aus einem Riesenfundus an Perkussionskrimskrams, dessen<br />

Namen schon Musik machen - Balafon, Bamboo Chimes, Brushes,<br />

Cajon, Castanets, Cowbell, Darbouka, Djuju, Drumsticks, Kasa<br />

Kasa, Metal Chimes, Metallophone, Plastic Mallets, Ratatak, Sleigh<br />

Bells, Tabla, Talking Drum, Temple Block und sogar eine Okarina -,<br />

erzeugt Lopez kuriose Geräuscheffekte und phantasievolle Soundscapes.<br />

Er ‚malt‘, manchmal sogar nur mit bloßen Händen, wie mit<br />

Fingerfarben zwölf Variationen von Exotik oder rappelt in seinem<br />

Sammelsurium wie im sprichwörtlichen Karton. Der Clou ist jedoch<br />

Teppo Hauta-Aho <strong>als</strong> Türschwinger. Der finnische Kontrabassist<br />

knarrt und quietscht in Reminiszenz an Pierre Schaeffers Variationen<br />

für eine Tür und einen Seufzer, dass sich einem die Zehennägel<br />

rollen. Für Perkussionsliebhaber ein Gedicht.<br />

33


Der seit 1999 in Los Angeles ansässige Neuseeländer<br />

ANDREW PASK hatte mich schon<br />

<strong>als</strong> Choir Boy beeindruckt im Duo mit dem<br />

pfMentum-Macher Jeff Kaiser (-> <strong>BA</strong> 46). Sein<br />

Spiel auf Sopranosax oder Bassklarinette, obwohl<br />

pur schon ausdrucksstark und poetisch,<br />

bekommt durch feines Liveprocessing Schatten<br />

oder Spiegelreflexionen, unscharfe Konturen,<br />

Fransen, wallende Schleppen. So auch bei<br />

Griffith Park (pfMENTUM CD041), Spaziergängen<br />

mit dem Pianisten JONATHAN BESSER.<br />

Die beiden kennen sich schon von Down Under,<br />

wo der 1949 in New York geborene Besser seit<br />

1974 lebt, waren sich zuletzt aber 1996, während<br />

Pasks Zeit <strong>als</strong> Cantopopbegleiter in Hongkong,<br />

in Macao begegnet, <strong>als</strong> Besser mit den<br />

Triphonics auf Chinatour gewesen war. Der<br />

Pianist ist in seiner Wahlheimat ein profilierter<br />

Komponist, von Tangos bis zu Opern, und präsentiert<br />

mit dem Ensemble Bravura ein ‚Arts on<br />

Tour‘-Programm. Die Impressionen und Meditationen<br />

mit Pask frischen gegenseitig Erinnerungen<br />

auf an das ‚Auenland‘. Mit Titeln wie ‚Steam<br />

Engine Love Letter‘, ‚Dust Bunny Meditation‘,<br />

‚Coldwater Lightbulb‘ oder ‚Cloud Formation<br />

Microscope‘ kitzeln sie die Einbildungskraft, die<br />

alles Mögliche assoziieren kann, nur, von den<br />

52 erruptiven Sekunden von ‚Geosynchronous<br />

Hibernation‘ abgesehen, keinen Jazz. Allenfalls<br />

lässt Pask mal den Ausnahmetonfall von Lol<br />

Coxhill anklingen. Bessers Schachzüge und<br />

Tagträumereien sind ‚einfach Musik‘, sparsam<br />

und doch reizvoll durch das Wechselspiel markanter<br />

Anschläge mit gezielten Atempausen,<br />

exemplarisch bei ‚Chessboard Cowboy‘. Die<br />

Spaziergänger entwerfen Bilder, Landschaften,<br />

Stimmungen, und dann verschwinden sie darin.<br />

Wer ihnen gefolgt ist, muss sich fragen, ob er<br />

das alles selber träumt, oder ob er im Traum<br />

von jemand anderem gelandet ist.<br />

34<br />

pf MENTUM (Ventura, CA)<br />

Auf Sulphur (pfMENTUM CD046) präsentiert<br />

STEUART LIEBIG mit seinem Kammermusikquartett<br />

MINIM drei neue Kompositionen.<br />

Das dreiviertelstündige ‚Kaleidoscope‘<br />

besteht aus 23 auf Haikus basierenden<br />

Miniaturen. ‚The Cherry Blossom Is<br />

Only Perfect When It‘s Falling From The<br />

Tree‘ ist ein harmonisches Palindrom aus<br />

13 Teilen in einem durchgehenden Satz<br />

und operiert dabei mit Terzinen, dem von<br />

Dante erfundenen Terza Rima-Reimschema<br />

a-b-a, b-c-b, c-d-c, d-e-d. Das kurze<br />

Quasirequiem ‚Necrological Pieties‘, für<br />

eine Choreographie geschrieben, hat seinen<br />

Titel von J.L. Borges entliehen. In Minim<br />

begegnet man erneut Andrew Pask an<br />

Klarinette & Bassklarinette, Sara Schoenbeck<br />

spielt Fagott, Brad Dutz Marimba,<br />

Percussion & Drums und der Composer<br />

selbst ist an seinen, zum Teil präparierten<br />

Kontrabassgitarren zu hören. Liebig<br />

macht die ‚Kaleidoscope‘-Miniaturen betont<br />

transparent und, der Haikupoesie<br />

entsprechend, frei von allem Überflüssigen,<br />

indem er die Vierstimmigkeit immer<br />

wieder ausdünnt. Der Klangfächer<br />

wird gebunden durch die Bass- und Kontrabasstonlagen,<br />

die oft holzigen Percussiontupfer,<br />

das schnarrende Röhren des<br />

Fagotts, das Schoenbeck selten in die Tenorlage<br />

aufhellen darf. Drei- & vierstimmige<br />

Momente wie XI und gleichzeitig quicke<br />

wie XII, XIII oder XVI wirken prompt opulent<br />

und übermütig. Mimin komplett, wie bei<br />

XIV, XVIII oder XXIII, ist fast schon Artrock.<br />

Der Gesamteindruck ist der einer originellen<br />

Simplizität, einer skurrilen Nyktophilie<br />

mit einer Vorliebe für die 17 (den 5-7-5<br />

Moren eines Haiku) und den sprunghaften<br />

Humor eines Kobayashi Issa. Eine sprung-<br />

und geräuschhafte Pointillistik bestimmt<br />

auch den Charakter der pietätischen Miniatur.<br />

Der Tod schleift seine Sense, die<br />

Uhr tickt, die Noten tropfen von Stimme zu<br />

Stimme. Diesen Effekt nutzt Liebig auch<br />

zum Auftakt des Kirschblütenstücks und<br />

setzt dann die Terza Rima-Spirale in Bewegung,<br />

durchwegs animiert. Der Minim-<br />

Ton und Liebigs Konzept verschütteln die<br />

66 Minuten miteinander zu einem einzigen<br />

Sulphur-Kaleidoskop. iTunes spielt schon<br />

die ganze Zeit ein Bisschen at random und<br />

ich merke es erst jetzt.


psi records (London)<br />

Music from ColourDome (psi 07.01) führt die Imagination in die<br />

‚Fabulous Sound Machines‘, die der Eyemusic-Artist Peter Jones<br />

mit seinen aufblasbaren bunten Röhren und Kuppeln erschaffen<br />

hat, zusammen mit dem Liveelektroniker LAWRENCE CASSER-<br />

LEY und dem Flötisten SIMON DESORGHER, die sie beschallen.<br />

Auch schon hierzulande, in Kaiserslautern 2001 oder in Köln<br />

2006. Seit Ende der 80er ziehen die beiden bereits mit ihrer Music<br />

in Colourscape durch die Lande und organisieren Colourscape<br />

Music Festiv<strong>als</strong>, zu denen sie befreundete Künstler einladen wie<br />

Evan Parker mit seinem Sopranosaxophon, den Geiger Philipp<br />

Wachsmann oder den Elektroniker David Stevens. So geschehen<br />

zum ColourDome in Exeter, wo vorliegende Einspielungen im Juli<br />

2006 entstanden sind. Sowohl der im Kontext mit Psi-Macher Parker<br />

bereits mehrfach begegnete Casserley <strong>als</strong> auch Stevens verwenden<br />

nur Instrumentalklänge <strong>als</strong> Livesamples, wobei Casserley<br />

mit ‚drum-pad controlled delay lines and frequency shifters‘ operiert,<br />

während Stevens Processing auf Granulation und real-time<br />

sequencing basiert, wobei seine Sensoren sogar durch die Körperbewegungen<br />

der Musiker beeinflussbar sind. Und natürlich<br />

auch Geräusche von außerhalb der Gummiwände und von Passanten<br />

mit einfangen. Nur die Farben muss man sich noch selber<br />

einbilden. Da Casserleys Zwitschermaschinenspeicher mit Flöten-,<br />

Geigen- und Sopranosounds gespickt sind, hört man ‚Parker‘ oder<br />

‚Wachsmann‘ auch, wenn sie nicht persönlich mitmischen. Insofern<br />

könnten selbst die Duos von sich sagen: Wir sind viele. Nicht<br />

wirklich vermittelbar ist freilich die räumliche, farbliche, sinnliche<br />

Dimension. Aber es gibt schließlich auch Telefonsex. Hier gibt es<br />

quick zuckende und wischende Klangschraffuren zu hören, permanent<br />

und eifrig morphende Frequenzbänder einer aus Flöte,<br />

Geige etc. destillierten Sonic Fiction, Kammermusik aus der Zukunft,<br />

die längst begonnen hat.<br />

La lumière des pierres (psi 07.02) führt einen in die Kappelle zum<br />

Guten Hirten nach Montréal, wo es im Rahmen der Konzertreihe<br />

‚Innovations‘ zur Begegnung des Klarinettisten FRANÇOIS HOU-<br />

LE und von EVAN PARKER mit BENOIT DELBECQ am präparierten<br />

Klavier gekommen war. Der Pariser Pianist hat sich Mitte<br />

der 90er mit The Recyclers (w/ Akchôté & Argüelles) profiliert und<br />

dabei auch einigen Eindruck auf Houle gemacht, woraus dann<br />

zwei Duoeinspielungen für Songlines resultierten. Houle, der mit<br />

seinem kanadischen Quintett eine eindrückliche Aufnahme für<br />

Between The Lines gemacht hat (Cryptology, 2000), ist ein starker<br />

Vertreter der, wenn man so will, ‚europäischen‘ Schule und Parker<br />

beschränkt sich neben ihm ausschließlich auf sein Tenorsax, was<br />

ich <strong>als</strong> Zeichen des Respektes auffasse. Und außerdem erweitert<br />

es das Klangspektrum. Dem hellen Sonnen- und Mondlicht der Titel<br />

stellt Parkers Tenor das Gewicht von Steinen entgegen, etwas<br />

Raues und Schartiges. Dazu kommen die Splitter, die Delbecq aus<br />

seinen Tasten meiselt, meist mit Bedacht wie ein Bildhauer, der<br />

mit Marmor arbeitet, aber sporadisch rüttelt er auch Kies im Pianokasten<br />

hin und her. Nur zeigen die drei Klangbilder ‚stone<br />

through sunlight‘, ‚moonlight through stone‘ und ‚stone on stone‘,<br />

dass Stein Licht speichert und selber lichthaft wird und dass andererseits<br />

auch Licht bricht. Die Gegensätze werden leicht und<br />

flüchtig, wie Staubpartikel, die im Licht tanzen. Wenn Houle ganz<br />

hoch und hell pitcht, muss man die Augen zukneifen. Parker wiederum<br />

spielt gern den Demosthenes, der mit Kieselsteinen im<br />

Mund gegen sein Stottern angeht und über die Meeresbrandung<br />

hinweg seine Philippiken deklamiert.<br />

35


<strong>BA</strong>RK! formierte sich 1991 in Manchester<br />

<strong>als</strong> Kollaboration des Stock, Hausen & Walkman-Mitbegründers<br />

Rex Caswell (an der E-<br />

Gitarre) mit dem Perkussionisten Philip<br />

Marks, der seit 1995 auch im Grew Trio<br />

agiert. 1999 kam der von Furt her bekannte<br />

Knöpfchendreher Paul Obermayer dazu, der<br />

mit seinen Samples das Bark!-typische bruitistisch-quecksilbrige<br />

‚Pollocking‘ kongenial<br />

komplettiert. Je weiter man aber in Contraption<br />

(psi 07.03) hinein taumelt, desto undurchsichtiger<br />

wird das Ganze. Das Plinkplonking<br />

mit Stricknadeln, Stöckchen oder<br />

Krimskrams, das ist Marks, die knurpsigen<br />

Mad Movie-Sounds, die kommen vermutlich<br />

von Obermayer, aber was heißt hier E-Gitarre?<br />

Sie geistert <strong>als</strong> Phantom in der Rappelkiste<br />

herum, <strong>als</strong> schnurriges, blinkendes, zirpendes<br />

Psi-Phänomen. Wer es spleenig mag,<br />

der kommt hier garantiert auf seine Kosten,<br />

insbesondere, wenn er ein Faible hegt für<br />

nervöse Tics oder polymorph-perverse<br />

Heimlichkeiten unterhalb der Grasnarbe.<br />

Musik für Köpfe, die schon mit ihrer Buchstabensuppe<br />

das Scrabblen anfingen und<br />

kryptische Hinweise herauslesen, dass die<br />

Welt vertrackter und das Leben übler ist, <strong>als</strong><br />

Eltern ihren Kindern gegenüber zugeben<br />

möchten. Mr. Pointy, übernehmen Sie!<br />

36<br />

Auf dem FREE ZONE APPLEBY 2006<br />

(psi 07.04) hatten sich Paul Rutherford,<br />

Evan Parker, Rudi Mahall, Philipp Wachsmann,<br />

Alexander von Schlippenbach, Aki<br />

Takase und Paul Lovens zu 5 ‚Favourite<br />

Fruit Trios‘ und 4 ‚Favourite Fruit Duos‘<br />

formiert, benannt nach einem Gemälde<br />

des Psi-Hofmalers Phil Morsman. Einmal<br />

bekommt man sogar einen Vierling aus 4<br />

älteren Buben auf die Pokerhand: R + P + S<br />

+ L. Anders gesagt, die Klänge von Posaune,<br />

Soprano- oder Tenorsaxophon, Bassklarinette,<br />

Violine + Electronics, 2 Pianos<br />

und Drums mischen sich zu einem Best of-<br />

Plinkplonk-Kaleidoskop, mit Takase &<br />

Schlippenbach <strong>als</strong> Pianopärchen zum Abschluss.<br />

Dem gehen derart facettenreiche<br />

Improvisationen voraus, dass, ob für abgebrühte<br />

Kenner oder neugierige Anfänger,<br />

alle Perspektiven zu Entdeckungen führen.<br />

Man kann der Spur der Klaviere folgen in<br />

ihrer jeweiligen Handschrift, oder viermal<br />

über Lovens und sein Geklapper staunen.<br />

Keine Vermutungen möchte ich jedoch anstellen,<br />

warum das Duett von Wachsmann<br />

und Takase keine 4 Minuten dauert und<br />

warum er auf dem Gruppenbild mit Dame<br />

derart Sicherheitsabstand zu ihr hält und<br />

Madame dabei fast den Rücken zudreht.


Wie schon beim George Lewis-Projekt Sequel für das NEWJazz<br />

Meeting 2004 gab der SWR2-Jazz-Redakteur Reinhard Kager<br />

auch den Anstoß für die spin networks (psi 07.06, 2 x CD) von<br />

fORCH beim Meeting 2005. Kagers Vorliebe für Grenzüberschreitungen<br />

zwischen Improvisation, Komposition und Elektronik hat<br />

nicht nur etwa das Otomo Yoshihide Quartet nach Donaueschingen<br />

gebracht, er regte auch das Electro-Duo Furt (Richard Barrett<br />

& Paul Obermayer) dazu an, sich mit John Butcher (soprano &<br />

tenor saxophones), Rhodri Davies (harps), Paul Lovens<br />

(percussion), Wolfgang Mitterer (prep. piano & electronics) und<br />

den Vokalisten Phil Minton & Ute Wassermann zu einem<br />

‚Orchester‘ auszudehnen. Das Projekt sprengte prompt alle Dimensionen,<br />

so dass die prallen 146 Min. vorerst nur 2/3 ausmachen<br />

(das dritte folgt demnächst <strong>als</strong> equ<strong>als</strong>). Furt zapft einerseits<br />

die neuen KollegInnen <strong>als</strong> Klangquellen an. Andererseits sind in<br />

die voluminösen Oktettblöcke kleinere Verbindungen eingefasst,<br />

ein Duo von Davies & Wassermann, zwei Furt-Trios mit Minton bzw.<br />

Mitterer <strong>als</strong> drittem Mann und zwei elektrofreie Quartette, ein<br />

stimmloses und eins mit Minton & Wassermann. Den Oktetten liegen<br />

16 ‚basic improvisational models‘ zugrunde und entsprechende<br />

Proben. Statt eines bloßen Ad hoc-Jams steuert <strong>als</strong>o, ähnlich<br />

wie bei Mitterers 2002 in Donaueschingen aufgeführter elektroakustischer<br />

Collage Radio Fractal / Beat Music für 7 Improvisatoren<br />

und 8-Kanal-Tonband, der Versuch das Geschehen, Automat<br />

und Physis, Computerspeicher und Spontaneität kreativ zu<br />

verschalten. Das fORCHT‘sche Orchestrion <strong>als</strong> ‚Organische Konstruktion‘<br />

konstituiert sich durch Parameter wie ‚temperature‘ und<br />

‚pressure‘ und <strong>als</strong> ‚nekton‘, ‚plankton‘ oder Spinnennetz bio-metaphorisch.<br />

Die Klangwucherungen und Elektronenflüsse, abwechselnd,<br />

meist aber gleichzeitig fraktal, algorithmisch und biomorph,<br />

klingen entsprechend fiebrig, dicht, verwirbelt oder mild, entropisch.<br />

Mit den Vokalismen <strong>als</strong> Geist in der Maschine und speziell<br />

Minton in seinem Element. Caliban meets Cybertech in einem bizarren<br />

Total Music Meeting. Der Grad der Integration ist dabei<br />

ebenso erstaunlich wie die Klangoberfläche schillernd und prismatisch.<br />

Wenn Bark sich Bark! schreibt, dann fORCH mindestens<br />

fORCH!!!!!!!!<br />

Hook, Drift & Shuffle (psi 07.07), ein Livemitschnitt von EVAN<br />

PARKER, GEORGE LEWIS, <strong>BA</strong>RRY GUY & PAUL LYTTON vom<br />

4.2.1983 in Brüssel, hat die LP Incus 45 am Haken. Einen dicken<br />

Fisch, dem Meer des Vergessens entrissen. Nicht einmal überkritische<br />

Nasen werden daran Es war einmal-Geruch wittern. Die<br />

Scheibe, in der sich Parkers Erfahrungen in den Zwiesprachen mit<br />

Lytton (seit 1971), mit Lewis 1980, mit Guy (seit 1981) und im<br />

Parker/Guy/Lytton Trio (seit 1983) verzahnen, hat in allen Aspekten<br />

das Format des Zeitlosen. Dem Brüsseler Konzert im Februar<br />

zu viert war nur die Tracks-Studiosession im Januar voraus gegangen.<br />

Es gab somit Vertrautheiten und gleichzeitig den Reiz von<br />

etwas noch relativ Neuem, der durch Lewis durch Devices und<br />

von Guy durch Electronics noch zusätzlich gekitzelt wurde. Tatsächlich<br />

wird man dazu verführt, meist zu vergessen, dass Lewis<br />

Posaune spielt, so geräuschhaft ist sein Zuspiel, das von Guy mit<br />

Allem, nur nicht gewöhnlicher Pizzikato- und Arcotechnik<br />

durchwebt wird, während Lytton mit Cymb<strong>als</strong>, Gongs, Woodblocks<br />

und ebenfalls Verstärkung anstelle einer perkussiven oder gar<br />

rhythmischen die bruitistische Seite hervor kehrt. Wer ein Missing<br />

Link der Energy Play-Linie sucht, wird auch diesen Moment finden.<br />

Aber eigentlich ist Incus 45 ein Vorläufer und Evolutionsschritt<br />

der Impro-Bruitistik mit extremen, mehr <strong>als</strong> einmal schmerzhaft<br />

schrillen Spitzen ins Diskante und genüsslicher Wühlarbeit am<br />

Fundament, auf dem die abendländische Wohltemperiertheit ruht.<br />

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RuneGrammofon (Oslo)<br />

Der Bassist Eivind Opsvik stammt ursprünglich aus Oslo, lebt aber seit 1998 in New<br />

York und ist dort mit seinem eigenen Projekt Overseas (w/ Kenny Wollesen, Craig<br />

Taborn, Jacob Sacks & Tony Malaby) zugange und daneben noch in Dave Binney's<br />

Out of Airplanes oder mit Tone Collector und mit Rocket Engine spielt er sogar<br />

Black Sabbath-Kracher, „in an effort to find the missing link between early heavy<br />

metal and free jazz.“ Commuter Anthems (RCD2062)<br />

zeigt ihn erneut zusammen mit Aaron Jennings, einem<br />

Gitarristen, den es von Tulsa nach New York gezogen hat<br />

und der mit Opsvik auch noch in Hari Honzu groovigen<br />

Nowjazz spielt. OPSVIK & JENNINGS werden bei ihren<br />

handkolorierten Träumereien noch unterstützt von Rich<br />

Johnson an der Trompete und Ben Gerstein, einem Posaunisten<br />

mit einer denkwürdigen MySpace-Visitenkarte.<br />

Aber je mehr ich aufzähle, desto weiter drifte ich ab von<br />

der Simplizität der so smooth dahin fließenden ‚Pendler-<br />

Hymnen‘. Die wird man wohl <strong>als</strong> Folktronic oder Easy Listening<br />

etikettieren dürfen, wenn man im gleichen Atemzug<br />

die Software und die Sophistication erwähnt, die dafür<br />

aufgewendet wurden. Ganz entspanntes und federleichtes<br />

Postrockdrumming, Dadada-Singsang, Banjo,<br />

Concertina, Lap Steel- und Thereminwellen, ein Piano<br />

oder Percussion, die wie Spieluhren ticken, liefern feine Farbtupfer, einen Hauch<br />

von Country oder Hawaii, Melodienseligkeit in Exoticagefilden, der Van Dyke Parks-<br />

Bläser zwei-, dreimal einen fast wirklich hymnischen Schwung verleihen. Dann<br />

streicht Opsvik auf seinem Bass wieder mollige Töne, die Stimmung am ‚Silverlake‘<br />

oder der ‚Lorinda Sea‘ wechselt mit den Wolken. ‚Ways‘ schwelgt in Harfenarpeggios<br />

und Streicherschmelz, bevor trockene Banjozupfer zu einem schlaffen Posaunentrott<br />

abbiegen und ‚I‘ll scrounge along‘ anschließend sogar in einen Trip-<br />

Hopgroove verfällt. Aber vielleicht sollte ich gar nicht soviele Worte machen, um<br />

diese Musik nicht aus ihrer Tagträumerei aufzuschrecken.<br />

Mit Amateur (RCD2063) legen Dag-Are Haugan & Espen Sommer Eide ihre bereits<br />

vierte Scheibe aufs Rune-Grammofon. Ihren ALOG-Erstling Red Shift von 1999 fand<br />

ich kürzlich second-hand, Duck-Rabbit (2001) und Miniatures (2005) vertieften inzwischen<br />

noch ihre spezielle Mischung aus organischer Electronica und handishem<br />

Gekruspel mit Found Objects und Selbstbauklangerzeugern. Der Ansatz ist in doppelter<br />

Hinsicht minimalistisch, <strong>als</strong> Arte Povera mit immer<br />

wieder repetitivem Duktus. ‚Exit virtuoso‘, Hallo simplicity.<br />

Der Cellist Nicholas H. Mollerhaug mischt mit, wie auch<br />

schon bei Sommer Eides Phonophani, explizit mit Vocoder-Singsang,<br />

aber ansonsten ebenso undefiniert wie<br />

Alog selbst. ‚Son of king‘ zum Auftakt gibt in seiner hingeklimperten<br />

Pascal-Comelade-istik die abgespeckte und<br />

verspielte Richtung vor, die ‚a throne for the common<br />

man‘ mit perkussivem Gedonge und monotoner Schrammelgitarre<br />

stoisch fortsetzt. Animal-Collectives Freakdom<br />

ist gleichzeitig der Weg und das Ziel. Romantisch? Der A<br />

capella-Song ‚Write your thoughts in water‘ spielt immerhin<br />

auf Keats an. SOPHISTICATION wird, wenn auch nur<br />

auf Wasser, definitv groß geschrieben. Dafür sprechen<br />

Titel wie ‚a book of lightning‘, das ausnahmsweise dröhnminimalistisch<br />

schimmert, ‚the future of norwegian wood‘ (es wird gehackt, geknarrt,<br />

genagelt und gesägt), ‚bedlam emblem‘ und das ppp-Pssst bei ‚sleeping instruments‘.<br />

Gefolgt vom mechanischen, thereminumjaulten Gamelan-tingtingtingtingtingting<br />

von ‚the beginner‘. Schon ab diesem Town & Country-Derivat und erst<br />

recht ab dem freakish angetwangten ‚the learning curve‘ oder der melancholischen<br />

Glockenspielmelodie von ‚exit virtuoso‘ kann man mich zu den Alog-Bekehrten zählen.<br />

Um Bedlam braust ein Sturm, der Flötenklänge mit sich reißt. Die Freaks sind<br />

längst ausgeflogen und haben sich unter uns gemischt.<br />

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Obwohl beide erst Mitte 20, spielen Anders Hana & Morten J. Olsen schon<br />

10 Jahre zusammen. In Stavanger macht man das so. Mit Norwegianism<br />

(RCD2064) haben sie nun aber die Parole ihres MOHA!-Vorgängers Raus<br />

aus Stavanger in die Tat umgesetzt, die Einspielung entstand in Genf, engineered<br />

wurde sie in Berlin, das Mastering erfolgte in Bergen, Kim Hiorthøys<br />

Cover zeigt eine asiatische Schönheit in MoHa!-Ekstase.<br />

Schon mit den ersten Riffs von Hanas Gitarre<br />

und Olsens supercollider3-frisiertem Drumming<br />

leuchtet einem ihre Verzückung auch unmittelbar<br />

ein. So rasant und diskant ist selbst NorWave nicht<br />

alle Tage. Beim Knallfrosch-Doppelschlag ‚Gay‘ sind<br />

wir bereits bei den Tracks 5 & 6 und noch keine 9<br />

Minuten um. Schroff und splittrig fliegen die Fetzen,<br />

Hana lässt sein Casio detonieren, eine Drum Machine<br />

sich selber überschlagen. An ‚Entry One‘ würden<br />

sich andere die Finger verbrennen, hier ist der<br />

weißglühende Strich in der Landschaft eine quasi<br />

ambiente Atempause. ‚Entry Two‘ ist dann nur noch<br />

<strong>als</strong> Spuren subatomarer Partikel wahrnehmbar, bevor<br />

‚Home Four‘ wieder die Ohrenschraube fester<br />

zieht und die Wände mit Wasauchimmer bespritzt.<br />

Nur von Lightning Bolt habe ich bisher Ähnliches gehört.<br />

Mit der stillen Gedenkminute ‚Jolly One‘ (White<br />

Guilt Fills The Room)‘ verbeugt sich MoHa! vor den Wegbereitern ihrer Door-die-Zuckungen<br />

- Napalm Death, Yamatsuke Eye, Squarepusher... Als Höhepunkt<br />

dann der epische Zwilling ‚Ibiza One & Two‘, 6:50 & 5:30, ersteres<br />

auf Naked City-Wellenlänge entschleunigt, Letzteres ein manisches Punktschweißen<br />

in Zeitraffer, elektrisches Gepratzel zu perkussiven Detonationen<br />

und Ricochets. Mir bleibt die Spucke weg.<br />

Hana & Olsen befeuern auch das Jazzcorequartett ULTRALYD, das, von<br />

Altmeister Frode Gjerstad mit initiiert, inzwischen zum Schwelbrand geworden<br />

ist, nicht zuletzt dank der Kohlen, die der Noxagt-Bassist Kjetil D.<br />

Brandsdal nachschaufelt. Die Saxspitze bildet nun der 1976 in Bergen geborene<br />

Kjetil Møster, der schon mit Steinar Raknes The Core, dem MZN3 (Z<br />

wie Zanussi, N wie Nordeson) und seinem K. M. Sextet<br />

aus MZN3 + Hana, Olsen & Håker Flaten Freejazz<br />

auf norwegisch buchstabiert. Conditions For A Piece<br />

Of Music (RCD2065) hört sich schon vom Titel her<br />

anders an <strong>als</strong> Kick out the jams oder Full Blast. Wie<br />

der H<strong>als</strong> eines Untiers, dem der Held den Kopf angeschlagen<br />

hat, hat Ultralyd zu wuchern begonnen und<br />

bildete Saprochords, Comphonien, Pentassonanzen<br />

und andere musikalische Imperative aus. Statt Noiserock<br />

und Powerjazz erklingen rätselhafte Träumereien<br />

(‚Pentassonance II‘), seltsam gebundene rockige<br />

Repetitionen, umsponnen von abschweifenden,<br />

teils auch verfremdeten Saxophon- (‚Low Waist‘)<br />

oder Gitarrenklängen (‚Comphonie V‘). ‚Débitage‘<br />

verblüfft dann <strong>als</strong> kakophones Puzzle aus Plinkplonk,<br />

Drones und Musica Nova, deren Horizonten sich<br />

auch das von Olsen allein komponierte Titelstück annähert.<br />

Peter van Bergens Loos oder Kompositionen von Alex Buess setzten<br />

sich ähnlich zwischen die Stühle. Strenger Duktus, bei ‚Figurae‘ sind es<br />

Sax‘n‘Drum-Loops, aber ‚schmutziger‘ Klang, urige E-Bassriffs, rockiger<br />

Schub, diskante Gitarrentöne in Etudes Australis-Aleatorik. ‚Comphonie IV‘<br />

verfällt in träge Zeitlupenbewegungen, die sich bei ‚Pentassonance I & III‘<br />

noch weiter verlangsamen <strong>als</strong> über den Sternenhimmel verstreute Tupfen,<br />

wobei Olson meist nur sein Vibraphon pingt. Der Bass versinkt in Abgründe,<br />

das Saxophonröhren ist bis zur Unkenntlichkeit geronnen, die Musik<br />

insgesamt ein melancholisches Brüten darüber, was einem am Ende der<br />

Milchstraße erwartet.<br />

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7HINGS music (Edinburgh)<br />

Von Seven Things <strong>als</strong> Forum für exklusive mp3-<strong>Download</strong>s war bereits in <strong>BA</strong> 51 die<br />

Rede anlässlich von KOJI ASANOs Live in Glasgow, der 3. Veröffentlichung einer im<br />

März 2006 gestarteten Reihe, die inzwischen anderthalb Dutzend Angebote umfasst.<br />

Den Auftakt machte CHARLEMAGNE PALESTINE mit The Golden Mean, recorded live<br />

at the Music Lover‘s Field Companion Festival May 2005 in Gateshead. Chaim Moshe Tzadik<br />

Palestine spielte dabei zwei Pianos gleichzeitig wie andere Leute Doublebassdrum. Er<br />

wird manchmal <strong>als</strong> Minimalist geführt, aber nichts ist irreführender. Das Unikum aus<br />

Brooklyn ist ein Maximalist vor dem Herrn, der mit ausdauernd repetitivem Gehämmer<br />

die Welt erschüttert und Obertöne zum Schwingen bringt. So auch in Gateshead. Die aus<br />

den Pianos aufsteigenden Klänge ähneln eher dem Läuten von Alarmglocken und gehören<br />

zu den markantesten im musikalischen Pluriversum.<br />

Auf dem gleichen Festival wurde Nmpering Live mitgeschnitten. Das Duo NMPERING<br />

aus Bhob Rainey und Greg Kelley machte zurecht Furore in der Improszene durch seine<br />

Geräuschhaftigkeit, die ebenso radikal wie virtuos ihre Quellen, einfach nur Saxophon<br />

und Trompete, verwischt und einen oft zweifeln lässt, wie das alles ohne elektronische<br />

Hilfsmittel zugehen kann. Dieses spuckige, gepresste Zischen, dieses spukige Fauchen<br />

oder Knurren lassen alle Vorurteile gegen Plinkplonk vergessen. Hören wird unmittelbar<br />

zum gespannten Lauschen, zum Staunen, zum Abenteuer. Was wird sich in den nächsten<br />

Sekunden aus der Stille heraus schälen? Welcher Geist will sich hier manifestieren? Das<br />

ist gleichzeitig gothic und spiritualistisch.<br />

Magnetic Migration Music beschert mir meine erste Begegnung mit der schottischen<br />

Künstlerin ZOE IRVINE. Aus dem Mitschnitt einer Liveperformance mit Mark Vernon<br />

(Vernon & Burns, Hassle Hound) mischte sie einen neuen Soundtrack. Stoff lieferten ihr<br />

Tonbandschnippsel aus ihrem Found-Sound-Archiv, für das sie lose Bänder aus der ganzen<br />

Welt aufsammelte und wieder aufspulte. Nach einem dramatischen Opernauftakt<br />

wird der Trip über eine imaginäre Geographie aus Sprache und Sound surreal und märchenhaft.<br />

Irvine, zurecht verliebt in das Patina ihrer Fundstücke, schnitt und klebte, manipulierte<br />

die Geschwindigkeit und setzt so einen ebenso selt- wie unterhaltsamen Erzählstrom<br />

in Gang, 4/5 Musique concrète, 1/5 Hörspiel, zwar ohne die Tapebeatles-Verjuxtheit,<br />

aber dafür mit einem pathetischen Finale aus Allah ou akbare und ‚The Windmills<br />

of Your Mind‘.<br />

Gleich noch toller ist das Rebetika-Projekt der Unsounds-Partner YANNIS KYRIAKI-<br />

DES & ANDY MOOR. Aus alten Rembetiko-Scheiben, Computer- und Gitarrensounds<br />

lassen der zypriotische Elektroakustiker, der mit conSPIracy cantata, Spinoza (or I am<br />

not where I think myself to be), The Buffer Zone und Wordless in <strong>BA</strong> vorgestellt wurde,<br />

und der Londoner, seit 1990 von Amsterdam aus operierende Gitarrist einen alten europäischen<br />

Blues neu entstehen. Moor hat von seinem The Ex-Mutterschiff längst Explorerkapseln<br />

in unerschlossenes Gebiet ausgesandt, Kletka Red in Richtung Klezmer-Punk,<br />

Thermal (mit den Copiloten John Butcher & Thomas Lehn) in Richtung Free Impro, mit DJ<br />

Rapture bricht er in negrophonische Worldbeat- und Sampladelixzonen auf. Hier improvisiert<br />

er zur haschischumnebelten Emigrantentristesse der 1922 aus Kleinasien Vertriebenen,<br />

den schellackkonservierten Gesängen und Bouzoukiklängen, die Kyriakides knurschig<br />

rotieren lässt und elektronisch umspinnt. Migration Music zeigt ihre dunkle Seite.<br />

PETER DOWLING ist ein Elektroakustiker in Glasgow von einigem Renommee. Für<br />

Don‘t Touch Me! (I Hate You Sometimes) ließ er, live auf dem Le Weekend Festival 2005 in<br />

Stirling, aus Knacksern und dem Brummen eines Gitarrenverzerrerped<strong>als</strong> sein dröhnminimalistisches<br />

Noli me tangere entstehen, das lange wie von einer Totenuhr durchklopft<br />

wird. Das Klopfen wird zum Furzeln, das Brummen schwillt immer mehr an und wandert<br />

wummernd durch den Raum. Das Gefurzel beschleunigt zu trippelnden und kullernden<br />

Kobolden, zu platzenden, prasselnden Detonationen. Und in den zweiten 11 Minuten wird<br />

es erst richtig bewegt, mit Pustegeräuschen, mehreren motorischen Störsendern, zunehmend<br />

hektisch durcheinander laufenden Pulsen von unterschiedlicher Frequenz,<br />

plötzlich sogar streitenden Stimmen. Der Puls schlägt bis zum H<strong>als</strong>, die Nebennieren<br />

pumpen Adrenalin und nur mit Mühe kriegt Dowling seinen Stress wieder in den Griff.<br />

40


Der DJ, Komponist und Sounddesigner Dan Williams, der unter dem nom-de-disque<br />

VINTAGE 909 operiert, hat sich vor allem <strong>als</strong> musikalischer Direktor von Anton Adassinskis<br />

Tanzkompanie Derevo in Dresden einen Namen gemacht. Sein Soundtrack Scanning<br />

zeigt oberflächlich einige Gemeinsamkeiten mit Dowlings Don‘t Touch Me!, ein<br />

dröhnminimalistisches Mäandern, hintergründiges Pochen, verhuschte Stimmen. Aber<br />

nach 8 Minuten ist plötzlich alles anders, die Musik zerreißt zu Tonbandfetzen, die in<br />

‚f<strong>als</strong>cher‘ Geschwindigkeit eiern. Der 2. Satz kommt <strong>als</strong> dunkel atmende Brandung daher,<br />

mit flatternd gerippelter Oberfläche und einer von feinem Glockenspiel akzentuierten<br />

simplen, melancholisch angehauchten Orgelmelodie, die ganz allmählich zum Stehen<br />

kommt. Der 3. Teil variiert den melancholischen Grundton mit Orchesterfetzen, die<br />

unter schwarzen Segeln vorüber ziehen, von spitzen und dröhnenden Spuren umspielt.<br />

Das romantische Tristan-Pathos schwillt immer mehr an und hüllt das Gemüt in eine<br />

dunkle Wolke. Die Noise Culture erobert Bayreuth.<br />

Der allgegenwärtige baskische Provokateur MATTIN schockierte<br />

das Le Weekend Festival-Publikum 2006 mit Wrong Commodity. Anfangs<br />

stand Mattin im Dunkeln nur da und man hörte - außer einem<br />

Rummsen nach 3 1/2 Minuten - nichts <strong>als</strong> Grundrauschen. Oder<br />

was man bei einer extended Version von 4:33 eben hört. Nach 4:53<br />

dann - TERROR, WEISSES RAUSCHEN bis das Zahnfleisch blutet.<br />

Nach 14:09 Schnitt, so abrupt, dass man das innere Ahhh im Publikum<br />

nachhallen hört. Dann wieder Stille bis 27:14 - und nochmal<br />

HARDCORE MIT GEBRÜLL BIS ZUM ANSCHLAG, eine knappe Minute<br />

lang. Dann ist irgendwie Schluss und das Publikum klatscht und -<br />

ein Teil zumindest - lacht. Soviel zu Provokation und Terror 2006.<br />

MAX RICHTER lieferte mit seinem 52-minütigen From „The Art<br />

of Mirrors“ den vorerst längsten Beitrag zur 7hings-Reihe. Der<br />

deutsch-schottische Komponist, der mit Future Sound of London,<br />

Roni Size oder Vashti Bunyan auch schon seine Kompetenz auf<br />

populären Feldern zeigte, führte beim Le Weekend 2006 <strong>als</strong> Auftragswerk<br />

eine Musik auf, die zur Begleitung von Derek Jarmans<br />

Archiv von S8mm-Filmen der Jahre 1970-83 dient. Richter selbst<br />

spielte dabei Piano und Laptop, Louisa Fuller & Nathalie Bonner<br />

Violine, John Metcalfe Viola und Chris Worsey & Ian Burdge Cello.<br />

Mit diesem Stringensemble schwelgte Richter melancholisch-minimalistisch<br />

in Gefilden, die am Rande von Simon Fisher-Turner und<br />

Karol Szymanowski beschallt werden, im Zentrum aber von Michael<br />

Nyman und Wim Mertens. Ich kann mir nicht helfen, Richter klingt<br />

kitschig und epigonal und nur mein innerer Schweinehund findet<br />

sein Gefiedel trotzdem ganz nett.<br />

LUC FERRARI (1929-2005) starb, bevor er seine Auftragsarbeit für 7hings vollenden<br />

konnte. Das Werkverzeichnis führt das angedachte Werk <strong>als</strong> Dérivatif (Archives SM, est<br />

resté inachevé en 2005). In seinem Andenken spielte The Scottish Flute Trio sein<br />

Madame de Shanghai pour 3 flûtes et son mémorisé (1996) noch einmal ein, mit 15 Minuten<br />

den bisher kürzesten <strong>Download</strong> (10/06). Ferraris Reminiszenz an Orson Welles<br />

Film Noir The Lady from Shanghai mit Rita Hayworth <strong>als</strong> Femme fatale beginnt mit chinesischen<br />

Frauenstimmen, Gelächter, trappelnden Schritten, Popsongfetzen, bevor die<br />

Flötisten Haltetöne dazu anstimmen. Die Szenerie eines Großstadtrottoirs mit offenen<br />

Geschäften wird beibehalten, es werden Kontakte geknüpft, um Verständnis in mehreren<br />

Sprachen gerungen. Die Flöten intonieren dazu weiterhin Haltenoten und hübsche<br />

Zackenlinien. Gläser oder Glöckchen blinken dazwischen und immer wieder hört man<br />

‚Chinatown‘-Gesprächsfetzen. Dann plötzlich Schüsse und ein letzter Dialog, eine Chinesin<br />

mit unverständlichen Zischlauten und Orson Welles selbst <strong>als</strong> Michael O‘Hara, der<br />

immer wieder „Not again“ murmelt. Stark.<br />

Monat für Monat kamen inzwischen neue Arbeiten hinzu, von Alessandro Bosetti, John<br />

Butcher, Spring Heel Jack, Bill Thompson, David Fennessy, aktuell Neil Davidson und<br />

demnächst Ute Wassermann & Aleks Kolkowski. Mit der <strong>Download</strong>welt <strong>als</strong> solcher werde<br />

ich nicht so recht warm, aber die Musik ist von feinster Güte.<br />

41


TOCADO-RECORDS (Rotterdam)<br />

Keine Ahnung, wie die Tocado-Macher auf <strong>BA</strong><br />

gekommen sind. Sie stehen seit 1997 in Rotterdam<br />

ein für Blast-, Party- & Streetpunkrock, Hard-, Metal-<br />

& Emocore, Psychobilly und Jungsein, was eine<br />

gemeinsame Schnittmenge mit <strong>BA</strong> von Nullkommajosef<br />

ergibt. Doch halt, Acts wie Stöma oder Bruno<br />

and Robin schimpfen sich ‚avantgarde‘, Anderes<br />

wird <strong>als</strong> ‚alternative‘ oder ‚nu-wave‘ beworben.<br />

Hören wir einfach mal, was Sache ist:<br />

HARRY MERRY läuft unter Singer/Songwriter<br />

und die Songs seiner zweiten, nur 28-min. CD The<br />

Shunt (tocado 0043) gelten <strong>als</strong> ‚catchy‘. Vor allem<br />

hat Harry Merry einen Haarschnitt und einen Matrosenanzug,<br />

<strong>als</strong> ob er gerade mit Prinz Eisenherz<br />

gesegelt wäre. Knallige Op Art-Tapeten auf dem<br />

Cover geben seinen gesanglichen Eskapaden einen<br />

60s-Anstrich. Nichts Genuines, dafür sind die<br />

6 Songs zu meta, gleichzeitig käseorgel-trashig<br />

und sophisticated, grobmaschig und finessenreich,<br />

psychedelisch und parodistisch. So großspurig<br />

die Arrangements sind, so überkandidelt<br />

und rotznasig geben sich Harry Merrys Reim-dichoder-ich<br />

fress-dich-Lyrics: We sing and we swing a<br />

capella / Under the Venus-umbrella / With pictures<br />

of Barbarella / Her favourite magazine is Ella. So<br />

waren sie, die Swinging 60s, garantiert.<br />

Julie Scott ist die alleinige Songschreiberin und<br />

Sängerin von CAN_OF_BE. Zusammen mit dem<br />

Keyboarder Roeland Drost, der früher bei De Kift<br />

gespielt hat, einer Herman van Veen-Ausgabe von<br />

The Ex, mit Mark van Dijk an der Gitarre, Drummer<br />

Lesley Strik und Jaco van der Maarel am Bass<br />

dreht sie bei Don Quichot (tocado 0046) heftig an<br />

der Pathosschraube. Dabei werden Gefilde gestreift,<br />

die man mit Namen wie Patti Smith und PJ<br />

Harvey verbinden kann, aber nicht muss. Dass<br />

Scotts allenfalls mit Heroin überzuckerte Lovetroubles<br />

nicht bloß rammdösig Gitarrenwände<br />

hoch ziehen, dafür sorgt, neben weiteren irritierende<br />

Einsprengseln, mit Cello und Singender<br />

Säge Jan Willem Troost, der ansonsten mit Amago<br />

Tango spielt. Das verhalten beginnende ‚Mistletoe‘<br />

wirkt gerade <strong>als</strong> ein gedämpfter und depressiver<br />

Moment besonders eindringlich.<br />

Wie Dutch Metalcore klingt, das lerne ich kennen<br />

mit Stainless (tocado 0047). Darauf kompiliert<br />

sind mit When All Life Ends, Mindscan und<br />

Drainlife drei Rotterdamer Bands, dazu Return<br />

To Reason und Until We Bleed aus Amsterdam,<br />

Facewreck aus Delft, Dominator aus Den Haag,<br />

Last Breath Denied aus Lisse und See My Solution<br />

aus Zwolle, allesamt live. Kein Klischee<br />

wird ausgelassen, was sicher auch das Schöne<br />

daran ist, jung und laut zu sein. Etwas verschämt<br />

krame ich nach meinen seit 10 Jahren nicht mehr<br />

gehörten Grind-Crushern von Earache. Und bin<br />

beruhigt. Metalcore ist ein Thema mit Variationen,<br />

die gegen unendlich gehen. Unkaputtbar, wie Jazz,<br />

und was da etwas streng riecht, ist nur Gouda.<br />

42


Lushus: Sascha Hacska Merel Koning<br />

43<br />

Tocado 0050 wurde reserviert für<br />

die Nik Nok-7“ von STÖMA, dem Rotterdamer<br />

Drums & Bass-Duo von Wouter<br />

van Wijk & Bruno Xavier Ferro da<br />

Silva. Die beiden kennen sich gut aus<br />

DooDoo‘s Coffe, in The Must sind sie<br />

die Backup-Band von Harry Merry,<br />

Bruno ist daneben auch der Bruno neben<br />

Robin etc. etc. Nicht Lightning Bolt<br />

oder Raxinasky sind ihr Role Model. Sie<br />

ziselieren ihren Stoff verhaltener, Bruno<br />

singt den Titelsong, van Wijk bringt<br />

auf der instrumentalen, schallgedämpften<br />

B-Seite feine Effekte und<br />

Loops ins Spiel.<br />

Armand & Barry Hofstede und Henk<br />

Jan Hoekjen haben sich in Heerde, einem<br />

Kaff in Nordostholland, vor 6 Jahren<br />

zusammengetan zu THE STILET-<br />

TOS. Zum fetzigen Upbeat von<br />

Hoekjens Fender Telecaster und dem<br />

krachigen Rock‘n‘Roll-Drumming seines<br />

Bruders spuckt Armand wie aufgedreht<br />

wilde Zeilen ins Mikro. Ihr testosteron-gepeitscher,<br />

tuffer 60s-Beat, in<br />

den Garagenjahren durchlauferhitzt,<br />

klingt auf Stimulusblackboxresponse<br />

(tocado 0051) immer noch fast wie<br />

ernst gemeint.<br />

Im Kontrast dazu bestehen die SUI-<br />

CIDAL BIRDS aus Jessie & Chay und<br />

einer Drummachine. Jessie schrubbt<br />

Gitarre und schrei-kräht, Chay spielt<br />

Bass. Versus Life (tocado 0052) ist das<br />

zweites Lo-Fi-Manifest der friesländischen<br />

Riot Grrrls, deren Lieblingswort<br />

No ist: No Nada, No Way, No Fun No Art,<br />

No Use, No Summer, No Light. Jessie<br />

verwandelt Neil Youngs ‚Into the Black‘<br />

in ein perfektes Patti Smith-Statement.<br />

Mit dem 5 Min.-Epos ‚Sensible Sinners‘<br />

sprechsingt sie sich in die Liga der<br />

Denkwürdigen. Auch musikalisch nicht<br />

auf eine Masche beschränkt, da muss<br />

man nur zu ‚Salt Sugar‘ springen, zählen<br />

die Suicidal Birds definitiv zu denen,<br />

die bei ihren Selbstmordattentaten<br />

an der Genderfront auf mein Sympathisantentum<br />

rechnen können.<br />

LUSHUS schließlich knüpft mit Big<br />

Fat Man (tocado 0054, 7“) verblüffend<br />

originalgetreu an Postpunk- und Proto-<br />

Riot Grrrls wie The Slits oder Liliput an.<br />

Merel Koning & Sascha Hacska spielen<br />

beide Bass und singen von Bierbauchtypen<br />

oder fragen nach irgend<br />

einem Grund, es länger mit einer<br />

selbstsüchtigen Kreatur auszuhalten.<br />

Jorg van der Plank klopft und tickelt<br />

dazu die Beats. Sowas Freches finde<br />

ich wunderbar!


TOSOM (Memmingen)<br />

Durch die Wüste mit Tosom. Desert Space (TOSOM 025, 3 x CD-R), das sind Dünen,<br />

die sich bis zum Horizont wellen, ein Sonnengong, der alles Denken und<br />

Fühlen durchbebt, Eintönigkeit, Wind und Sand <strong>als</strong> das einzige, das dort billig ist.<br />

Antonio Amoroso hat Erfahrungsberichte zusammengestellt von Expeditionen<br />

und Durststrecken durch ganz unterschiedliche Wüsten. Einige davon Outer Space,<br />

<strong>als</strong> Driften in gähnender, sternenstaubiger Unendlichkeit, andere beginnen<br />

gleich vor der Haustür. Bei ‚Apathie Im Supermarkt‘, dem seligen Seufzer von<br />

Seppuku Boogie über soviel Sand im Sonderangebot, ist sogar der Humor trocken.<br />

Davor hatten sich Halo Manash (unter dem Auralhypnoxdach im finnischen<br />

Oulu zuhause), N.Strahl.N (Mario Löhr), Tardive Dyskinesia, Feu Follet<br />

(Tobias Fischer in Münster), Aidan Baker aus Toronto und Roy-Arne<br />

Knutsen im steinigen Norwegen auf den Weg gemacht, eine Karawane aus Einzelgängern,<br />

mit ausgetörrten Kehlen, müden Füßen, zähem Durchhaltewillen,<br />

durch Halluzinationen desorientiert und im Wahn bestärkt, dass man nur dem<br />

großen Ommm folgen muss. Jeder hat seine eigene Wüste, jede Wüste ihre eigene<br />

Poesie. Die bei den einen hinein führt in das dunkle Ambiente imaginärer<br />

Landschaften, bei einigen in einen melancholischen Gemütszustand, bei wieder<br />

anderen zu einem meditativen Brüten. Bei Compest dreht sich eine von Wind<br />

umfauchte monotone Mühle, die die Zeit klein schrotet. Karl Bösmann hat für<br />

‚Medan Marked-Place - Pt. 2 & 3‘ Stimmengewirr zum Röhren von Wüstendämonen<br />

vermahlen. In der zweiten Gruppe ziehen Closing The Eternity, Oophoi<br />

aus Italien, F<strong>als</strong>e Mirror (Tobias Hornberger in Ulm), Netherworld (Alessandro<br />

Tedeschi), Phelos (Martin Stürtzer in Wuppertal), Vivian Gabin (Lars Dietrich<br />

aka Vernom, der mit Stimmengewirr und Akkordeonvolkslied einen ‚Persian<br />

Love Song‘ faket), der martialische Atrox (Andy Stöferle in <strong>Bad</strong> Saulgau) und<br />

Brandkommando vorüber. Der eine einsam wie Pluto, der andere nicht einsam<br />

genug, dem einen zerrinnt die Zeit zu Nichts, der andere löst sich selber auf wie<br />

Zucker in Sirup. Und da kommt noch ein Nachzügler, Tesendalo, absolut unwüst,<br />

im Hawaiihemd mit ner Flasch Bier und einer aufgekratzt abgespulten<br />

Drehwurmmelodie. Stillstand (wie Compest ein Projekt von Martin Steinebach in<br />

Kahl, bei dem ‚Europa‘ eine Zukunft <strong>als</strong> Wüste droht), Cria Cuervos (Eugenio<br />

Maggi), Shrine (Hristo Gospodinov aus dem bulgarischen Weliko Turnovo), das<br />

nordfinnische Duo Aeoga, Rotationszentrum, Steinfeld, Baradelan<br />

(Thomas Sauerbier mit einer sprudelnden Fata Morgana) und Festung Kronstadt<br />

(Stephan Rolf Schilling aus Leipzig) bilden die dritte Reisegruppe. Auch sie<br />

hüllt ein ‚Swarm of Drones‘ aus schwarzen Bienen oder grünen Dämonen ein.<br />

Matamore (Theremin Noise Club-Macher Chris Huber & Stephanie Gagne in<br />

Salzburg) mit dem rosenfingrigen ‚Church of Dawn‘ oder Agenda Kokon (aus<br />

Essen - Kompliment für den Namen) mit ‚Serafimgluten‘ nähern sich dem ‚Throne<br />

of Drones‘. Als ein ‚Storm of Drones‘ öffnet das Erhabene seine Tore, die höchste<br />

Stufe sombienter Einkehr und von psychoakustischem Deep Listening.<br />

44


TOUCH (London)<br />

Die Begeisterung der Touch-Macher für die Vox Dei hält an. Und<br />

beschert <strong>als</strong> weiteres Kapitel Grand Mutation (Tone 30), den Zusammenklang<br />

von Lasse MARHAUGs Sinuswellenoszillationen<br />

und laptopgeneriertem Noise mit Improvisationen des Organisten<br />

Nils Henrik ASHEIM. Der konnte dabei in einer stillen Juninacht<br />

2006 auf seiner Lieblingsorgel spielen, der Ryde & Berg-Orgel in<br />

der Domkirke Oslo, installiert 1998 und eingeweiht mit Asheims<br />

Werk Salmenes Bok für Chor und zwei Orgeln. Die von Thomas<br />

Hukkelberg, zu dessen Referenzen schon Huntsville und diverse<br />

Sofa-Releases gehören, mit aller tontechnischen Sorgfalt mitgeschnittene<br />

Stunde wurde in 5 Tracks gegliedert. Deren Namen<br />

‚Bordunal‘ - ‚Phoneuma‘ - ‚Magnaton‘ - ‚Philomela‘ - ‚Clavaeolina‘<br />

deuten den jeweiligen Akzent an: monochrome Haltetöne - die<br />

Blasebalg-Pneumatik, gleichzeitig auch ‚klingende Zeichen‘<br />

(Neumen) - den ‚großen Ton‘, eine Reihe von vierhändigen Zackenkammsalven<br />

von nur knapp 2 Minuten - die abgeschnittene<br />

Zunge und ihre Metamorphose zur Nachtigall - die frei schwingende,<br />

auf einen Eisenbügel geschweißte Zunge der Äoline, einem<br />

um 1820 entwickeltem Orgelregister. Marhaug tritt zu Asheims<br />

Schillern zwischen Palestine und Messiaen den Blasebalg,<br />

d. h. er gibt dem Spiel Luft. Statt bruitistisch zu konkurrieren,<br />

webt er sublime elektronische Schleier. Asheim, 1960 in Oslo geboren,<br />

ist Komponist der Kirchenoper Martin Luther Kings himmelferd<br />

und preiswürdiger Orchester- & Kammermusiken. Sein<br />

Kompositionsstil ist dabei von seinen improvisatorischen Erfahrungen<br />

mit geprägt, etwa seinen 16 Pieces for Organ, die er<br />

ebenfalls schon auf der Osloer Domkirke-Orgel intonierte. Er evoziert<br />

etwas Erhabenes, ohne direkt sakralen Anklang. Seine<br />

Schwebklänge beben dennoch in der Luft, wie nur Licht, das<br />

durch Buntglasfenster fällt, in kühlen, hohen Kirchenschiffen stehen<br />

kann. Sie wallen, pulsieren und raunen, wie nur Prinzipale,<br />

Gedackte, Aliquotregister, Klangkronen und Kornette fiepen,<br />

raunen und aufrauschen können. Mit zwei Worten: magnum opus.<br />

Der österreichische Electronica-‚Gitarrist‘ Christian FENNESZ<br />

und der japanische Piano-Soundtracker Ryuichi SAKAMOTO<br />

fanden nicht nur im Laptop einen gemeinsamen Nenner für ihren<br />

Zusammenklang bei Cendre (Tone 32). Ehrlich gesagt, ist Sakamoto,<br />

bei allem Renommee (Merry Christmas Mr. Lawrence,<br />

1983, The Last Emperor, 1988, Sheltering Sky, 1990 etc.), in meinen<br />

Ohren immer ein Garant gewesen für gefälliges Geplimpel,<br />

ein Clayderman für Ansprüche, die Feuilletonschmocks für gehoben<br />

halten mögen. Er klimpert auch hier, wie zu erwarten, verhalten<br />

und zeitlupig seine ‚verträumten‘ Pianoetüden und Fennesz<br />

‚antwortet‘, indem er Sand und Asche darüber streut. Bei manchen<br />

Stücken machte der Wiener auch den ersten Zug, freilich<br />

ohne den lyrischen Grundtenor seines Seniorpartners (1952 vs.<br />

1962) anzutasten. Wie atmosphärisch er auch die 11 Klangbilder<br />

mit feinkörnigem Knurschen und feinelektronischen Schwaden<br />

überzieht, das Piano streut mit gleich bleibendem Aschermittwochsgestus<br />

seine pianistischen Krümel unter die Tauben.<br />

Einige werden den nachdenklichen Duktus <strong>als</strong> melancholisch<br />

empfinden und die Tristesse mit „Bye-bye happiness, Hello loneliness,<br />

I think I'm gonna cry“ begrüßen. Aber nur das Titelstück,<br />

bei dem das Klavier fast gänzlich weggemischt ist, findet meine<br />

seufzende Zustimmung. Ansonsten ist mir speziell Sakamotos<br />

‚Stimmungsmalerei‘ zu soundtrackpsychologisch, zu sehr<br />

‚Gefühlsklaviatur‘. Beim diesjährigen Moers-Festival sprang Fennesz<br />

mit Mike Patton wieder ans andere Ende der Sakamoto-<br />

Skala. So muss das sein.<br />

45


VICTO (Victoriaville, Québec)<br />

Les Disques Victo hat 2007 einen Grund zum Feiern.<br />

20 ans déjà. Um zum Jubeljahr die Qualität zu<br />

liefern, für die Victo steht, greift Michel Levasseur<br />

nunmehr zu Mitschnitten der FIMAV-Ausgabe<br />

2006. Downpour (VICTO cd 104), der Clash von<br />

NELS CLINE, ANDREA PARKINS & TOM RAI-<br />

NEY vertritt neben der NOWness von My Cat Is An<br />

Alien, Fieldwork, Huntsville, Mandarin Movie oder<br />

SunnO))), dem Charme von Charming Hostesss<br />

und Fe-Mail oder der Power von Etage 34, KTU<br />

und Zu fast schon eine Seltenheit: No Nonsense-<br />

Impro, allerdings <strong>als</strong> Fusion- und Elektro-Update.<br />

Clines Einfallsreichtum an der Gitarre, gespickt<br />

mit Effekten und Härte, lassen nicht einmal mehr<br />

ahnen, dass er 1979/80 <strong>als</strong> kalifornischer Nine<br />

Winds-Softie begonnen hat. Aber mit Rhythm Plague<br />

hatte er auch dam<strong>als</strong> schon Neigungen gezeigt,<br />

die Schubladen zu verwischen. Längst lässt<br />

er ebenso gern mit Mike Watts, den Geraldine Fibbers<br />

oder Thurston Moore die Drachen steigen<br />

wie mit Gregg Bendian‘s Interzone, Vinny Golia,<br />

Steuart Liebig und den Nels Cline Singers. Seine<br />

exzessive Kunstfertigkeit vielseitig zu nennen,<br />

wäre untertrieben. Die Konstellation mit dem Tim<br />

Berne-Drummer Rainey, der ja mit Marc Ducret gitarristische<br />

Herausforderungen gewohnt ist, und<br />

mit Parkins und ihren Sampler-, Akkordeon- &<br />

Keyboardsounds war bereits im New Yorker Tonic<br />

<strong>als</strong> Ash and Tabula (Atavistic) erprobt worden.<br />

Rainey wartete in Victoriaville mit einer Summe<br />

dynamischer Beatverschachtelungen auf, jenseits<br />

dessen nur noch das Berserkertum des Skronk- &<br />

Dirty Jazz existiert. Wenn er und Cline einen in die<br />

Zange nehmen, reichen die Sinne nicht aus, um<br />

die unkalkulierbaren Wendungen dieses Freispiels<br />

auf einmal zu erfassen. Besonders undurchsichtig<br />

ist die Rolle, die Parkins spielt. Die Cousine von<br />

Zeena Parkins, trioerprobt durch ihr jahrelanges<br />

Engagement mit Eskelin & Black, behauptet sich<br />

dort wie hier <strong>als</strong> elektrifizierter Luft-Geist, <strong>als</strong><br />

‚Drittes Element‘ (Daz dritte element daz ist der<br />

luft der besluzit in sich die ersten zwei). Schimmernde<br />

Haltetöne, zart bebende Zitterwellen, die<br />

Clines dröhnende oder abgerissene Kakophonie<br />

und Raineys knackiges Gerumpel und quecksilbrige<br />

Spritzer gleichzeitig von ‚Innen‘ durchzucken<br />

und von ‚Außen‘ umwölken. Gibt sie selbst sich<br />

diskanten Launen hin, versucht Cline sie mit eindringlich<br />

singendem Riffing zu beschwören, zu<br />

besänftigen. Hartnäckig wiederholte Bassfiguren<br />

der Gitarre und Marschrolls der Drums versuchen,<br />

die nesselnde Giftigkeit der Elektronik in einen<br />

Groove einzubinden. Aber so simple Lösungen<br />

werden schnell wieder verworfen zu Gunsten<br />

von ständiger Gärung, quicken Volten, Dynamik<br />

mit Effet. Wer das <strong>als</strong> orientierungslos abtut - Unfortunately,<br />

taken together, the trio’s music too<br />

often simply did not seem to go anywhere“ - , wie<br />

M. Bélanger in All About Jazz, überreizt die Rolle<br />

des abgebrühten Connaisseurs.<br />

46


Die Symphonic Wind Band der Shanghai Jiaotong Universität, Wong Kar-Wais<br />

2046 und FujiN RaijiN (VICTO cd 105) haben nicht nur gemeinsam, dass sie sich<br />

<strong>als</strong> persönliche Sinneseindrücke im Mai 2007 mischten, es sind auch asiatische<br />

Weisen, Östliches und Westliches zu hybridisieren. Die Wind Band aus Shanghai<br />

<strong>als</strong> unchinesisches Blasorchester in der Mixtur von Erhu-Volkstümlichkeit mit<br />

Sousa und Mancini; 2046 <strong>als</strong> von Peer Raben und Nat King Cole beschallte Melancholie<br />

im Hongkong der 60er Jahre; und das SATOKO FUJII MIN-YOH EN-<br />

SEMBLE mit 2 neu arrangierten und 4 von Fujii neu komponierten japanischen<br />

‚Volksliedern’. Ich kann daran allerdings nichts ‚typisch Japanisches’ erkennen<br />

und bin nicht sicher, ob Japaner sich dabei gleich ‚wie zuhause’ fühlen. Eher<br />

scheint mir das, was die Pianistin und ihr Mann Natsuki Tamura auf der Trompete<br />

zusammen mit dem Posaunisten Curtis Hasselbring und Andrea Parkins am Akkordeon<br />

spielen, nur einen Katzensprung von Gato Libre entfernt. Das Wiegenlied<br />

‚Itsuki No Komoriuta’, das schon von <strong>Bad</strong>en Powell oder Helen Merrill und immer<br />

wieder auf der Shakuhachi angestimmt wurde, klingt hier ernst und kunstvoll, wie<br />

ein Kunstlied ohne Worte, das Allzubekanntes quadriert und eher verschlungene<br />

Wege <strong>als</strong> den direkten Weg zum Herzen geht. ‚Kariboshi Kiriuta’, ebenfalls ein<br />

Shakuhachi-Standard, bezaubert sogar <strong>als</strong> tatsächliches Min-Yoh-Lied, von Fujii<br />

selbst großartig gesungen, lange nur von der Trompete begleitet. Fujii vermeidet<br />

sowohl volkstümliche wie exotische Klischees und operiert doch mit Dramatik und<br />

starken Gefühlen. Sie lässt das Blech melodiös singen, harft und klimpert Innenklaviersplitter,<br />

hämmert und pocht den ausdrucksstarken Duktus ihrer strengen<br />

Stimmführungen. Parkins fällt dabei die Rolle eines Phantoms zu, ihr Akkordeon,<br />

ansonsten der weltmusikalische Hansdampf, sirrt und dröhnt so elektro-alchemistisch,<br />

dass eher Teodoro Anzellottis Neutönerei <strong>als</strong> Folklore mitschwingt. All diesen<br />

Schraubendrehungen zweiter und dritter Ordnung traue ich den Ehrgeiz zu,<br />

Third Stream- und Eine Welt-Musik sublimieren zu wollen zur Musica Nova eines<br />

globalen Utopia. Aber kann man von einer Frau, die zusätzlich zu ihren diversen<br />

Trios und Quartets mit 4 Big Bands gleichzeitig jongliert, weniger erwarten?<br />

47


Das FIMAV ist beispielhaft für die Suche nach der ‚Summe aller Töne‘.<br />

Diese Suche stellte 2006 Mike Pattons Projekte mit Fennesz, Rahzel<br />

und Zu neben das Mei Han Ensemble, das Nunavik Project von Think Of<br />

One und den extremen Noise Terror von BORBETOMAGUS & HIJO-<br />

KAIDAN. Die Saxophonisten Jim Sauter & Don Dietrich und Gitarrist<br />

Donald Miller pulverisieren seit 1979 die Schallmauer. Jojo Hiroshige<br />

versucht seit 1979, den Stillen Ozean auszusaufen. In Osaka wurden<br />

er und seine Crew beim Versuch, Hawkwind, Faust und vor allem die<br />

LAFMS-Freaks Airway japanisch zu überbieten, einer der Stammväter<br />

des Nippon-Noise. Seit 1982 intensiviert die Fluxus-gestählte Junko <strong>als</strong><br />

Screaming Banshee sein Gitarrengemetzel. Bei Both Noises End Burning<br />

(VICTO cd 106) brachten am 21.5.2006 noch die Tinnitus-Furie<br />

Nao Shibata, die ansonsten bei Doodles oder New Rock Syndicate<br />

trommelt, und der Bankangestellte Toshiji Mikawa mit seinen Mr. Incapacitants-Electronics<br />

die Luft zum Brennen. Die 7-stimmige Kakophonie<br />

vexiert, während das schon nach wenigen Sekunden durchgegrillte<br />

Gehirn nicht weiß, ob es implo- oder explodieren soll, zwischen Wall<br />

of White Noise - „monolith of sound“ hat Dietrich das mal genannt -<br />

und einem stechenden Beschuss mit Myriaden von Feuer- & Eisnadeln,<br />

einem furiosen Schwarm unablässig attackierender Mikrodämonen.<br />

Verursacher dieses Hirnsausens sind ältere Glatz- und<br />

Grauköpfe, bausbäckige Brillen- und BubikopfträgerInnen. Sie dienen<br />

den Godz of Noiz nicht in jugendlichem Übermut, sondern mit reiflicher<br />

Überlegung und hartnäckiger Treue zur Mission, einen zu zernichten,<br />

<strong>als</strong> ob man unter dem Niagarafall duschen würde. Decode,<br />

rewire, letztendlich in die Auferstehung jagen. Als Einzelquelle erkenntlich<br />

bleibt weitgehend nur die hoch gepitchte Stimme Junkos, die<br />

‚wie am Spieß‘ kläfft und kirrt und dabei oft mit den Saxophonen verschmilzt,<br />

wenn diese nicht mit Gummischlauch angeblasen werden<br />

und dabei einen dunkleren Ton annehmen. Dazwischen verklumpen<br />

sich die schrillen Lärmspuren zu einem konvulsischen Knäuel junger<br />

Raketenwürmer. Der rauschende Mahlstrom ihres Düsendonners wirkt<br />

wie ein Schwarzes Loch im Ocean of Sound, <strong>als</strong> ‚The Challenger<br />

Deep‘, der einen zu nihilieren droht oder verspricht. Und nach knapp<br />

72 Minuten nur Beifall erntet. Ich kann Stockhauses Kummer gut verstehn.<br />

Wenn Japaner dieses ‚Schwarze Loch‘ ansteuern, nennen sie das Psychedelia<br />

(die Lettern des bekanntesten Labels für japanischen Extremismus<br />

PSF stehn für Psychedelic Speedfreaks) oder <strong>Alchemy</strong> (so<br />

heißt Mikawas Label in Osaka). Von Außen wurde das interpretiert <strong>als</strong><br />

Ästhetik des Erhabenen oder Totalitären, <strong>als</strong> Sado-Masochismus oder<br />

Fetischismus, <strong>als</strong> Identifikation mit der Moderne <strong>als</strong> Aggressor oder<br />

terroristische Subversion gegen eben diesen Unterdrücker und Nihilierer.<br />

Nach Michel Henritzi geht es Noise-Musik um „losing control<br />

over oneself, about losing one‘s relationship to the world.“ Sie sei „a<br />

music of catharsis and hysteria“, die in erster Linie dem Lustprinzip<br />

gehorcht. Falls je Zustands- und Konsumkritik eine Rolle gespielt haben<br />

sollte, wurde sie längst selbst zur Konsumdelikatessware. Henritzi<br />

zufolge wurde daher die Phase des Experimentierens mit „saturation,<br />

overdrive and multiple stratifications“ abgelöst durch dekonstruktivistische<br />

Strategien, wie Otomo Yoshihides ‚Sampling Virus‘, und vor allem<br />

durch „a minimal aesthetic, working with the infinitesimal and the<br />

inaudible“ (Onkyo) [-> Japanese Independent Music, Sonore, 2001] Die<br />

Renaissance der Old School- und Overdrive-Phase (mit Keiji Haino und<br />

Merzbow <strong>als</strong> allgegenwärtigen Festival-Hoppern) kommt einigermaßen<br />

unverhofft. Und erklärt sich am ehesten durch die Quest nach der<br />

‚Summe aller Töne‘, die auf ein synergetisches All together now zu<br />

setzen scheint - SunnO))) + Haino + Wolf Eyes + Braxton + Patton + Zu +<br />

Hijokaidan + Borbetomagus... Free + Freak + Doom + Noise + Exotik...<br />

Alchemie für Maximalisten? Here come the Harvest Buns, A belly full<br />

for everyone.<br />

48


DAS POP-ANALPHABET<br />

BURKHARD BEINS Disco Prova (Absinth Records, Absinth 013, in 7“-Cover):<br />

Perlonex-Perkussionist Beins auf Musique concrète-Pfaden. Mit Analogsynthesizer<br />

und einer zerkratzten italienischen Hifi-Testplatte (‚EQ-20‘), sowohl out- wie<br />

indoors ‚Fieldrecordings‘ aus Brooklyn (‚Schaltkreis‘), einem elektrischen Gasanzünder<br />

(‚Igniter‘), Schnipseln von Joy Division-LPs (‚For Ian Curtis‘), mit einer großen<br />

Styroporkiste, an die eine 12 Meter lange Schnur angebracht wurde und<br />

Wassergeräuschen (‚Sekante‘); nur ‚Reel‘ und ‚Slope‘, ersteres weniger und in<br />

Verbindung mit der selben Testplatte wie ‚EQ-20‘, letzteres relativ pur, lassen<br />

den perkussiven Beins anklingen. In meinen Ohren besteht der Witz dabei darin,<br />

dass bruitistische und perkussive, ‚verfremdet‘ konkrete und handish-analoge<br />

Klangkreation, ineinander fließend, ihre Verwandtschaft zeigen. Dass etwa Asmus<br />

Tietchens oder Keith Rowe bei Nacht ununterscheidbar werden <strong>als</strong> zwei<br />

graue Katzen, dass das Pluriversum der Klänge und Geräusche nicht pythagoräisch,<br />

sondern heraklitisch einem um die Ohren wummert, brummt und plätschert.<br />

BERTHIAUME, BRZYTWA Bebe Donkey (Ambiances Magnétiques, AM 163): Die<br />

Begegnung mit Derek Bailey 2002 war schon ein Schlüsselerlebnis für den Gitarristen<br />

Antoine Berthiaume, aber ein Semester am Mills College bei Fred Frith und<br />

Joëlle Léandre verschob seine Perspektive ein weiteres Mal. In Oakland traf er<br />

auch auf die Flötistin & Laptopelektronikerin MaryClare Brzytwa, die sich <strong>als</strong> ein<br />

Wurmloch in ein Riot Grrrl-Wunderland entpuppt. Die 1981 in Youngstown, Ohio,<br />

geborene Tochter sehr katholischer Polen ist eine rasiermesserscharfe ‚Queen<br />

of B-bands‘: In Bolivar Zoar mit Ava Mendoza & Theresa Wong halbwegs zwischen<br />

Äffchen und Engeln, oder wie Mendoza meint, halbwegs zwischen Bo<br />

Diddley und Hildegard von Bingen; <strong>als</strong> Byznich setzt sie im Alleingang ihr Mysti<br />

Marie Teater in Szene; und bei Slow, Children improvisiert sie mit der Kotospielerin<br />

Kanoko Nishi & der Drummerin Shayna Dunkelman E!!!!!motronics. Womit klar<br />

sein dürfte, warum Carla Kihlstedt sie auf das Unlimited 21 nach Wels eingeladen<br />

hat. Das MySpace-Wurmloch hat mich inzwischen über The Norman Conquest zu<br />

Nuclear Times rutschen lassen, dem Trio von Norman Teale mit Quentin Sirjacq<br />

und - Berthiaume (-> <strong>BA</strong> 47). Schwindlig gewirbelt durch diese Oakland-zentrierte<br />

MySpace-Zentrifuge, lande ich erst jetzt wirklich bei Bebe Donkey, benannt<br />

nach dem Donkey Punch Who is Really A Roller Derby Girl from Philadelphia.<br />

Berthiaume & Brzytwa scheinen da ihre Bewerbung abzugeben für eines dieser<br />

Akusmatikstipendien, die man nur bekommt, wenn man Bruitismus <strong>als</strong> ernste Sache<br />

betreibt. Alle Anklänge an Quirky-Pop, Frauenpower und Anti-Bush-Politik, in<br />

der Oakland-Szene allgegenwärtig, werden abgeschliffen zu schimmernden Gitarrendrones<br />

oder im Laptop zerschrotet, um damit abstrakte Gemälde zu bespritzen.<br />

Knispelige, knarzige Clicks, spotzige Störsignale und brummig verzerrte<br />

Wellen rauschen vorüber, ab und zu auch ein Anhauch von Flöte und keuchender<br />

Stimme. Bis ‚Punch‘ mit elegischer Zartheit und gezupfter Gitarre einem unerwartet<br />

direkt in die Augen schaut. Und ‚She <strong>als</strong>o‘ tut das einige knurschige und<br />

pfiffige Minuten später noch einmal, mit orgelähnlichem Melos. Als Clou schließt<br />

‚Alitron‘ mit einer verrauschten Hommage an Derek Bailey.<br />

TIM CATLIN Radio Ghosts (23five 011): Sechs dröhnminimalistische Brummer,<br />

konsequent monochrom, setzen ihren Bohrstift an meiner Zirbeldrüse an. Zweimal<br />

mit akustischer Gitarre, dreimal mit E-Gitarre <strong>als</strong> Klangquellen, jeweils <strong>als</strong><br />

präparierte Tabletop und speziell gestimmt. Ein Motor versetzt die Saiten in Vibration,<br />

einmal kommt noch ein Radio dazu. Beim sechsten Anlauf sirrt ein Becken.<br />

Ich könnte mit solchen Dröhnwellen inzwischen einen Whirlpool füllen, was<br />

sag ich, eine ganze Second Life-Welt aus dem Boden schießen lassen voller surrender<br />

Transformatoren, dopplereffektiver Geschäftigkeit, vorüberbrummender<br />

Motorflugzeuge, Rasenmäher, Zambonis, Bombuskolonien. Brumm, ergo sum?<br />

Halt, bei meiner Tirade hätte ich fast überhört, dass der Mann aus Melbourne bei<br />

‚Black Magnet‘ die Saiten pluckernd propellert, bis sie Obertöne ausspucken. Danach<br />

legt das Radio einen prasselnden Film und Jaultöne über das Titelstück.<br />

Und schließlich bekommen Cymb<strong>als</strong> das Zipperlein und mein Wohnzimmer fängt<br />

an, sich in einen Hubschrauber zu verwandeln.<br />

49


DAS SYNTHETISCHE MISCHGEWEBE Gleis3eck /<br />

Görlitzer Tunnel (Antiinformation, AICdisc 008, 2 x CD<br />

in DVD box): Vergangenheit ist ein heikles Ding.<br />

Manchmal will sie vergehen und kann nicht, manchmal<br />

soll sie vergehen und will nicht, manchmal ist sie schon<br />

verschwunden, bevor man sich‘s versieht. Das S-M hegt<br />

und hütet seine Vergangenheit und vergegenwärtigt<br />

damit mehr <strong>als</strong> nur sich selbst. Die Entstehungsorte von<br />

‚Görlitzer Tunnel‘ (1986) und ‚Gleis3eck‘ (1987) sind<br />

nach dem Fall der Mauer dem Vereinigungsfuror und<br />

Hauptstadtbaufieber zum Opfer gefallen. Der verpisste<br />

Fußgängertunnel unter Kreuzberg ist ebenso verschwunden<br />

wie die S-Bahndrehscheibe, die allerdings<br />

schon eine Industrieruine war, <strong>als</strong> Das S-M sie unbefugter<br />

Weise <strong>als</strong> Performancebühne okkupiert hat. Nur<br />

überholte Stadtpläne und alte Fotos konservieren ihre<br />

Existenz. Und in Spurenelementen sind sie aufgehoben<br />

auf diesen Bändern, von denen Auszüge bereits auf<br />

‚casual praise of domestic calamities‘ (Hypnagogia),<br />

‚intransitive 23‘ (Intransitive Recordings) und ‚Inventaire<br />

and contradictions‘ (Vinyl-On-Demand) herumgeistern.<br />

Hier kriecht nun die von Yref & G.do Hübner<br />

hergestellte ammoniakhaltige Langfassung ihrer bruitistisch-olfaktorischen<br />

Tunnelbohrung aus den Boxen (45:38). Ein diskantes Konzentrat<br />

aus Gestank und Geräusch unter schäbigem Neonlicht. Von oben dröhnt Kreuzbergverkehr,<br />

von unten klopfen die Untoten, auf die Berlin gar nicht genug Beton<br />

wuchten kann, dazwischen pfeifen Ratten mit Stammbaum bis in den Führerbunker.<br />

Alte Funksprüche suchen immer noch ihren Empfänger in dieser Pissrinne, die sich<br />

anhört wie eine Musique concrète-Disco für Morlocks, von denen auch einige lallend<br />

und gröhlend entlang torkeln. Was macht ihr denn da? Musik? ‚Gleis3eck‘, ein Triptychon<br />

von gut 80 Minuten, entstand <strong>als</strong> Probelauf des ‚The Spinal Column‘-Projektes<br />

für das Festival En la Frontera / n.o.v.a. far in Zaragossa in großer Besetzung mit<br />

Chavez, T.O.W. Richter, Isabelle Chemin & Jean René Lassalle. Selbstgebaute<br />

Streich- und gefundene Percussioninstrumente, Klangskulpturen, Tableguitar, Ventilator,<br />

Pick-ups, Miniverstärker, Feedbackloops etc. etc. wurden traktiert mit einem<br />

Spieltrieb, der längst zum Selbstverständnis <strong>als</strong> Installations- und Performancekünstler<br />

aufgeblüht war, und mit der zeittypischen Bruito- & Art-Brutophilie, wie sie<br />

auch die Einstürzenden Neubauten, P16.D4 oder Kapotte Muziek auslebten, indem<br />

sie Schrott zu Pflugscharen umschmiedeten. Damit wurden vor 20 Jahren Furchen<br />

gezogen, um Drachenzähne anzusäen, aus denen ein neuer Typus hätten sprießen<br />

können, Geniale Dilettanten, Künstler <strong>als</strong> Jedermensch, sentimentale Urbanisten,<br />

Spaßgewitterdandies. Statt dessen...<br />

AXEL DÖRNER sind (Absinth Records, Absinth 010, in 7“-Cover): Die Formel ist immer<br />

die selbe - 1≤n≤22 - die Ergebnisse der 22 Anläufe gehn jedoch gegen unendlich.<br />

Man kann versuchen, aus Kaffeesatz das Schicksal zu deuten oder sich Dörners<br />

Spucke in die Ohren schmieren und Öffne dich! murmeln. es wird immer Leute<br />

geben, die dabei ihre Zukunft erkennen können oder „Ich kann wieder hören!“ rufen.<br />

All music by Axel Dörner Trumpet lauten die spärlichen Angaben. Schon gut, man<br />

muss es nicht Musik nennen, hinter Trompete wird mancher ebenfalls ein dickes ?<br />

setzen und zudem zweifeln, wie das ohne Elektronik gehen soll. ‚Das‘ ist ein spuckiges<br />

Schmurgeln und gepresstes Fauchen in immer wieder von Stille unterbrochenen<br />

Variationen. Was Dörner da am und durch das Mundstück erzeugt, klingt teils<br />

‚Polnisch‘, teils wie walisische Ortsnamen, ein einziges przedmuchiwac, terkotac,<br />

skwierczec, chleptac, wybuchac zloscia und Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch.<br />

Wobei blasen nur meint, dass gepresste Luft Reibegeräusche<br />

macht, Töne ‚sind‘ nicht vorgesehen, zumindest nicht in dem Sinn, dass der<br />

Natürlichkeit der Luftverwirbelungen Gefälligkeit aufgezwungen oder untergeschoben<br />

werden soll. Dörners Experimentenreihe sucht die seltsame Begegnung von<br />

Physis und Physik, von Wasser und Luft am Ground Zero von Mund und Metall. Im<br />

Otomo Yoshihide Quartett konnte man sehen, wie er das macht und dass einige der<br />

undeutbaren Geräusche entstehen, indem er mit Dämpfern am Trichter schabt.<br />

50


EGLE SOMMACAL Legno (Unhip Records, Unhip 012): Dieser<br />

Gitarrist in Bologna, der lange in Massimo Volume gespielt hat,<br />

bevor er ein Gastspiel bei Ulan Bator gab, hat John Fahey für<br />

sich entdeckt. Er bestreitet sein Solodebut mit 8 hochkarätigen<br />

Fingerpickingkreationen auf der Akustischen. Der Fahey-Einfluss<br />

ist allgegenwärtig in dieser Edelfolklore, die einiges an<br />

Virtuosität investiert, um derart klare und doch dichte Blockhauskonstruktionen<br />

aus purem Saitenklang zu fügen. ‚Holz‘<br />

meint hier nicht hölzern, vielmehr natürlich, ehrlich, gewachsen.<br />

Ein blauäugiger Traum von Amerika. Aber schon bei Sergio<br />

Leone hatte der Böse blaue Augen. Dafür war Antonioni mit<br />

seinem terroristischen Zabrieski Point-Finale für Fahey ein<br />

Perverser. Sommacal scheint die Neue Welt noch einmal mit<br />

Auswandereraugen <strong>als</strong> offenen Horizont zu sehen. Greil Marcus<br />

nennt das gesuchte Utopia American Pastoral und zeigt,<br />

wie dahinter schon American Berserk lauert. Sir Richard Bishop<br />

zupft im Vergleich zu Sommacal assyrische Italowesternmusik.<br />

Aber womöglich geht es Sommacal gar nicht<br />

um die Neue Welt und das blaue Gras im Westen. Oh Boy, es ist<br />

einfach nur zauberhafte Gitarrenmusik.<br />

BRIAN ELLIS The Silver Creature (Benbecula Records,<br />

BEN042): Ein Jungtwen aus San Diego debutiert 2007 gleich<br />

doppelt auf dem schottischen Label Benbecula, zuerst mit<br />

Free Way und kein halbes Jahr später mit dieser virtuosen Demonstration,<br />

dass man auch allein Nu Jazz spielen kann, für<br />

den sich ansonsten ein Sextett anstrengen müsste. Ein opulentes<br />

Sextett mit Squarepusher an den Drums, Laswell am Bass<br />

und einer Phalanx an Keyboardern vom Kaliber eines Hancock<br />

oder Taborn, dazu Aphex Twin <strong>als</strong> Mann für ambiente Electronicaflächen.<br />

Titel wie ‚Basement Boogie‘ und ‚Home Cookin‘‘<br />

lassen durchblicken, dass diese Allstarformation nur virtuell in<br />

Ellis Vielspurretorte synthetisiert wurde. Dabei liegt Funkyness<br />

im permanenten Widerstreit mit ätherischen Sounds. Silberrückengitarren<br />

werden durchfiebert von mindestens fünfhändigem<br />

Frickeldrumming, Keyboards tupfen versonnen in der linken<br />

Box, quellen dröhnend aus der rechten. ‚Flute Salad‘ quillt<br />

über vor Flötengetriller in exotischen Klangfarben. Verfremdete<br />

Bläserstimmen, synthetische Gitarren <strong>als</strong> Geisterfahrer, ein<br />

Saxophon, sogar eine Pipa werden von Ellis verquirlt. Carl<br />

Craigs Innerzone Orchestra ist der Blueprint, seine Ambition,<br />

Schönheit und Technik miteinander in Einklang zu bringen,<br />

scheint auch Ellis anzutreiben. Die durchwegs übereifrigen<br />

Beats zeugen dabei freilich von einem Schönheitsgefühl, das<br />

auf einer schnelleren Zeitspur dahin rast <strong>als</strong> meine.<br />

FAGO SEPIA l'âme sûre ruse mal (Aposiopèse Rec. / Bolton<br />

Wonderland Rec.): Ein Quartett aus Rennes, bestehend aus<br />

(und bestückt mit) pit (huge strings), jams & gis (little strings) &<br />

jerome (wood and skin) aka bass, guitar, guitar & drum. Instrumentaler<br />

Postrockminimalismus, mit einiger Sophistication<br />

konstruiert. Amor Belhom und mehr noch Jean Michel Pires<br />

Projekt Headphone können einem dabei in den Sinn kommen,<br />

hierzulande bietet sich vielleicht die ähnlich mathematisch<br />

fundierte Ästhetik von Ilse Lau <strong>als</strong> Vergleich an. Die transparente<br />

und dennoch indierockig dynamische Verzahnung der<br />

Gitarren, das animierte Midtempo mit sogar Handclapping-<br />

Rhythmik bei ‚trois‘, immer wieder melodiöse Doppelläufe von<br />

einnehmender Eleganz auf dem schmalen Grat zwischen kuschelig<br />

und cool, damit sammeln die Jungs aus Rennes Sympathiepunkte.<br />

Ob das ausreicht <strong>als</strong> Minimum Programme of Humanity,<br />

ist allerdings fraglich.<br />

51


FORMICATION Icons for a New Religion (Lumberton Trading Company,<br />

LUMB007): So mancher hat schon versucht, sich durch Spöttelei<br />

über den Namen - von wegen Sex mit Ameisen - erhaben zu dünken<br />

und wurde doch mitgesaugt auf die Rite de passage, auf die Alec<br />

Bowman & Kingsley Ravenscroft mit ihrer Sonic Fiction aufbrechen.<br />

Aber bestehen noch Zweifel daran, dass alle ausgesandten Spaceexplorer<br />

immer wieder nur den Weltinnenraum ausloten und die Abgründe,<br />

in denen man die menschlichen Daimones vermutet? Die<br />

Odyssee-im-Weltinnenraum-Psychedelic von Formication durchquert<br />

‚Dead Underground‘ und ‚The Void‘, um vorzudringen ‚In the Kingdom<br />

of the Electronic Eye‘ und in die ‚Faces of Fire‘ zu blicken. Was sich<br />

immer <strong>als</strong> ‚Introspection‘ gestaltet. Als Antrieb für ihre Ultrasound-<br />

Maschine benutzen Bowman & Ravenscroft (ein Name, in dem Namensvettern<br />

wie der musickalische Thomas und der Spear of Destiny-Schleuderer<br />

Trevor unwillkürlich mitgeistern) zwar einen Pool an<br />

akustischen Instrumenten, aber nur um die Klänge sonisch so zu alchimieren<br />

und zu rhythmisieren, dass 11 Phasen oder Etappen eines<br />

space-technoiden Läuterungstrips erklingen, der in einem sakralen<br />

Singsang mit Steve Reich-Puls gipfelt und mich fragen lässt, was eigentlich<br />

aus Cold Meat Industry geworden ist? Aus den Stirb & Werde-<br />

Ambitionen von Brighter Death Now, In Slaughter Natives oder Raison<br />

d‘être? With the new knowledge society was reborn; new culture, new<br />

architecture, new sience; a gleaming civilization enveloped the world<br />

and shone back through the stars. Scherz beiseite, wird Formication<br />

demnächst bei Ant-Zen andocken?<br />

FUNCTION The Secret Miracle Fountain (Locust Music, locust76): Du<br />

im Voraus verlorne Geliebte, Nimmergekommene, nicht weiß ich, welche<br />

Töne dir lieb sind. Indem er diese Rilke-Zeilen säuselt, übersetzt<br />

<strong>als</strong> „Beloved, lost to begin with“, entführt Matthew Liam Nicholson auf<br />

ein musikalisches Abenteuer, das ihn selber vier Jahre lang beschäftigte.<br />

Dabei reiste er um die Welt und brachte Aufnahmen mit zurück<br />

nach Melbourne von den Fidschi-Inseln, dem Sinai, aus Kyoto, Hawaii,<br />

Oxfordshire, Venedig, Holland und den USA. Mehr <strong>als</strong> ein Dutzend Musiker<br />

konnte er <strong>als</strong> Helfer gewinnen oder durfte er sampeln (Stuart<br />

Dempster, Robert Dick, Lakshmi Shankar) für einen Trip von über 72<br />

Minuten. Einsprengsel von Feuerknistern, Brandungsgeplätscher, Vögeln<br />

oder Gewitter, Cellos hier, Posaunen da, nette Effekte wie ein<br />

gestrichenes Banjo, Waldhorn, Flöten und allerhand Processing trugen<br />

Nicholsons psychedelischem Geschwurbel erstaunte Aahs und<br />

Oohs ein. Und ich steh wieder mal da und versteh den Rummel nicht.<br />

Vielleicht sind es die ‚anspruchsvollen‘ Titel wie ‚prayer in tonal<br />

forest‘, ‚mad light obviating things‘ oder ‚new music for bowed anim<strong>als</strong>‘<br />

(das <strong>als</strong> Stalling‘scher Looney Tune beginnt und sich dann mit<br />

Sand im Getriebe Richtung Nirvana loopt)? Dem Anspruch gerecht<br />

werden sicher nicht die Rockstücke und der Lalala-Pop, mit denen<br />

Function immer wieder von der Spinner- auf die Innenbahn einbiegt,<br />

sondern so Durchgeknalltes, dabei in seinem Vielspuroverkill nicht<br />

Unkomisches wie ‚unshaken (positively implacable)‘, ein Sursum Corda<br />

in den Brian Wilson-Himmel mit Posaunen, Rückwärtsgitarren und<br />

Kindergebrabbel, wie das hymnisch-delirante ‚hanalei (alone with the<br />

real magig dragon)‘ oder der Große Bombay-Schwindel ‚the broken<br />

shaman‘. Nicholson nennt sein Gesinge mal ‚f<strong>als</strong>etto dimentia choir‘,<br />

was meiner Hoffnung auf die Freiwilligkeit seines Humors Auftrieb<br />

gibt. Aber Sätze wie Have you noticed this place is on fire / what‘s<br />

your conclusion, how are you going to fly? und I must care for freedom<br />

/ in this freaksome hullabaloo hätten etwas Besseres verdient<br />

<strong>als</strong> Gutmenschengeschrammel. Und ist ‚thunder‘s freshwater tears‘<br />

nicht bloß eine Lo-Fi-Version von CSN & Y? Hm, ich kann es letztlich<br />

nicht besser formulieren <strong>als</strong> das Pitchfork-Review: The Secret Miracle<br />

Fountain is very far from a perfect record; still, despite its<br />

length and meandering nature, it's rarely dull.<br />

52


GENARO Genaro (Benbecula Records,<br />

BEN038): Craig Snape hat manchmal etwas<br />

Helles und Klares in seiner Stimme,<br />

das mich an den jungen Peter Thiessen erinnert.<br />

Zusammen mit drei Freunden<br />

macht er in Carluke bei Glasgow allerdings<br />

erzbritisch eingefärbten Gitarrenpop, mit<br />

Wall of Sound-Sound, der durch fein geschwungene<br />

Synthesizergraffitis eine eigene<br />

Note bekommt. ‚Breakout‘ steht prototypisch<br />

für Genaros optimistische Ausstrahlung,<br />

ihren animierenden New Pop-<br />

Tenor, der auch in ‚Walk into the Sun‘ den<br />

Du-schaffst-es-Nerv stimuliert. In den ‚Dark<br />

Corners of the Mind‘ lagern zwar Atombomben<br />

und Maschinengewehre und<br />

‚Once in a While‘ bekommt die Fassade<br />

Risse und das Leben kann einen in seiner<br />

‚Forward Motion‘ rechts überholen, aber<br />

Genaro zwingt dark raus und mit hymnischen,<br />

absolut motiviertem Überschwang,<br />

wie ihn nur wahrer Britpop versprühen<br />

kann, all das rein ins Leben, was Du<br />

brauchst, nämlich POP. POP & Du, ‚Friends<br />

to the End‘. Doch selbst Genaro enden mit<br />

‚Throw it Around‘ <strong>als</strong> betrippste Bedenkenträger.<br />

Ja wer soll denn demnächst den<br />

Laden hier schmeißen, wenn alle nur Fussel<br />

aus dem Nabel popeln?<br />

GUILLAMINO Atzavara (Third Ear Recordings,<br />

3ECD-064): Piano und eine zischende<br />

Kaffeemaschine, dazu ein Kontrabass,<br />

eine Jazzband aus der Retorte, lässiges<br />

Whistling und souliger Gesang, nicht<br />

schön, aber naja. Pau Guillamet fädelt seine<br />

Eklektizismen zu einer Modeschmuckkette,<br />

wie man sie Spanientouristen andreht,<br />

unterlegt ‚anestesia‘ mit Triphopbeats<br />

und Vocalloops. Piano und Bass bestimmen<br />

aber vorerst noch den Grundton,<br />

über den immer wieder mal eine spanische<br />

Gitarre schrammelt. Der Gesang bleibt ein<br />

zwiespältiger Bonus, den launige Episoden<br />

wie ‚lupu el lladre‘ mit munterem Synthiebassgehoppel<br />

zwar wett machen, aber<br />

schon hat Guillamet die nächsten Anwandlungen<br />

<strong>als</strong> Soulcrooner, mal ‚alone & in<br />

danger‘, mal in ‚sexy daze‘. Dazwischen<br />

gibt er sich <strong>als</strong> Flamencogockel, schwingt<br />

die Hüften mal zeitlupig, mal uptempo zu<br />

Dubriddims; mit den Blasmusik-Samples<br />

von einer Sardana-Cobla bei ‚el mal moment<br />

a eivissa‘ gelingt ihm nochmal ein<br />

Highlight. 67 Min. sind reichlich lang, auch<br />

wenn Gedudel und Geloope wie ‚castanyada‘<br />

oder ‚broken C‘ von sich aus keinen<br />

Wert darauf legen, aufmerksam gehört zu<br />

werden. Guillamino hat sich eingegroovt<br />

<strong>als</strong> Alleinunterhalter für Gäste, die erwarten,<br />

dass Barcelona sich à la Sonar schminkt<br />

und dazu auf der Hirtenflöte bläst.<br />

JEAN-LOUIS HUHTA Halfway Between The<br />

World And Death (Slottet, SLM5): Laptopnoise<br />

und Stringloops, gespenstisches Rauschen<br />

und minimalistisch repetitives Riffing auf einer<br />

Akustischen. Ist die schwedische Undergroundlegende<br />

zur Folktronic gewechselt, womögliche<br />

sogar zur düster-melancholischen<br />

Neofolkfraktion? Seine anderen Aktivitäten, in<br />

Audio Laboratory, Skull Defekts, Brommage<br />

Dub und dem Discogeisterfahrertrio Ocsid,<br />

machen das wenig wahrscheinlich. Andererseits<br />

deuten ‚Objects are sinister‘ oder<br />

‚Helvete‘ in ein bedrohliches Dunkel, in dem die<br />

Endstation Hölle winkt. Alles nur ein Spiel?<br />

‚Truth is in the sound‘. Und der ist monoton<br />

perkussiv, unheilschwanger, weniger durch<br />

wechselnde Thrills, <strong>als</strong> durch die Mechanik unbeirrbar<br />

dahin rollender Beats. Die Nebelfetzen,<br />

die sie umschleiern, und mondbleiche Orgeldrones<br />

lassen ahnen, dass die Membrane<br />

zwischen dem Nichtsein und der Welt aus<br />

‚furniture to sit on kitchens to cook in cars to<br />

drive‘ fadenscheinig ist. ‚Each day‘ pendelt<br />

müde am Einerleifaden zwischen so oder so.<br />

Die Hölle selbst entpuppt sich <strong>als</strong> geschäftiger<br />

Betrieb. ‚Suddenly there is a change‘ deutet einen<br />

Wechsel an, <strong>als</strong> E-Gitarrenakkord. Liegt<br />

darin die Wahrheit? Oder hingetröpfelt unter<br />

Stühlen und Autorädern? Den Dingen ist nicht<br />

zu trauen und ‚Memories‘ noch weniger.<br />

‚Straight to you‘ tupft in Zeitlupe verzerrte Keyboardnoten,<br />

die Gitarre klampft geduldig Begleitschutz,<br />

der teuflische Betrieb rollt sich zusammen<br />

und schnurrt. In den Nachhall von<br />

Beats mischt sich sirrend eine Mundharmonika<br />

- Schnitt. Beinahestille, Stille. Der Klang taucht<br />

weg, die Wahrheit verbirgt sich. Und taucht<br />

wieder auf, <strong>als</strong> Maschinenbeat mit Pokerface,<br />

durchpulst vom immer gleichen Orgelcluster.<br />

Am Ende bleibt nur ein Keuchen, wie durch<br />

eine Gasmaske. Jelp.<br />

53


A.J. HOLMES The King Of The New Electric Hi-<br />

Life (Pingipung, Pingipung 12): Alexander John<br />

Holmes ist ein Tausendsassa, <strong>als</strong> Mitbegründer<br />

von They came from the stars I saw them, mit der<br />

Rumba-Truppe Les Beaux Gosses de Berlin, <strong>als</strong><br />

Vanishing Breed oder DJ Eskimo Tears. Und <strong>als</strong><br />

Kreuzberger Starsongwriter mit Popappeal, der<br />

hier seine Wahlheimat Berlin mit dem Sound von<br />

Accra und Lagos kurzschließt, den highlife-typischen<br />

Jinglegitarren und dem Rumbapuls eines<br />

S.E. Rogie, E.T. Mensah und Emile Ogoo. Das<br />

‚Intro: The Story of the New Electric Hi-Life‘<br />

spannt ein Netz von der Westcoast bis zum Eastend,<br />

von Kuba über Paris und Johannesburg und<br />

verbindet englische und deutsche Städte, sogar<br />

Würzburg mit seinem International Afro Roots<br />

Festival, mit Freetown, der Hauptstadt des bürgerkriegsgeschundenen<br />

Sierra Leone. Holmes<br />

lernte Highlife kennen durch den nach London<br />

emigrierten Folo Graff. Bei der Umsetzung der<br />

euphorisierenden Klänge konnte er sich wieder<br />

auf Dan Hayhurst aka Sculpture verlassen, dazu<br />

auf Anne Laplantine und ein weiteres halbes Dutzend<br />

Freunde <strong>als</strong> Sänger und Bläser, Zither- und<br />

Congaspieler. Dabei bleibt der überwiegend per<br />

Computer, Programming und Mixing kreierte, um<br />

nicht zu sagen gefakete Klang immer durchsichtig,<br />

um in erster Linie Holmes Songwriter-Sophistication<br />

und sein Storytelling zu befördern, die<br />

unter der elektropoppigen, oft euphorischen<br />

Oberfläche mit Paradoxien jonglieren. ‚Home‘,<br />

‚For Export Only‘ und ‚Still nothing to declare...‘<br />

singen von Emigration, Heimatlosigkeit, Exploitation.<br />

Der meiste Afropop ist derart doppelbödig,<br />

nur dass wir die Texte nicht verstehen oder ignorieren.<br />

So entging einem, wenn man heuer auf<br />

der 19. Ausgabe des Würzbuger Africa Festiv<strong>als</strong><br />

den Maloya-Folk des eigenwilligen Griot Grrrls<br />

Nathalie Natiembé bestaunte, was sie da in La<br />

Réunion-Kreol sang. So unterschätzt man die<br />

Electric Griot-Radikalität von Ba Cissoko aus<br />

Conakry, die verstärkte Koras <strong>als</strong> Schweinerockgitarren<br />

aufjaulen lassen, <strong>als</strong> bloße Headbanger.<br />

Die London-zimbabwische Chimurenga-Lady Netsayi<br />

gibt sich dafür ganz demonstrativ <strong>als</strong> Teil der<br />

Schwesternschaft von Nina Simone, Meshell Ndegeocello,<br />

Mariza, <strong>als</strong> urbane und selbstbewusste<br />

Songwriterin, die ernsthaft und verständlich Bürgerkrieg,<br />

Migration, dirty laundry, Love & Money<br />

thematisiert und sich auch nicht für Tanzgrooves<br />

zuständig hält, wenn sie auf Shona singt. Holmes<br />

achtet umgekehrt darauf, nicht in die Exploitationfalle<br />

zu gehen. Sein Afropop, der klingt wie „a<br />

Europeans idea of African music, something like<br />

Van Dyke Parks 'Discover America' but with<br />

Highlife instead Calypso“, hat Gänsefüßchen, mit<br />

denen sich‘s zwar bestens tanzen lässt. Aber das<br />

evozierte Worldmusic-Paradies somewhere over<br />

the rainbow versucht nicht zu kaschieren, dass<br />

es eine Fototapete oder eine Fantasy von Rousseau<br />

ist. Die Sehnsucht ist paradiesisch, die Zustände<br />

nicht.<br />

54<br />

KATAMINE Lag (Tinstar Creative Pool):<br />

Katamine ist im wesentlichen ein Lofi-<br />

Projekt des Singer-Songwriters Assaf<br />

Tager. Im Geräuschnebel, der ihn und<br />

seine akustische Gitarre dabei einhüllt,<br />

deutet lange nichts auf die Präsenz von<br />

Freunden wie Haggai Fershtman und<br />

Uri Frost hin, deren Drums und Gitarre<br />

nur selten hörbar werden, sondern nur<br />

das Rauschen, das Katamine zur ‚quiet<br />

noise band‘ macht. ‚Winchester Gun‘<br />

singt Tager im Duett mit Sharon Kantor.<br />

Sein angeraut nuscheliges Timbre passt<br />

perfekt für seine melancholisch-introspektive<br />

Folklore, für Zeilen wie: „Only<br />

blood in your pen, blood on the forskin /<br />

Tags on their bones, the rest is what<br />

your going to live with“ (How quiet<br />

should I be) oder wenn er im gespenstischen<br />

‚Pulse Song‘ „A dead man loves<br />

to sing“ murmelt. Noch schauriger wird<br />

es bei ‚Creep in the Cellar‘ und allmählich<br />

wird einem klar, warum Tager Michael<br />

Gira, Jarboe und Nico, Kafka und<br />

Dostojewsky verehrt. Beim morbiden<br />

Blues ‚Where the Ambulance rolls‘, bei<br />

dem eine Hochschwangere überfahren<br />

wird, mischen Gitarre und Cymb<strong>als</strong><br />

‚wine and fire‘. Dass Tager zusammen<br />

mit Fershtman & Zoe Polanski <strong>als</strong> Ex-<br />

Lion Tamer seinem Faible für Joy Division<br />

und Sonic Youth in Tel Aviv frönt,<br />

bestätigt zwar die Vermutung, die sein<br />

Name weckt. Aber es bestätigt auch die<br />

irritierende Tatsache, dass American<br />

Blues und Folk perfekt <strong>als</strong> ‚Lingua franca‘<br />

für den Tauschhandel von Gefühlen<br />

taugt.


KTL 2 (Editions Mego, eMEGO 085): KTL steht für Kindertotenlieder,<br />

ein Tanz/Theater/Stück von Gisele Vienne &<br />

Dennis Cooper, zu dem Stephen O‘Malley (SunnO))),<br />

Æthenor) & Peter Rehberg (Pita, Fenn O‘Berg) die Musik<br />

schufen. Weder Teil 1 (eMEGO 084, 2006) noch diese<br />

Fortsetzung sind allerdings identisch mit dem Soundtrack,<br />

sondern je eigenständige Sound- oder Dreamscapes.<br />

Wenn man unter Sound etwas Dramatisches versteht<br />

und Traum <strong>als</strong> Tauchfahrt auffasst in überwirkliche<br />

und unterweltliche Zonen. Ein Update von Mahler mit<br />

‚strings, fx, amps, digital osc, apps & drives‘? Um der<br />

Großartigkeit von ‚Theme‘, einer Himmel- & Höllenfahrt<br />

von 27 Minuten, oder den 21 Minuten von ‚Abattoir‘ in der<br />

Musikgeschichte Vergleichbares an die Seite zu stellen,<br />

könnte man sie tatsächlich auf die großorchestralen Prototypen<br />

von Bruckner und Mahler zurückführen. Nur dass<br />

KTL auch alle donnergöttlichen Dröhnwellen und Noisefrequenzen<br />

der Zwischenzeit mit dazu komprimierten!<br />

Die Kompression staucht sämtliche Beats zu einem einzigen<br />

Rauschen, zu einer frenetischen Raserei der Klangmoleküle.<br />

Dunkel brausende und noch finsterer grollende,<br />

stehende, schwellende, leicht schwankende Klangstrahlenbündel<br />

drehen ud drehen und drehen sich in einem<br />

Hochofen, der beheizt wird mit Carcass, Earth, Fear<br />

Falls Burning, Furudate, Nadja, Organ Eye und dergleichen.<br />

Schwarze Wolken werden so sehr gepeitscht oder<br />

erhitzt, dass sie die Schwerkraft überwinden. Vorher hatte<br />

sich ‚Game‘ leise dröhnend und wummernd in die Gehörgänge<br />

gegraben. Und abschließend flattert, sirrt,<br />

dröhnt und twangt ‚Snow 2‘ fast schon wieder irdisch, wie<br />

Desertrock mit Monument Valley- und Morriconepathos.<br />

Mir ist selbst das noch dramatisch genug.<br />

LES KLEBS Les Klebs (Ouie/Dire Production, in DIN A 5-<br />

Plastikbriefumschlag mit Comic): Wer Gesellschaft vermisst,<br />

sollte Seinesgleichen etwas bieten - Hunde lieben<br />

Knochen. Diese lehrreiche Geschichte ohne Worte stammt<br />

von Blex Bolex und landete <strong>als</strong> Phonographic Envelope in<br />

meinem Briefkasten. Den Phonopart lieferte der Klarinettist<br />

Xavier Charles zusammen mit David Chiesa am Kontrabass,<br />

wobei sie von Marc Pichelin mit elektronischen Modulationen,<br />

Jean-Léon Pallandre mit phongrafischen Projektionen<br />

und Laurent Sassi per Live Mixing & Processing<br />

in eine schizophone Szenerie integriert werden. Es erklingt<br />

eine elektroakustische, bruitistische Serenade im Grünen.<br />

Ein Symbiose von improvisierten Instrumentalklängen und<br />

elektronischem Noise, die sich mitten und quasi <strong>als</strong> Teil einer<br />

Illusion von Natur präsentiert. Ringsum zwitschern Vögel,<br />

summen Insekten, plätschert Wasser, quaken Frösche,<br />

rauscht das Meer. Das Schnarren und Kirren der Klarinette,<br />

vom Kontrabass umknarrt, umzirpt und umplonkt, und<br />

das elektronische Sirren, Stechen und Glitchen mischen<br />

sich ‚Ton in Ton‘. Dazwischen Muezzin- und Schäferrufe,<br />

Fahrzeuge brummen vorbei. Nach einer halben Stunde eskaliert<br />

diese plastische Geräuschwelt in einem kakophonen<br />

Rausch, in schrillen Turbulenzen. Dann ein stummes<br />

Loch, eine Spieluhrmelodie und Kuckucksuhrrufe, ein gellender<br />

Pfiff, eine zweite Lärmspitze mit Charles <strong>als</strong> Evan<br />

Parker unter elektronischem Beschuss, aber auch selbst<br />

<strong>als</strong> aggressiver Schädelbohrer. Jetzt Pianissimo, Rascheln<br />

im Wald und ganz leise verschmilzt Les Klebs mit dem Hintergrund.<br />

Ein starkes Stück.<br />

<strong>55</strong>


D e r P r o v o k a t e u r u n d d i e D a m e<br />

KOMMISSAR HJULER UND FRAU live in der Hörbar, Hamburg, 29.06.2007<br />

* Jeden letzten Freitag im Monat veranstaltet der Hörbar e.V. im Kino B-Movie auf St.<br />

Pauli Konzerte mit elektroakustischer improvisierter Musik. Dass dort auch Kommissar Hjuler<br />

und Frau auftauchen würde, habe ich durch Umwege erfahren – nämlich bei meiner Internet-Recherche<br />

zum Stichwort Dieter Roth. Ausgerechnet bei einem bekannten Internetauktionshaus<br />

stieß ich in diesem Zusammenhang auf unseren alten Bekannten, der in einer<br />

Artikelbeschreibung zu einem seiner Elaborate auf diesen Termin und ein etwaiges Anti-Konzert<br />

hinwies. Wenn das kein Grund ist, endlich mal in der Hörbar vorbeizuschauen!<br />

Auf der ansonsten leeren Bühne war nur ein Stuhl mit einem riesigen Teddybären, ein<br />

Verstärker und eine von der Decke herab hängende Polizeiuniform zu sehen. Irgendwann<br />

wurde Musik (so nenne ich das einfach mal) abgespielt. Monotoner Rhythmus, Frauenstimme,<br />

Geschrei, Freddy Teardrop, wieder mal eine Cover-Version, diesmal muss Suicide dran<br />

glauben (fast hätte ich Teddy statt Freddy geschrieben…). Das geduldige Publikum lauscht<br />

und wartet ab, ob da auf der Bühne noch mal was passieren wird. Nach geraumer Zeit erhebt<br />

ein Herr im Publikum seine Stimme und beginnt zu meckern – wie lange soll das denn<br />

noch so gehen? – passiert da noch was? – vorspulen! – das kann ich auch! Besagter Provokateur<br />

geht nach vorne, reißt die Uniform von der Decke und bringt die Leute am Mischpult<br />

dazu, ihm eine monotone Basstrommel einzuspielen, betritt die Bühne und beginnt mit zwei<br />

kleinen Schellenkränzen und Stimme in diesen primitiven Rhythmus einzusteigen – um zu<br />

beweisen dass er das halt auch kann; sich dabei aber auch irgendwie zum Affen macht.<br />

Kurz darauf betritt eine junge Dame die Bühne, setzt sich auf den vorher vom Teddybären<br />

belegten Platz und beginnt mit schriller Stimme zu singen. Natürlich war der Provokateur<br />

Kommissar Hjuler höchstpersönlich, die Dame seine Ehefrau Mama Bär und die Überraschungs-Aktion<br />

mit den mitspielenden Veranstaltern abgesprochen. Sonst hätte vielleicht<br />

noch jemand die Polizei gerufen. Das Publikum hat den Braten frühzeitig gerochen und<br />

machte eher einen amüsierten <strong>als</strong> einen irritierten Eindruck. Endlich mal Humor und echte<br />

Unterhaltung! Nicht immer nur Lauschen, Lauschen, weißes Rauschen. Haben wir Hjuler<br />

die ganze Zeit verkannt? Ist er so etwas wie ein verkappter Helge Schneider der Noise-Kultur?<br />

Nein, so weit kann man nun wirklich nicht gehen! Mama Bär und Kommissar Hjuler sehen<br />

sich <strong>als</strong> ernstzunehmende bildende Künstler im Bereich Malerei bzw. Skulptur, wie<br />

Papa Bär nach der Performance dem Publikum erläuterte, nicht ohne noch zu erzählen,<br />

dass er mittlerweile auch Leute wie Thurston Moore zu seinen Fans zählen kann.<br />

Bei den beiden darauf folgenden Projekten ging es leider weniger amüsant und wesentlich<br />

introvertierter zu.<br />

GZ<br />

56


* Mit Korn (unretected) (SHMF-Korn, CD-R, 51 Expl.) knüpfen KOMMIS-<br />

SAR HJULER UND FRAU an den – natürlich nur vage – song-orientierten<br />

Teil ihrer letzten CD-R Das 77-Retect an. Auch hier werden altbekannte Lieder<br />

neu interpretiert – diesmal dienen fünf Songs von Korn <strong>als</strong> Material. Zugegebenerweise<br />

kenne ich von dieser Gruppe nur das Logo mit dem spiegelverkehrten<br />

„R“. So fällt mir der direkte Vergleich natürlich etwas schwer,<br />

ist aber gar nicht notwendig, Hjuler und Frau sind eh weit genug entfernt<br />

vom Originalklang. Gleich die erste Cover-Version versprüht den spröden<br />

Charme dilettantischer Spielfreude auf perkussivem Orff-Instrumentarium<br />

(ob da schon der Nachwuchs mitwirkt?), angereichert mit Flöten- und Gitarrentönen<br />

und der immer klarer klingenden Stimme von Mama Bär. In den<br />

weiteren Interpretationen ist Frau gleich mehrspurig zu hören. Und irgendwie<br />

fühle ich mich durch ihre Stimme in die frühen 1980er Jahre zurück versetzt,<br />

<strong>als</strong> die Raincoats, Slits oder Siouxie auch noch nicht so perfekt waren.<br />

Musikalisch ist das hier dennoch eine ganz andere Welt. GZ<br />

Mit Grundordnung-Unterschrank-Scooter (SHMF-fdGO, CD-R) liefert<br />

KOMMISSAR HJULER, dem es an Selbstbewusstsein wahrlich nicht fehlt,<br />

<strong>als</strong> Alternative zum klischeehaften Film GG 19 seine „natürlich gelungenere<br />

Umsetzung der Grundordnung <strong>als</strong> Autoscooter mit Schrank auf Rädern.“<br />

Logisch, dass er dabei 19 Runden drehte und 19 Exemplare presste. Er<br />

schreit etwas wie FDGO, Dreiteilung der Gewalt, Hl. Drei Könige, Dreifaltigkeit,<br />

Datenschutz, Deutschland, deine Führer sind alt geworden, der Staat,<br />

übertönt sich aber selbst durch Rollen, Bohren, Scheppern. Ich kann nicht<br />

widersprechen, konsequenter kann man sein Widerstandsrecht (Art.20 GG)<br />

kaum wahrnehmen.<br />

Mit den 11:11 von Endo-/Exocytose (SHMF-136, CD-R) startet der KOM-<br />

MISSAR HJULER dann eine Expedition in die Grundstruktur des Lebens in<br />

Form eine Lektion über Zellen. Dabei lernt man, wobei sich Prof. Hjuler von<br />

Oingoboingo-, Freibier- und Hey Baby-Störversuchen nicht aus der Ruhe<br />

bringen lässt, u. a., dass man unter Zytose die Bildung von membranumschlossenen<br />

Vesikeln (Zellkompartimenten) versteht, die sich unter Verbrauch<br />

des Nucleotids Adenosintriphosphat (ATP) von der Plasmamembran,<br />

aber auch von den Membranen der Zellorganellen abschnüren. Durch spezifische<br />

Zytose werden v.a. Makromoleküle (Proteine, Polynukleotide und Polysaccharide)<br />

in die Zelle aufgenommen (Endozytose) oder aus dieser exportiert<br />

(Exozytose). Berauscht sich der Laie hier an der unbeabsichtigten Surrealität<br />

eines Fachjargons? An einer Phantastischen Reise durch Endosomen,<br />

Lyosomen und den Golgi-Apparat? Über das Innenleben eines ‚Bullen‘<br />

wollen wir erst gar nicht spekulieren.<br />

Polizei ist das, was ich daraus mache, sagt der Kommissar zwischen<br />

den Stühlen. Die seltsame Begegnung eines Simplicissimus teutsch mit Brotkatzen<br />

während einer Beamtenlaufbahn. Schizophone Brandstiftung und<br />

Presswurst-Halluzination<strong>als</strong>ozialismus <strong>als</strong> Spätblüte des Absurden in einer<br />

Flensburger Reihenhaussiedlung. Der komische, bei näherer Betrachtung<br />

aber broternste Kommissar und seine Frau Mama Bär, die ihre Kinder Cy<br />

und Faust Adolf tauften, sind seit 2006 akzeptiert <strong>als</strong> outsider-artistische<br />

Mikroorganismen, von Testcard und dem KunstZwerg Festival in Mainz ebenso<br />

wie von Womensradio in Oakland, YouDontHaveToCallItMusic und Extrapool,<br />

der Gallery Heart Fine Art in Edinburgh und dem Museum Huelsmann in<br />

Bielefeld. Dadurch bestärkt, wagten sich die Hjulers immer ungenierter an<br />

immer heißere Eisen: 4-Elemente-Zionismus, Brotkatze Sohn Israels, Votze<br />

Koch Buch, Homoerotisk Sanger 1: Kackfleck/Kotsuchtsanfall, Gaylord Kennart<br />

Loch, Keks-Streife durch Pornografie. Israel, Schwule, die Würde der<br />

Frau in den Katzenkot gezogen? Aber empfindlich reagieren, wenn ‚linke‘<br />

Labelmacher über einen Cop, und Avant-Snobs über einen in Kunst dilettierenden<br />

Beamten die Nasen rümpfen? Indem das Asylum-Lunaticum-Paar an<br />

die Körpersaft- & Scheiß-‘Ferkeleien‘ der Wiener Aktionisten, an Dieter Roths<br />

Wurst- & Schimmel-Ästhetik und Schmuddelkind-Art Brut anknüpfen, zeigen<br />

sie sich bildungsbürgerlich versiert. Das ist nicht wirklich ein Manko, ach woher<br />

denn, vielmehr etwas, aus dem man was machen kann.<br />

PS: Am Tag nach dem Hörbar-Konzert feierte Kommissar Hjuler seinen<br />

40. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!<br />

57


AARON MARTIN & MACHINEFABRIEK Cello Recycling<br />

/ Cello Drowning (Type Records, Type029): Martin ist ein<br />

Multiinstrumentalist, vor allem aber Cellist, Mitte zwanzig<br />

und zuhause in Topeka, Kansas. Der scheinbare Standortnachteil<br />

hat ihn nicht gehindert, auf dem australischen Label<br />

Preservation sein Solodebut Almond herauszubringen.<br />

Ebensowenig wie er eine Rolle spielte bei der Kollaboration<br />

mit Rutger Zuydervelt, einem Elektroniker aus Arnheim,<br />

der <strong>als</strong> Machinefabriek bereits drei Dutzend Mini-CDrs bespielt<br />

hat. Zusammen erschufen sie zwei dröhnminimalistische<br />

Soundscapes, die Martins Cellosound einbetten in<br />

eine trockene und eine feuchte Klanglandschaft. In beiden<br />

Fällen mutiert das Cello zu einem mal knisternden, mal<br />

tröpfelnden Klangbeben. Der ‚Recycling‘-Track durchsetzt<br />

den sich wie ein Regenbogen wölbenden, wummernden<br />

Om-Ton mit platzenden Detonationen und übermalt ihn<br />

noch einmal mit Strichen, die ihren Ursprung <strong>als</strong> Saitenvibration<br />

zumindest noch ahnen lassen. Ich scheue mich,<br />

dazu ‚ambient‘ zu sagen. In dieser Welt aus singenden<br />

Monolithen könnte man nicht leben, sondern nur staunend<br />

den Atem anhalten und die Wände eines Monument Valley<br />

of Sound anstaunen, so hoch getürmt, dass sie den Blicken<br />

entschwinden. ‚Drowning‘ lässt einen dann im Regen stehen,<br />

Zuydervelt breitet darüber einen metallischen Schimmer,<br />

darunter einen summenden Teppich. Das Tröpfeln<br />

wird zum Plätschern und Rieseln, auch der Summton<br />

schwillt an zu einem ‚Läuten‘ von Unterwasserglocken.<br />

Wohl dem, der eine Arche hat.<br />

CLEMENS MERKEL Michael Oesterle: l‘hiver monastique<br />

(collection cq, CQB 703): 2005 hatte sich schon Philip Gröning<br />

mit seinem Dokumentarfilm Die große Stille, den er in<br />

der Großen Kartause bei Grenoble drehen konnte, in eine<br />

klösterliche Welt versenkt, die völlig durch Kontemplation<br />

und Stille bestimmt wird. Der 1968 in Ulm geborene, 1982<br />

nach Kanada ausgewanderte Komponist Oesterle hat<br />

ebenfalls, schon im Jahr 2000, mit l‘hiver monastique - 70<br />

consolations harmoniques pour violon ein Werk geschaffen,<br />

das ganz einer strengen mönchischen Ordnung unterliegt.<br />

Die Geige betet einen Rosenkranz aus 70 Akkorden.<br />

Repetitionen und Veränderungen fügen sich zu einer<br />

durchgehenden Kette, weil jeder Akkord mindestens eine,<br />

oft auch zwei Noten an den nachfolgenden weitergibt. Interpret<br />

ist der Freiburger Clemens Merkel, der seit seiner<br />

Übersiedlung nach Kanada im Quatuor Bozzini spielt. Die<br />

Aufnahme entstand 2001 in der Hôtellerie St. Norbert in<br />

Winnipeg, 1892 von Trappisten erbaut, inzwischen aber<br />

nur noch Kulturdenkmal. Schon die ersten Töne, so dissonant<br />

gemischt, dass sie so rau kratzen wie man sich<br />

Mönchskutten vorstellen mag, verbreiten eine Aura des<br />

Kargen, Fröstelnden, Monotonen, aber auch eine hartnäckige<br />

Konsequenz und Hingabe. Ihre Unschärfe lässt diese<br />

New Simplicity wie Alte Musik klingen, mittelalterlich, ländlich.<br />

Cages Chor<strong>als</strong> haben einen ähnlichen Duktus, nur<br />

dass Oesterle einen minimalistischen, geradezu Feldman‘esk<br />

langen Atem für Wiederholungen mit ständigen<br />

Verschiebungen verlangt, bei gleichzeitig meist hohem<br />

Tempo. Call & Response-Motive tauchen auf, eine dünne,<br />

klägliche Stimme, der eine dunkle, bestimmtere antwortet.<br />

Oder umgekehrt? Die 70 ‚Tröstungen‘ erstrecken sich über<br />

75 Minuten. Mir vermitteln sie keinen Trost, eher die Mahnung:<br />

Tempus fugit.<br />

58


MIKHAIL Orphica (Quatermass, QS172): Für Typen mit der<br />

Courage, auf dem schmalen Grat zwischen dem Erhabenen<br />

und Lächerlichen zu balancieren, habe ich ein Schwäche. Mikhail<br />

Karikis, dem auf dem Cover Orpheus‘ Leier wie ein Hirschgeweih<br />

aus der Stirn wuchert, ist in Thessaloniki aufgewachsen<br />

und hat, seit längerem in England ansässig, 2005 dort an<br />

der Slade School of Fine Art (UCL) über die Thesis ‘The Acoustics<br />

of the Self’ promoviert. Der Verehrer von Luciano Berio<br />

und Björk beginnt seinen Aufstieg ins Pathos mit dramatischer<br />

Vokalisation und ebenso dramatischer Samplingorchestrierung.<br />

„I use computers, acoustic instruments, environmental<br />

sounds and voice, combining the sounds of harps with scissors<br />

and knives, insects with harpsichords and tympani, voice with<br />

inner-body sounds and scratched cds.“ Auf den Weg zum Gipfel<br />

tritt er, schwankend zwischen Xiu Xiu- und Scott Walker-<br />

Ambitionen und seinem Björk-Fimmel, ungeniert allerhand<br />

Bockküttel breit. Nichts ist hier nicht manieristisch, von knurrigen<br />

oder glossolalen Gesangsfetzen voller Shouts und Ziegengemecker<br />

bis zur bizarr gesampleten Musik, mit Streichern,<br />

Bläsern, undefinierbaren perkussiven oder elektronischen Effekten<br />

und, Gipfel des Präziös-Prätentiösen, Cembalo- oder<br />

Harfengeplinke aus einem mythischen Labor. Ich schaudere<br />

und bin doch fasziniert. Mikhails Orpheus Redivivus stammelt<br />

mit inspiriertem, hingerissenem Überschwang ohne Worte<br />

oder flötet Zeilen, die einen umflattern wie die Fledermäuse<br />

aus den Höhlen des Olymp: „In my confusion of stars / i summon<br />

constellations / you’re quivering / please don’t / don’t /<br />

with a sword in one hand / and a jasmine-scented night in the<br />

other / i gather saints for you“ (‚Archon‘) und „Rave in me /<br />

Maenads / rave in me / Maenads / i abandon / entrancing scent<br />

/ entrancing scent / i abandon me“ (‚Maenads‘). Als Argonaut<br />

eines imaginären Hellas berauscht sich Mikhail an goldneren<br />

Düften <strong>als</strong> ein Widderfell sie verströmt, sein dithyrambischer<br />

‚Love Song‘ ist ein einziges becirctes Grunzen und Rüsseln<br />

nach Paradieses-Luft. Grotesk und irritierend wie Nietzsches<br />

‚Kühe der Höhe‘ und ‚Basilisken-Eier‘, aber die sinnliche Demonstration,<br />

dass ein Europäer doch anders kann.<br />

JÜRGEN MORGENSTERN Ukulele Sketchbook (NurNichtNur,<br />

BERSLTON 105 0514): Von Beins war schon und von Renkel<br />

ist anschließend die Rede. Der Kontrabassist Morgenstern, ihr<br />

Partner beim Beitrag zur <strong>BA</strong> XVIII-Kassette, kreuzt nun ebenfalls<br />

erneut meine Wege, wie zwischenzeitlich schon mal mit<br />

dem Ensemble Sondarc. Ansonsten kann man in Trios mit<br />

Klapper & Ulher oder Hubweber & Lytton auf die Bassarbeit<br />

des Hannoveraners stoßen. Hier knurpst er an einer Ukulele<br />

herum wie ein Hund, der seinen Knochen exzessiv abnagt. Das<br />

Instrument, in Hawaii ‚Hüpfender Floh‘ getauft, mit dem Tiny<br />

Tim auf Zehenspitzen durch Tulpen trippelte und das Marilyn<br />

Monroe an ihren Sugar-Busen drückte, bevor Stefan Raab darauf<br />

seine Raabigramme intonierte, das beharkt und bekrabbelt<br />

Morgenstern in Eleluku Reasearch zusammen mit W.<br />

Brodsky & H. Wörmann sogar im Trio. Hier traktiert er den Floh,<br />

der um die ganze Welt gehüpft ist, so, dass nicht nur Tierschützer<br />

aufhorchen. Die Grenze zwischen Spiel und Misshandlung<br />

verschwimmt in Morgensterns Art Brut. ‚Unplugged<br />

amplified‘, ‚con arco‘, ‚arco et vox‘ oder ‚Selbtritt (overdub)‘<br />

tragen ihre Machart auf der Stirn, das meiste bietet einem dieselbe,<br />

indem es störrisch darauf beharrt, dass Musik nun mal<br />

mit Geräuschen verbunden ist. Manchmal hört man sogar,<br />

dass die Ukulele auch Saiten hat (‚arib m‘, ‚pas de deux‘), und<br />

‚akaroa‘ klingt einfach nur schön.<br />

59


MURCOF Cosmos (The Leaf Label, <strong>BA</strong>Y 59): Fernando Corona<br />

ist, seitdem ihm <strong>BA</strong> das letzte Mal begegnete anlässlich<br />

des 2004 ebenfalls bei Leaf heraus gekommenen Remixprojektes<br />

Utopia, nach Barcelona umgesiedelt. Die Zwischenzeit<br />

war erfüllt von Soundtrackarbeiten und Kollaborationen mit<br />

dem Pianisten Francesco Tristano oder mit Erik Truffaz &<br />

Talvin Singh auf dem Montreux Jazz Festival 2006. War sein<br />

letztes Album Remembranza (2005) noch bestimmt gewesen<br />

von der Trauer über den Tod seiner Mutter, orientiert sich<br />

der Mexikaner nun spacewärts, wobei ihm Klangbilder von Ligeti<br />

oder SunnO))) durch den Hinterkopf gingen. Er entwickelt<br />

allerdings eine ganz eigene Palette dröhnminimalistischer<br />

Orchestralität. Sein virtuelles Orchester ist ein gedämpfes<br />

Arcanum aus sonoren Strings und nahezu stiller Latenz,<br />

aus der kurze rhythmische Erruptionen und ebenso kurze<br />

Chorfetzen aufflammen (‚Cuerpò celeste‘). Bei ‚Cielo‘ gerät<br />

eine geknickte Rhythmusspur in Bewegung, wiederum<br />

von dunklen Frauenstimmen und dünnen Geigenfiguren umspielt.<br />

Und auch ‚Cometa‘ lässt einen knickebeinigen Beat<br />

wie eine Swastika gen Sonnenuntergang rollen, von zarten<br />

Pianonoten umtupft, von dunklen Cello- und hellen Violinstrichen<br />

und Aaa-Vokalisen flankiert. ‚Cosmos I‘ ist dann nur<br />

noch erhabenes Himmelsbeben aus basslastigem Brass, wie<br />

Adagiopassagen bei Mahler, aus grollenden und schnarrenden<br />

Posaunen und Tuben, die die Unendlichkeit schwarz in<br />

schwarz tönen, und ‚Cosmos II‘ ein gewaltig schwellender Orgeldrone,<br />

Volumina, der in einen Lux Aeterna-Chor überzugehen<br />

scheint, aber unvermittelt abricht in Stille. Aus der<br />

dringt dann ‚Oort‘ hervor, erst nur zartes Glockenspiel - in<br />

das plötzlich Blitz und Donner einschlagen - Cello und eine<br />

dunkle Flöte erbeben - eine zweiter Donnerschlag, schnarrendes<br />

Brass stagniert - und eine dritte Erruption, die Cello<br />

und Flöte dissonant verbiegt - und ein vierter noch gewaltigerer<br />

Ausbruch, nach dem Funken vom Himmel regnen. Die<br />

bis ins Innerste durchgeschüttelten Klangspuren zittern noch<br />

lang nach und verhallen allmählich <strong>als</strong> leises Summen im Unhörbaren<br />

- - - Was für ein gewaltiges Stück vom Urknall!!!<br />

NAD SPIRO Tinta Invisible (Geometrik Records, GR-DIGI-03):<br />

Wie mag Musik klingen, in die gleichzeitig Erinnerungen an<br />

den Annaghmakerrig Lake in Irland, das Low-Life in Berlin<br />

und an Fad Gadget eingeflossen sind, die Philip K. Dick <strong>als</strong><br />

Orakel nimmt und den perversen Lullabies des Autors von<br />

Fight Club und Guts lauscht? Stranger <strong>als</strong> die übliche Sonic<br />

Fiction? Rosa Arruti pendelt mit ihrem Space Elevator Noir<br />

zwischen dem Fegefeuer und den Sternen. Sie zerschrotet<br />

Gitarrensounds, bei ‚Time Track‘ sogar ausschließlich Gitarrenklang.<br />

Sie flüstert Geschichten, aber auch ihre Worte<br />

werden zermahlen und weggeblasen. So schreibt sie ihre<br />

elektronische Poesie mit unsichtbarer Tinte, in einen trüben<br />

Fluss aus Geräuschen. Alle ihre Klangbilder, ihr ‚Eye TV‘,<br />

auch ihre Beats, sind verunklart, verwischt, verzerrt, sie<br />

quellen <strong>als</strong> surreale Tintentropfen im Schwerelosen, zucken<br />

<strong>als</strong> Spritzer durch Nad Spiros ‚Soundhouse‘. Der Frankfurter<br />

Lars Müller alias Victor Sol hat die Lofi-Minimalistik seiner<br />

Kollegin aus Barcelona gemastert, die sich schon mit dem<br />

Vorgängeralbum Fightclubbing (2003) auf Palahniuk bezogen<br />

hatte, während sie bei ihrem Debut vs. Enemigos De Helix<br />

(2000), die beide ebenfalls schon auf dem Esplendor Geometrico-Label<br />

herausgekommen sind, nur vage andeutet, dass<br />

sie <strong>als</strong> Sympathisantin der Cacophonous Society mit ihren<br />

Spirotechnics anarchische Ziele verfolgt.<br />

60


SEAN NOONAN BREWED BY NOON Stories to Tell (Songlines Recordings,<br />

SGL SA1563-2): Sean Noonan ist ein wahrer Champion, nicht bloß vordergründig<br />

durch seine berserkerhafte Schlagtechnik <strong>als</strong> Thrash-Jazz-Trommler<br />

von The Hub. Mit Brewed By Noon, 1999 mit den Gitarristen Aram Bajakian<br />

und Jon Madof und Thierno Camara am E-Bass begonnen, macht er etwas<br />

ziemlich Verrücktes, er verlegt Irland an die Westküste Afrikas. Der virtuose<br />

Pastorius-Jünger Camara, der, bevor er nach New York kam, in der<br />

senegalesischen Allstarformation Sora gespielt hat, verkörpert mit seinem<br />

Griotbackground den anderen Pol dieser Kontinentaldrift. Der mit dem<br />

Jewish Power-Trio Rashanin bekannte Madof komplettiert das, was hinter<br />

dieser ‚Drift’ steckt - die den Juden, Afrikanern, Armeniern und Iren gemeinsame<br />

Geschichte von Vertreibung, Auswanderung, Diaspora. Brewed By<br />

Noons Zweitling nach dem Debut 2005 enthält mit ‚Scabies’ und ‘Esspi’ zwar<br />

auch noch Stoff, den Noonan schon im Duo mit Bajakian auf ChiPS (2003)<br />

vorgewärmt hat, der jetzt aber luxuriös ausgestaltet wird. Stellenweise<br />

durch perkussive Verzierungen von Jim Pugliese und dem Djembespieler<br />

Thiokho Diagne, ausgiebig durch Mat Maneri mit seiner Viola, vokal durch<br />

Abdoulaye Diabaté aus Mali, der in Bambarasprache von einem verirrten<br />

Elefanten erzählt, Susan McKeown, die auf Gälisch das Traditional ‚Ar Maidin,<br />

Ar Nóin’ singt, und die nigerianische Sopranistin Dawn Padmore, die<br />

soulig von unreifen Ananas abrät. Die Titel ‚Noonbrews’ und ‚Urban Mbalax’<br />

machen deutlich, um was es geht - einen phantasievollen Melting Pot-Eintopf<br />

und um die städtische Kompression afro-kubanischer Grooves, die zwischen<br />

den atlantischen Küsten hin und her pendeln. Herzstück ist das dreifache<br />

Simulakrum des Gitarrenpickings der afrikanischen Westküste, das selber<br />

schon eine Kora simuliert. Nur dass dieser Gitarrenklingklang eingebettet ist<br />

in ein Kaleidoskop aus elektroakustischen Beats und eklektizistischen Songs<br />

und bei ‚NY’ und ‚Scabies’ alle Fesseln sprengt. Wenn McKeow und Diabaté<br />

sich im selben Lied begegnen, ist das zwar bizarr, auf der Gefühlsebene<br />

aber absolut stimmig, vor allem wenn Ribot dazu noch ein Himmelfahrtssolo<br />

erfindet und mit jedem seiner sechs Gastspiele anders verblüfft. Diese sehr<br />

New Yorkische Mixtur zusammen mit Noonans flexiblem, dynamischen Drumming<br />

verwandelt eben nicht bloß Folklore in Jazzrock, sie lässt ‚Weltmusik’<br />

wieder unerhört klingen und endet mit ‚Dr. Sleepytime’, einem Duo für Gitarre<br />

und Vierteltonviola, wie man es sich nicht hätte träumen lassen können.<br />

PEOPLE LIKE US & ERGO PHIZMIZ Perpetuum Mobile (Soleilmoon Recordings,<br />

SOL 156): Plunderphonisches Pingpong, gespielt mit britischem Humor<br />

hoch 2. Von ihrer sampladelischen Samplemanie (ich hoffe, man erkennt<br />

hier meine Highbrowanspielung auf Beastly Beatitudes?) hinreißen ließen<br />

sich Vicky Bennett und der Soundpoet und musikalische Witzbold Ergo<br />

Phizmiz. Dieser ‚Pop Prankster‘ zählt Saties Socrate aber auch “chromatic<br />

descending scales and that plink-plonk style“ zu seiner Lieblingsmusik. Seine<br />

eigenen Kreationen tragen zungenbrecherische Namen wie ‚Phwinums’<br />

oder ‚Gwelyhrsras’, zappe(l)n zwischen ‚Mind-virus kabaret’ und ‚Schellack<br />

Inferno’ und bringen Tonträger wie zuletzt Nose Points in Different Directions<br />

und Ergo Phizmiz & his Orchestra (beide Womb Rec.) arg ins Schwitzen.<br />

M: 1000 Year Mix (Match My Foot / Arts Council) staucht 1000 Jahre Musik<br />

auf zwei 7“-Seiten. Mit Vicky Bennett hat der selbsternannte Duke Ergo Of<br />

Phizmiz the 1st aus geplünderten Easy-, Exotica- & Gimmick-Scheiben neue<br />

Songs gebastelt, die, mal sehr, mal ungefähr, nach altbekannten klingen.<br />

Dazu singen, und das ist der eigentliche Clou, die beiden selbstgestrickte Lyrics,<br />

denen man nicht wirklich zu nahe tritt, wenn man sie <strong>als</strong> Nonsense bezeichnet.<br />

Auch wenn sie ‚funny’ lieber hören. Ein Mambo verfällt mit einem<br />

Wechselschritt in 3/4-Takt, die Comedian Harmonists singen Offenbach, Spike<br />

Jones kollidiert mit Carl Stalling, Cha Cha Cha-Tänzer stolpern über Hawaii,<br />

Can Can über Bluegrass. Auf Kitsch as Kitsch can mit Golden Oldies-<br />

Schmus folgen in atemlosem Tempo Looney Tune-Geschnatter, Eskimoloops,<br />

Humptata, Ja Ja Ja auf Ne Ne Ne, auf Alice Liddell Nelson Riddle. Ad<br />

infinitum. Entertainment wird <strong>als</strong> durchgedrehtes Perpetuum mobile ad absurdum<br />

geführt und bleibt doch unverwüstlich - unterhaltsam.<br />

61


PHONO Phono (Absinth Records, Absinth014, oversized<br />

cardboard cover with hand printed screen<br />

print gouache): Elektroakustik im Berliner Vivaldisaal.<br />

Sabine Vogel, Magda Mayas & Michael Renkel<br />

verflechten die Klänge von Flöte, Piano und akustischer<br />

Gitarre und durchmischen ihre improvisierten<br />

Klanggespinste mit Synthesizer & Electronics.<br />

Von Vivaldi bis zu diesen ‚stillen‘ Detonationen, diesem<br />

immer wieder von Atempausen gedämpften<br />

Feilen an der Klangwelt, war ein langer Weg. Wenn<br />

auch bei weitem nicht so lang wie der Weg zu Vivaldi.<br />

In gewisser Weise ist es auch eine Rückkehr zu<br />

einem musikalischen ersten Schöpfungstag, zu einer<br />

denkbar, zumindest scheinbar einfachen Arte<br />

Povera. Und zwar auf sublime und alles andere <strong>als</strong><br />

naive Weise. Durchwegs lässt das Trio große Vorsicht<br />

walten, <strong>als</strong> ob die Störung der natürlichen Stille,<br />

das Sich-Hörbar-Machen, ein ritueller Akt wäre.<br />

Eine heikle Imitation der Wind- und Wassergeister.<br />

Piano und Synthesizer klingen nach Windspiel, sie<br />

funkeln und blinken, die Gitarre zirpt und pocht, die<br />

Flöte fiept und haucht. Alles klingt elementar und<br />

noch wie prä-faunisch. Die Electronics unterstützen<br />

eher diese Camouflage von ‚Natürlichkeit‘, statt<br />

durch ‚anachronistisch‘ technoide Aspekte zu irritieren.<br />

Die Musik scheint nicht nur nicht prothesengöttlich<br />

wirken zu wollen, sondern weitgehend ichlos,<br />

fast anthropofugal. Und ist ‚natürlich‘ das Gegenteil,<br />

finessenreich, konzentriert, reflektiert. Fast<br />

demonstrativ wandelt sie die Not ihres Spätgekommenseins<br />

und ihrer Decadence zur Tugend, die das<br />

Wenige, das heute möglich scheint, auch möglich<br />

macht.<br />

PJUSK Sart (12k 1042): Sart kann für Vieles stehn,<br />

nicht zuletzt für eine 1971er ECM-Einspielung von<br />

Jan Garbarek, einem Landmann von Jostein Dahl<br />

Gjelsvik & Rune Sagevik, und bedeutet da wie hier<br />

‚zart‘ & ‚sanft‘. Auf 12ks Blueprints-Compilation hatten<br />

die beiden bei ihrem Debut schon ihre Ambition<br />

angedeutet, von der Blaupause transusiger Dröhnseligkeit<br />

abzuweichen. Dazu durchsetzen sie ihre<br />

atmosphärischen, Moll getönten Soundscapes mit<br />

ominösen Geräuschen, einem Rauschen wie von<br />

Wind oder Verkehr oder einfach der Tonbänder<br />

selbst, von vagem Stimmengewirr und Hantieren.<br />

Statt konkret zu werden, sind die Szenen jedoch<br />

übermalt von den flüchtigen Klängen von Gitarre,<br />

Flöte oder Stimme und überblendet von Geräuschen,<br />

die zu uneindeutig sind, um sie <strong>als</strong> knarrende<br />

Schritte in Schnee oder <strong>als</strong> knisterndes Eis oder<br />

Dergleichen zu identifizieren. Auf das geräuschhafte<br />

Unterfutter sind immer wieder melodiöse und<br />

manchmal sogar halbwegs rhythmische Electronicaspuren<br />

aufgetragen. Die Low-Fidelity scheint dabei<br />

gewollt <strong>als</strong> eine Art Echtheitsstempel dieser<br />

nordischen Seelenlandschaften. Titel wie ‚myk‘ =<br />

soft, ‚vag‘ = unbestimmt, ‚stadig‘ = stets, ‚anelse‘ =<br />

Ahnung, ‚rim‘ = Reim oder ‚rav‘ = Bernstein deuten<br />

die ätherisch verschleierte, nostalgisch umsponnene<br />

Zone an, in die sich diese Klangpoesie hinein zu<br />

träumen und zu tasten anschickt.<br />

62


PURE SOUND Submarine (Euphonium, EUPH005): Mehr<br />

noch <strong>als</strong> Yukon (-> <strong>BA</strong> 52) ist Submarine eine Art Hörspiel.<br />

In 12 kleinen Szenen, Songs dazu zu sagen, wäre übertrieben,<br />

wird in einer Mixtur aus Spoken Word-Lyrics und vinylkonserviertem<br />

O-Ton erzählt vom Untergang der Lusitania<br />

und das Ganze durchsetzt mit Erinnerungen an den 2.<br />

Weltkrieg. Federführend war erneut Ex-A Witness Vince<br />

Hunt (bass, tapes, voc<strong>als</strong>) in Manchester zusammen mit<br />

Boz Hayward (guitars, piano, voc<strong>als</strong>). In nur 28 Minuten<br />

kreuzen sich erlebte Schrecken vor einer geschichtlichen<br />

Folie aus Krieg und Kriegsproduktion (der Lärm eines<br />

Stahlwerkes in Sheffield) mit Hunts Familiengeschichte<br />

(sein Vater hatte ebenfalls im Krieg gedient) und seinem<br />

gegenwärtigen Befinden. Man hört die Stimmen von Küstenwachen<br />

und von Fischhändlern (was mir unwillkürlich<br />

Charles Forts ‚fishmongerish‘ in den Sinn bringt). Hunt räsoniert<br />

über das Kartenhaus, das er sich gebaut hat oder<br />

spricht Sätze wie „My dreams are just full of traffic / Warm<br />

rain and ponytails / It‘s a devastating change.“ Jeder Mosaikstein<br />

ist individuell instrumentiert, mit Rockdrumgerumse,<br />

schroffer Schrammel- oder sparsamer Klampfgitarre,<br />

Basstupfern, einzeln gesetzten Pianonoten, Signallauten<br />

(die Peil-Pings eines U-Boots) und Störgeräuschen. Im Detail<br />

irritierend und in der Summe irritierend, dabei so englisch,<br />

dass ein Kraut allein schon dadurch irritiert wäre.<br />

PUSH THE TRIANGLE Repush Machina (D‘Autres Cordes<br />

records, d‘ac091): Ahh, das Label, das Light Fuse and Get<br />

Away von The Hub herausgebracht hat! Der Gitarrist &<br />

Turntablist Franck Vigroux hat sich damit aber in erster Linie<br />

ein eigenes Forum geschaffen, für die Hörspiel-Trilogie<br />

Lilas Triste (2003), Looking for lilas (2004) & Triste Lilas<br />

(2005) und für Cos la machina (2005), letzteres schon mit<br />

Push The Triangle, seinem Trio mit Stéphane Payen am<br />

Altosax und dem Drummer Michel Blanc, dessen eigener<br />

D‘ac-Release Le Passage Eclair (2006) Bände spricht für<br />

seine Kreativität. Die beiden gehören zu Vigroux‘ ständigen<br />

Mitstreitern neben der Harfinistin Hélène Breschand,<br />

dem Kontrabassisten Bruno Chevillon und Gitarrenkollegen<br />

wie Marc Ducret und Elliott Sharp, mit dem er <strong>als</strong> Skinhead-Duo<br />

Elektrokrach macht. Wie schon die The Hub-<br />

Connection vermuten lässt, spielen Push The Triangle Dirty<br />

Jazz à la Française. Schrille Gitarrenriffs, außerordentlich<br />

bewegliches Getrommel und stürmische Saxophonzackenkämme,<br />

verwandt mit Etage 34, aber mit eigener improvisatorischer<br />

Wendigkeit, die selbst bei einem Titel wie<br />

‚L‘Agitation‘ Löcher ins Triangel-Gewebe reißt. Nichts ist<br />

hier zentralgesteuert, jeder ist ein Repush-Guerillero, der<br />

den verabredeten Kampfauftrag verinnerlicht hat. Das<br />

ausschweifende ‚My Dear Chloe‘ reizt Volume- und Tempowechsel<br />

exzessiv aus. Payen, ansonsten Anführer von Thôt<br />

und mit Sylvain Cathala die Saxophondoppelspitze von<br />

Print, akzentuiert mit seiner jazzigen Dynamik mal die<br />

knappe Schärfe, dann wieder die sprudelnde Quecksilbrigkeit<br />

der Repush-Maschine, deren MySpace-Links mich<br />

durch französisches Neuland flippern bis zu Silex und United<br />

Colors of Sodom. Repush Machina endet mit dem turntablistisch<br />

vereierten ‚The Blame‘, das mit wummernden<br />

Bassschlägen in einem Paralleluniversum verschwindet,<br />

zu dem sich vorher schon ‚Triste (19 Semaines)‘ durchgebissen<br />

hatte, eins, in dem Sarkozy nicht gewählt wurde.<br />

Vive la France maudit!<br />

63


JAMES SAUNDERS # [unassigned]<br />

(Confront 15, 2 x CD): Dieser 1972 geborene<br />

und <strong>als</strong> Senior Lecturer in Music und<br />

Leiter des composition department an der<br />

University of Huddersfield verankerte Brite<br />

ist eine prototypische Gestalt der Musica<br />

Nova, mit einschlägigen Visiten in Darmstadt<br />

(Stipendienpreis der Internat. Ferienkurse<br />

1998, #070702, Nicolas Hodges, &<br />

#190702, Ensemble Resonanz, 2002), Witten<br />

(#280402, 2002) und demnächst im Experiment<strong>als</strong>tudio<br />

für Akustische Kunst des<br />

SWR (#280607, Ensemble Chronophonie)<br />

und bei den Donaueschingener Musiktagen<br />

(#201007, Ensemble Modern). Was da<br />

immer wieder <strong>als</strong> Zahl auftaucht, sind die<br />

Titel in der Form #TTMMJJ. # [unassigned]<br />

ist eine proteische Komposition in potentiell<br />

unendlich vielen Gestalten. Bei mir<br />

läuft nun # 050507 für Cello & Klarinette,<br />

interpretiert von zwei Mitgliedern von<br />

Apartment House, dem Klarinettisten<br />

Andrew Sparling und dem Cellisten Anton<br />

Lukoszevieze, aber nur deshalb, weil ich<br />

CD1 # [unassigned] cello und CD2 # [unassigned]<br />

clarinet gleichzeitig abspiele. Jede<br />

zeitliche Verschiebung oder der Randommodus<br />

für den einen oder den anderen<br />

Monolog kreieren Variationen der Komposition,<br />

Versionen, die Saunders nicht nur<br />

in Kauf nimmt, sondern nahelegt. In #<br />

[unassigned] kulminieren konzeptionelle<br />

Aspekte der Indeterminacy von Cage, speziell<br />

der Number Pieces, der Aleatorik von<br />

Stockhausens Klavierstück XI, von Cardews<br />

Treatise und wenn man so will sogar<br />

von On Kawaras Date Paintings. Wie die<br />

Publikation bei Confront schon vermuten<br />

lässt, schreibt Saunders den Spielern äußerst<br />

reduzierte Klangbilder vor, gehauchte<br />

und geschabte Passagen zwischen<br />

Pianissimo und Stille. Klänge, die,<br />

um nicht im Alltag- und Außenlärm unterzugehen<br />

wie ein Tropfen Wasser im Fluss<br />

der Zeit, Orte der Stille verlangen, Zengärten,<br />

Kammermusikenklaven oder ein High<br />

Fidelity-Lebensumfeld. Saunders dosiert<br />

die Dymanik mit grösster Sorgfalt. In lange<br />

Tranquillo-Passagen in pp und ppp, für die<br />

schon Metaphern wie ‚Glasperlen-Puzzle‘<br />

oder ‚absoluter Gipfel der leisen Töne‘ gewählt<br />

wurden, lässt er Energico-Blitze einschlagen,<br />

unvermutet setzt er kurze und<br />

abrupte Akzente in Mezzoforte oder Forte.<br />

Er ist ein Meister der Sorgfalt innerhalb jenes<br />

merkwürdig mehrdeutigen ästhetischen<br />

Feldes, das offen lässt, ob es <strong>als</strong><br />

Schule der Aufmerksamkeit besucht werden<br />

will, <strong>als</strong> Soundtrack für meditative<br />

Konzentration taugen soll, oder <strong>als</strong> subliminale,<br />

ambiente Folie für Gedankenfluchten<br />

und Tagträumereien.<br />

MARCUS SCHMICKLER with HAYDEN<br />

CHISHOLM Amazing Daze (Häpna, H.32):<br />

Der Kölner Elektroakustiker zieht sich <strong>als</strong><br />

ein Faden durch <strong>BA</strong>, der für Qualität und<br />

Echtheit bürgt, vom Frühwerk Onea Gaku<br />

(1993) über POL und Pluramon, den Soloarbeiten<br />

Wabi Sabi (1997) und Sator Rotas<br />

(1999), den Improvisationen mit Mimeo,<br />

Lehn, Rowe, Nakamura und Tilbury bis zuletzt<br />

DEMOS für Chor, Kammerensemble<br />

und Elektronik (-> <strong>BA</strong> 52). Mit ‚Amazing<br />

Daze (for Phill Niblock)‘ & ‚Infinity in the<br />

Shape of a Poodle (for Björk)‘ knüpft<br />

Schmickler an Param (2001) an, seine 7<br />

Übungen in zeitgenössischer Kammermusik.<br />

Sein neuseeländischer Partner, bekannt<br />

<strong>als</strong> Saxophonist von Nils Wograms<br />

Root 70 und heuer mit The Embassadors<br />

auf dem Moers Festival zu hören, bläst für<br />

‚Amazing Daze‘ Dudelsack und für<br />

‚Infinity...‘ die japanische Bambusmundorgel<br />

Sho und spendet damit den Klangstoff<br />

für zwei dröhnminimalistisch schimmernde<br />

Wellenbündel, zwei dronologische Bordune,<br />

für die prototypisch der Name<br />

Niblock stehen könnte. Zu denken wäre<br />

aber auch an Scelsis Bohren nach dem<br />

‚Inneren des Tones‘. Björk verdiente sich<br />

ihre Widmung, weil sie den Klang einer<br />

Sho, der den Schrei des Phönix imitiert, im<br />

Soundtrack Drawing Restraint 9 popularisierte.<br />

Das Spiel mit Drones lässt sich deuten<br />

<strong>als</strong> westlicher Widerhall von asiatischen<br />

Bordunen, die das universale Kontinuum<br />

feiern. Als Suche nach dem ‚white<br />

bliss‘ in der Auflösung aller Differenzen.<br />

Schmickler selbst spricht (in Positionen 71)<br />

von einem „Paradigma des weißen<br />

Rauschen“, das solche Musiker eint, die im<br />

‚schwarzen Loch‘ eines undefinierten<br />

‚Dazwischen‘ musikalische Grenzen auflösen<br />

und dabei Referenzsysteme und sogar<br />

den Warencharakter selbst polyvalent aufheben.<br />

Ähnlich wie Jim O‘Rourke und Otomo<br />

Yoshihide, ist Schmickler ein Experte<br />

des Nicht-Festgelegten und der radikalen<br />

Subjektivität und damit Teil einer postmodernen<br />

Brother- & Sisterhood, die neben<br />

ihrer ausgeprägten Idiosynkrasie allenfalls<br />

ein besonderes Verhältnis zu Klangfarbe,<br />

Geräusch und der ‚Summe aller Töne‘ eint.<br />

Nahe Verwandte dabei sind Marhaug & Asheim<br />

mit dem Orgel-Electronics-Werk<br />

Grand Mutation, Angel & Hildur Gudnadottir<br />

mit In Transmediale, Osso Exótico &<br />

Verres Enharmoniques mit Folk Cycles<br />

oder Area C mit Haunt. Sie alle operieren<br />

mit obertonreich schimmernden Frequenzspektren,<br />

die in der Summe Weiß ergeben,<br />

und mit dem Nervenkitzel eines<br />

schrillen, dissonanten Sägezahndiskant,<br />

der zwischen Schmerz und Lust vibriert.<br />

64


SIGNAL TO NOISE Vol. 2 & 3 (For 4 Ears Records, FOR4EARS CD 1864 /<br />

1865): Schweizer Präzisionsarbeit zwischen Onkyo, Zen und hypermoderner<br />

japanischer Architektur. Die mit Vol.1 (-> <strong>BA</strong> 53) begonnene Dokumentation<br />

der Abenteuer einer Handvoll Schweizer Elektroakustiker im Fernen<br />

Osten bringt einmal das Meeting von Tomas Korber (guitar, electronics),<br />

Christian Weber (contrabass) & Katsura Yamauchi (sax) am 7.3.2006 im<br />

YCAM Yamaguchi. Die Drei zupfen an den Ohrläppchen mit sparsamen<br />

Plonks des Kontrabasses, feinen Feedbackdrones und stehenden Wellen<br />

von Korber und Fauchtönen des Saxophons, untermischt mit Klappengeräuschen<br />

und ganz reduzierten Lauten, wenn Yamauchi die Luft nicht am<br />

Mundstück vorbei pustet, sondern in monotoner Einsilbigkeit durchs Rohr<br />

selbst. Der 1954 in Oita, Kyushu geborene Japaner hatte 20 Jahre lang <strong>als</strong><br />

Angestellter gearbeitet, bevor er sich seit 2003 ganz auf seine Musik mit Alto-<br />

& Sopranosaxophon konzentriert. Dem zweiten Track gibt er mit pulsierenden<br />

Pumplauten sein Gepräge, zu denen Weber nun unruhigere Griffe<br />

oder Arcogebrumm untermischt, während Korber elektronische Wind- und<br />

Gischtgeräusche verströmt. Das Pulsieren klingt ab und es bleiben nur der<br />

brummige Bass und ein atmosphärisches Rauschen und nadelfeines Piksen.<br />

Am 7.2.2006 in der Tokyo University wurde der Zusammenklang von Jason<br />

Kahn (analog synthesizer), Norbert Möslang (cracked everyday-electronics)<br />

& Günter Müller (ipod, percussion, electronics) mitgeschnitten. Dabei inszenierten<br />

drei Perpetuum-Mobilisten eine pulsierende, tickende, dampfende,<br />

motorisch wummernde Betriebsamkeit. Dröhnminimalistische Striche und<br />

mehrstimmig rotierende Unruhe verdichten sich mit industrialem Automateneifer,<br />

der allerdings nichts produziert <strong>als</strong> sich selbst. Wobei Kahn, Möslang<br />

& Müller zu einem Team verschmelzen, bei dem nur der kollektive Output<br />

zählt. Bei Track 2 scheint ein (der?) Geist in der Maschine zu erwachen<br />

und beginnt in paranormaler Tonbandsprache zu lallen, von Maxwell‘schen<br />

Dämonen umknackt und umsirrt. Durch die Mehrspurigkeit und Aleatorik<br />

wirkt die Automatik komplex bis hyperkomplex. Die Unterschiede zwischen<br />

Signal und Noise werden aufgehoben. Das kann man <strong>als</strong> ‚sublim‘ empfinden,<br />

oder <strong>als</strong> organlos maschinell, identitätsdiffus, polymorph-pervers.<br />

SIX TWILIGHTS Six Twilights (Own Records, ownrec#35, CD + DVD): Aaron<br />

Gerber von A Weather macht in Portland von Melancholie umschleierte<br />

Singer/Songwriter-Folktronic. In das Klangunterfutter sind Gitarren- und<br />

Keyboardfäden mit eingewebt zu gefühlsecht samtigen oder seidig schimmernden<br />

Schmusedecken. Die Sinnlichkeit wird noch verstärkt durch die<br />

unschuldig-lasziven Stimmen von Liz Isenberg und Zoë Wright, die sich in<br />

diese Stoffe schmiegen wie Marilyn auf jenem Kalenderblatt, bei dem sie<br />

nur ‚das Radio‘ anhatte. Isenberg entpuppt sich dabei <strong>als</strong> bausbäckiges Mädel<br />

in Northampton, MA mit eigenem Jungmädchenblütenfolk auf Leisure<br />

Class. Six Twilights ist so etwas wie das Laptop-Update der Silence is the<br />

new loud-Folklore von A Weather, Exploration Team, Horse Feathers oder<br />

Musee Mecanique, Portlands übrigen zarten Seelen, die, auf Daunenfederempfindsamkeit<br />

eingestellt, das Leben schon <strong>als</strong> weich gekochte Erbse<br />

stört, die lieber den Finken lauschen und an Lavendel schnuppern. Wie Parzival<br />

scheint Six Twilights von drei Blutstropfen im Schnee und von ‚oak<br />

trees like stray hairs‘ gebannt und zu versuchen, diesen Bann hörbar zu<br />

machen, elektronisch verrätselt wie überalterte, eiernde Tonbänder. Die<br />

Musik ist nur ein morphendes Georgel, der Gesang ein Hauchen und Flüstern,<br />

durchsetzt mit intimen Atemzügen. Dazu gibt es dann ein entsprechendes<br />

Poesiealbum für Augen, die das Abendgold und Nachtblau des Horizontes<br />

abtasten oder die Silhouette der Beifahrerin auf der Autobahn ins<br />

Glück. Vögel versammeln sich auf Stromdrähten, Schnee auf allen Ästen,<br />

Licht sickert durch die Zweige. Das Bild wird unscharf wie vage Urlaubserinnerungen<br />

an Schlittenfahrten, dann golden wie ein Eldoradosommer,<br />

nassgrau wie Strandspaziergänge der Kindheit, <strong>als</strong> einem das Wetter noch<br />

egal war. Dann kehrt die ausgeschweifte Erinnerung wieder zurück ins<br />

Jetzt, on the road auf der Autobahn in den Sonnenuntergang. Gerbers<br />

Sweet Urlaubs-Memories gibt es nur ganz oder gar nicht. Das nenne ich<br />

selbstwusst.<br />

65


SOFT MOUNTAIN Soft Mountain (Hux Records, HUX 084): Hux reimt sich üblicherweise<br />

auf 70s, BBC- und/oder Live-Mitschnitte und gibt einem das Gefühl,<br />

dass man etwas versäumt, wenn man Brinsley Schwarz, Gryphon oder Heron<br />

nicht kennt. Dazu hegt man in London das Soft Machine & Co-Erbe und kann daher<br />

mit dieser Besonderheit aufwarten – keine nostalgische Ausgrabung, sondern<br />

etwas, das es bis dato nicht gegeben hatte: Auf ihrer Japantour 2003 mit<br />

Soft Works hatten Elton Dean & Hugh Hopper eine Verabredung getroffen mit<br />

dem Keyboarder Hoppy Kamiyama und dem Drummer Yoshida Tatsuya. Nicht<br />

nur zum Sushiessen. Resultat: Zwei nahezu halbstündige ‚Suiten’, völlig frei improvisiert,<br />

nur von Spielfreude und Erfahrung gelenkt und den gemeinsamen<br />

Neigungen zu Freeform-Jazz(rock). Wenn das Interesse der beiden Japaner, mit<br />

zwei legendären Veteranen des Canterburykults zu musizieren, sich von selbst<br />

versteht, so ist umgekehrt die Lust der beiden Briten nicht weniger verständlich.<br />

Der Nino Rota-Verehrer Kamiyama mit einem Faible für sleazy und cheesy<br />

Trash hat mit Projekten wie Pink, Pugs und Optical 8 mehr <strong>als</strong> nur Exotica-Originalität<br />

bewiesen. Seine Spielweise knüpft hier direkt an die Miles Davis-Schule,<br />

speziell an Chick Corea an. Yoshida, Jahrgang 1961, Japans Antwort auf Christian<br />

Vander, ist nicht nur workoholisch aktiv im psychedelischen Magaibutsu-<br />

Rhizom (Koenjihyakkei, Korekyojinn, Ruins etc.), sondern auch der Garant für<br />

Power und Komplexität im Satoko Fujii Quartet, bei Painkiller oder im Trio mit<br />

Otomo & Laswell. Schon in Daimonji spielt er zusammen mit Kamiyama ‚Improg’,<br />

der nur ihrem Follow-Motion-Flow-Instinkt gehorcht. Hier stellen sich alle vier<br />

mit dem Gesicht zur Sonne, die ungebrochen Love Supreme-Strahlen spendet,<br />

die direkt in Deans Altosax- und Saxellomelodien fließen. Coltranes Vision der<br />

unendlichen Melodie zieht sich <strong>als</strong> goldener Faden ohne Anfang und Ende<br />

durch die Soft Mountain Suite. Bass und Drums pochen und stampfen <strong>als</strong> Taikodynamo<br />

und tausendfüßlerische Mikoshischreinträger. Kamiyama streut Glasperlen<br />

und Kirschblütenblätter für die Matsuriprozession. Die 15 Jahre Altersunterschied<br />

sind schon vom ersten Ton an wie weggeblasen. Unwillkürlich<br />

nimmt, während die Nase Coltrane-Duft einsaugt, das Ohr Deans Singsang <strong>als</strong><br />

Fixpunkt und folgt ihm in seiner Tagträumerei, die in sanftem Licht badet. Bis<br />

immer wieder ein Windstoß in ihn fährt und er, von Yoshida <strong>als</strong> vielgliedrigem,<br />

hypermobilem Kohlenschipper mit Feuereifer und euphorischen Juchzern unterstützt,<br />

aus Flammengezüngel Fire Music auflodern lässt, zu der Hoppers<br />

Sturm & Drang-Bass, teilweise mit Flangereffekt, Schattenspiele zeichnet, die<br />

ein dunkles Eigenleben führen. Diese Musik ist älter und größer <strong>als</strong> Soft Machine<br />

Legacy, sie liftet den Anker von Coltranes Sun Ship.<br />

SPACEHEADS & MAX EASTLEY A Very Long Way From Anywhere Else (Bip<br />

Hop, bleep35): Bezog sich der Vorgänger The Time of the Ancient Astronaut<br />

(2001) auf Coleridges The Rime of the Ancient Mariner, so wird diesmal der Graf<br />

von Monte Christo umspielt. Denn auf dem Weg zum Mimi Festival auf der Insel<br />

Frioul vor Marseille kamen Eastley, Andy Diagram & Richard Harrison am berüchtigten<br />

Chateau D‘if vorbei, in dem Edmond Dantès jahrelang lebendig begraben<br />

war und auf Rache sann. 4 Tracks entstanden live auf dem Mimi 2002,<br />

die andere Hälfte 2003 im Shed von Brawby, North Yorkshire. Der Zusammenklang<br />

von Eastleys Arc, Diagrams Kondo‘esker Trompete und Harrisons Drumming,<br />

jeweils mit Elektroeffekten verdubt, lässt einen Dreamscape entstehen,<br />

der mit der Wunschenergie der Kolportage Elemente der Schauerromantik und<br />

des Fernwehs verbindet. Klang verleiht dem Sehnen Schwingen (‚Love Lends<br />

Wings to our Desires‘), etwa indem Delaywellen die Imagination dort hin treiben<br />

lassen, wohin die Trompete voraus schweift. Derweil wetzt Dantès immer wieder<br />

den Dolch seiner Rache. Das Trio schreckt vor solchen bildhaften Motiven<br />

nicht zurück. Nur <strong>als</strong> ‚Toter‘ konnte Dantès fliehen (‚Assume the Place of the<br />

Dead‘), nach einem Alptraum an Spannung, bei dem sein Herz zu zerspringen<br />

drohte (‚The Dream that Murdered Sleep‘). Vorahnungen des Gelingens oder<br />

Scheitern falten die Zeit wie einen Ziehharmonikabalg, während sie beim großartigen<br />

Titelstück sich episch wieder dehnt und entfaltet. Den Kopf so voller<br />

Möglichkeiten, dass er wie ein Fanfarenchor dröhnt und schrillt und brummt. Als<br />

ob die 7. Kavallerie durch Fidelio galoppieren würde, um dem ‚Drama der Utopie‘<br />

zu einem glücklichen Ende zu verhelfen. Freiheit ist, aufs offene Meer hinaus zu<br />

rocken.<br />

66


SWIMS Swims (Distile Records, DIST003,<br />

EP): Drum‘n‘Bass aus Kalifornien, allerdings<br />

in nicht-technoider Version. Paul Slack<br />

spielt ‚a self-customized 1980 Kawai graphite<br />

4-string bass through a bi-amp setup‘ und<br />

Mark Rocha ‚big drums and a Zildjian Z Custom<br />

Mega Bell Ride‘. Ihre Ambition ist es, ‚an<br />

interesting blend of mathy, jazzy, proggy,<br />

ambient, instrumental rock‘ zu kreieren.<br />

Slack quasi <strong>als</strong> virtuoser Mike Watt, mit dem<br />

E-Bass <strong>als</strong> tragendem Element, und sein<br />

Partner <strong>als</strong> Meister des Fraktalen. Auf Distile<br />

sind sie damit in bester Gesellschaft mit<br />

37500 yens aus Reims, einem repetitiv-explosiven<br />

Guitar-Drums-Duo von Raxinasky-<br />

Zuschnitt, dem lehmverschmierten Zauselrock-Duo<br />

One Second Riot [records are<br />

home] aus Lyon, dem vertrackten Pim-Pam-<br />

Poum-Trio Sincabeza aus Bordeaux oder<br />

Absinthe (provisoire), einem Quintett aus<br />

Montpellier (das selbst wieder ein Kaninchenloch<br />

ist zum belesenen Akusmatiker,<br />

Cortazar- und Bela Tarr-Fan Guillaume Contré<br />

und dessen Projekte SAP(e) und Rayuela)<br />

[Das Abschweifen über solche Lebenslinien<br />

ist ein bad alchemystischer Wesenszug].<br />

Sie alle sind es Wert, entdeckt zu werden,<br />

wobei das Duo aus Sacramento durch<br />

seine dichten Interaktionen besticht, durch<br />

die Manier, wie es die höhere Mathematik<br />

seiner Zwiesprachen in Ahleuchatista-komplexe<br />

Arrangements umsetzt.<br />

TARAB Wind Keeps Even Dust Away (23five<br />

010): Cinema pour l‘oreille oder ‚psychogeographical<br />

wanderings‘, wie immer man<br />

das Soundscaping des Australiers Eamon<br />

Sprod bezeichnen mag, es spielt mit Klängen<br />

seiner australischen Lebenswelt und<br />

der Einbildungskraft der Hörer. Die mit Naturbildern,<br />

mit Illusionen von Natur oder einfach<br />

nur Illusionen gefüttert wird. Gluckert<br />

da wirklich Wasser mitten im Sandsturm?<br />

Braust da ein Regenguss übers trockene<br />

Land, oder rascheln nur die Blätter? Warum<br />

zersplittert Glas? Schizophonie führt zu Dislokation.<br />

Man wird durch Rumpeln, Dröhnen<br />

und Zischen in die Betriebsamkeit eines<br />

Verladebahnhofs oder einer Fabrik versetzt.<br />

Dann wieder in grillendurchzirptes Hinterland.<br />

Es bitzeln Bläschen vor einem aufrauschenden<br />

Blätter- oder Regenvorhang. Sind<br />

diese Grillen echt, dieses Insektengesumm?<br />

Wenigstens die knarrende Tür? Vögel zwitschern<br />

und quäken, während Donnergrollen<br />

näher rollt und Wind die Äste schüttelt. Ein<br />

Wolkenbruchgewitter entlädt sich Chris-<br />

Watson-plastisch über diesem Phantomlandstrich,<br />

drinnen scheppern Stangen oder<br />

Röhren. Ein industrialer Kladderadatsch<br />

macht viel Lärm um Nichts. Und doch sind<br />

schon Leute in Pfützen ertrunken.<br />

67


THIEKE/GRIENER/WEBER The Amazing Dr. Clitterhouse (Ayler<br />

Records, aylDL-058): Wie der 1968 in Nürnberg geborene Drummer<br />

Griener ist auch der 4 Jahre jüngere Düsseldorfer Klarinettist<br />

& Altosaxophonist Thieke Mitte der 90er dem Sog Berlins gefolgt.<br />

Mit Projekten wie Nickendes Perlgras, The International Nothing,<br />

The Magic I.D., Unununium, Hotelgäste, Demontage oder<br />

Schwimmer und Neigungen zu abstrakten Minimalismen, diskreten<br />

Dynamiken und geistesgegenwärtigem NowJazz gehört er<br />

zum internationalen Improrhizom. Herr Griener, der sich seit seiner<br />

Neuen Deutschen Jazzpreisauszeichnung 2006 offiziell<br />

‚kreativster Solist‘ schimpfen darf, engagiert sich im Ulrich Gumpert<br />

Quartett oder mit dem Ex-Würzburger Martin Klingeberg in<br />

Babybonk und mit Thieke fand er Anschluss an die Lissabonner<br />

Creative Sources-Familie. Dem Zürcher -> Signal Quintet-Bassisten<br />

Christian Weber begegnen wir hiermit nun zum dritten Mal.<br />

Beim <strong>Download</strong>release von TGW zeigen der bowlerbehütete<br />

Nürnberger und seine Mitstreiter sich <strong>als</strong> Edward G. Robinson-<br />

Fans. Auf den kieksig-quirligen Auftakt ‚A Dispatch from Reuter‘s‘<br />

folgt das dunkel-verhuschte ‚East is West‘ mit Haltetönen, die ins<br />

Diskante kippen, Cymb<strong>als</strong>ustain und brummigen Bogenstrichen.<br />

Danach beginnt ‚A Bullet for Joey‘ mit Schlagzeugbreitseiten,<br />

Bassgesäge und vehementem Altogestöcher à la Evan Parker,<br />

das sich mit Windmühlschlägen Grieners auf einen Dumdumpuls<br />

eingroovt. ‚Two Weeks in Another Town‘ ist ein neurotischer<br />

Blues, mit nervösen Pizzikati und quäkiger Borderlineklarinette,<br />

gefolgt von ‚Unholy Partners‘ mit heimlichtuerischer Klarinette<br />

und tröpfeliger Begleitung, die aber mit Besenwischern und hellem<br />

Schimmern ganz feinfühlig wird. ‚Two Seconds‘ mischt<br />

Brummbass mit perkussivem Muschelgeklapper, bis, von Thieke<br />

angestachelt, die Rhythmik schwerfällig Tritt fasst, sich gleich<br />

aber in einen einsilbigen Bass-Drums-Dialog verstrickt, in den das<br />

Alto sich spuckig und krächzend einmischt. Bleibt noch ‚Key Largo‘<br />

in seiner angerauten Innigkeit <strong>als</strong> 7. Beleg, dass die Klarinette<br />

des Düsseldorfers das Spektrum von Ben Goldberg - François<br />

Houle - Michael Moore - Claudio Puntin - Perry Robinson mit einem<br />

markanten T wie Thieke erweitert.<br />

THIS YEAR‘S MODEL The Clock Strikes Ten (Marsh-Marigold Records,<br />

Mari 28): Dieses schwedische Popquartett ist mit allen Images<br />

von Sophistication und Dandytum ausstaffiert. Ein Poster von<br />

The Anarchists of Chicago, ein But is it Art?-Zwinkern, ein Posingfoto<br />

<strong>als</strong> coole Villenbesitzer und hintersinnige Shortstories von<br />

Jessica Griffin (Would-Be-Goods), Dickon Edwards (Fosca) und<br />

Vic Godard (Subway Sect) im Booklet. Murder, she wrote neatly,<br />

and the clock struck ten. Murder, she wrote sweetly, watching an<br />

ink stain growing on her hand lautet der Refrain, der dem Album<br />

die Überschrift liefert. Niklas Gustafsson ist die tonangebende<br />

Kraft, Ylva Lindberg spielt Keyboards und säuselt im Background,<br />

Henric Strömberg trommelt und Matthias Svensson steuert Leadgitarre<br />

und Bass bei. Der Gruppensound und Gustafssons Intonation<br />

sind geschwängert mit dem Flair von 80er-Jahre Art School-<br />

Pop. Die 3 Minuten-Songs voller Anspielungen wie ‚Wishes For<br />

Jean-Paul‘ (nicht Sartre, Belmondo) oder ‚Method Acting‘, auf die<br />

Präraffaelitenikone Elizabeth Siddal, die Schauspielerin Pascale<br />

Petit, das Hotel Damier in Courtrai, in dem schon Victor Hugo abgestiegen<br />

ist. Godard und Edwards liefern das persönliche Role<br />

Model, El Records den Rahmen aus Stil und britischer Boyishness,<br />

in dem sich This Years‘s Model bewegt. Ich habe nichts dagegen,<br />

die Uhr zu richten nach Zeiten, <strong>als</strong> Pop seinen Namen noch rückwärts<br />

buchstabieren konnte und von einer Welt zu träumen,<br />

where The Avengers' John Steed forever seems to be creative<br />

controller and Emma Peel works the A&R department.<br />

68


ULRICH TROYER Sehen mit Ohren (Transacoustic Research, tres006): Cinema<br />

pour l‘oreille <strong>als</strong> Essen im Dunkeln. Die Brailleschrift auf dem Cover verweist<br />

schon auf die Konsequenz, mit der der Transacoustic-Forscher und Gemüseorchesterkoch<br />

Troyer Blindsein vermitteln möchte. Sechs Sehbehinderte erzählen,<br />

wie sie ihre Umwelt wahrnehmen, sich darin orientieren und bewegen. Dazu<br />

mischt Troyer konkrete Alltagsgeräusche, die die Herausforderungen an das<br />

Raumgefühl und den Orientierungssinn von Nichtsehenden suggerieren. Beatrix<br />

Klinger, Kerstin Tischler, Josef Knoll, Michael Krispl, Elisabeth Wundsam und<br />

Otto Lechner, Musikant im Accordeon Tribe, sprechen über Raumresonanzen,<br />

Temperaturstrahlungen und Reflektionen, über Rasenkanten und den Sog offener<br />

Türen. Wie der Blinde mit dem Wischen seines Blindenstocks, das sich an<br />

Wänden bricht, fledermausmäßig zur Schallquelle wird. Postkastln, die hört man<br />

ned, Hindernisse in Kopfhöhe schon eher, Wiener Schnitzel allemal. Troyer<br />

schickt die Einbildungskraft mit durch Zimmer, Treppenhäuser, über Straßen,<br />

durch akustisch fürchterliche Bahnhofshallen und Tunnel, in die Mensa, in den<br />

Regen, der alles verschleiert. Auch überlaute Räume wie Diskotheken, überhaupt<br />

auch Öffentliche Gebäude, Theater usw. sind zum Orientieren alle wahnsinnig<br />

hart. Aber jedes Geschäft hat seinen eigenen Geruch. Oder Pflanzen im<br />

Zimmer, das ist auch angenehm. Die riecht man, und wenn die Blätter groß genug<br />

sind, hört man sie auch. Dome und Kathedralen sind akustisch ein Genuss.<br />

Da ist echt was los. So lernt man das ABC der Aufmerksamkeit.<br />

MATT WESTON Resistance Cruiser / Rashaya (7272 Music #001 / #002, 3“ CD-<br />

R): Auf diesen Drummer im Umfeld der Chicagoszene konnte man bisher stoßen<br />

neben Kevin Drumm, Michael Colligan, den Vida-Brüdern, der Sängerin-Gitarristin<br />

Plum Crane in Lotus 72 und auf Tizzys Dead Band Rocking (bevor Teri Morris<br />

die Band 2006 tatsächlich beerdigte), da spielte er sogar Riot Grrrl-Rock. Seine<br />

wahre und ganze Stärke zeigt er aber solo. Da mischt er Free Noise mit Musica<br />

Nova-Versatilität und durchlasert das Ganze noch mit Electrosounds, klingt aber<br />

am liebsten wie eine Ladung Schrott, die einen endlosen Wendeltreppenschacht<br />

hinunter scheppert. Mal mit grob gegen die Wände holterdipolternden Brocken,<br />

mal nur wie ein ausgeschütteter Besteckkasten, knarzend und rappelnd und mit<br />

schlecht geölten Scharnieren. Die Einspielungen hier geben Westons Lärmkaskaden<br />

plastisch wieder, ihre rostige, diskante, krätzige Schäbigkeit in einem, ihre<br />

überbordende One-Man-Orchestralität in nächsten Moment. Man ‚sieht‘ geradezu<br />

seine Hände blitzschnell hin und her zucken, seine klapprige Stockarbeit, den<br />

Hagelschlag, den er über die Becken verspritzt, abruptes Gepolter, dynamische<br />

Sprünge über Geräuschklüfte. Dazwischen schwer definierbare Stromstöße,<br />

schrilles Schnarren und fast jaulende Kratzer. Wer bei Schlagzeugsoli bisher nur<br />

überdrüssig abwinkte, der kann hier ein Aha erleben.<br />

SIMONE WHITE I Am The Man (Honest Jons, HJR28): Auf Damon Albarns hippem<br />

Londoner Label kommt etwas unerwartet diese hippieske, in Hawaii geborene<br />

Liedermacherin, die nunmehr im kalifornischen Venedig lebt. Sie zupft eine<br />

akustische 1964 Guild M20 und singt mit Unschuld-vom-Lande-Stimme eigene<br />

Poesie. Titel wie ‚Worm Was Wood‘ oder ‚Why Is Your Raincoat Always Crying?‘<br />

lassen Lucy in the Sky with Diamonds-Musenküsse vermuten. Bei näherem Hinhören<br />

werden aber auch unvermutet kritische Töne hörbar, die nicht von der eigenen<br />

Katze oder postkoitaler Tristesse handeln, sondern von der amerikanische<br />

Krankheit - ‚The American War‘, ‚Great Imperialist State‘, ‚We Used To<br />

Stand So Tall‘. Aber ob Liebe oder Krieg, Rosen oder Würmer, Sweet- oder Darkness,<br />

White singsangt durchwegs mit der gleichen zartbitteren Laschcoremelancholie.<br />

Carol King und Mary Hopkin, ok, aber alle andern verstiegenen Vergleiche<br />

und jede Nähe zu Bonnie Prince Billy oder Lambchop, jeder Anflug von<br />

Zynismus oder Humor, textlich nicht von der Hand zu weisen, scheitern am eintönig<br />

hingehauchten Rosa ihre Lolita-Masche, ob Schneeweißchen nun barfuß<br />

oder in roten Stiefelchen daher tändelt. Die Arrangements mit Katzenpfotendrums,<br />

Bassgesumm, Bilitispiano, weichen Bläsern oder Streichern unterstreichen<br />

bloß - Harmlosigkeit. Die auch da harmlos bleibt, wo sie in süßer Verpackung<br />

bittere Pillen verteilt. Wenn man von ihren Verehrern die Wölfe abzöge,<br />

würde wieder die Sicht auf ein Rotkäppchen einer ganz durchschnittlichen Baureihe<br />

frei.<br />

69


VIALKA Plus vite Que La Musique (VIA, VIA-006): Obwohl er bereits<br />

seit 1994 umtriebig ist, anfänglich <strong>als</strong> Hermit, ist das meine erste Bekanntschaft<br />

mit dem 1977 im kanadischen Nanaimo, B.C. geborenen<br />

bocksbärtigen Eric Boros. Nähere Kennzeichen: Stolzer Papa, Bücherwurm,<br />

praktizierender Pazifist und Teetrinker, zuständig für Improvised<br />

/ composed / decomposed travel-guitar, electronics & voice<br />

for all occasions. Seit 2002 spielt er mit der französischen Trommlerin<br />

& Sängerin Marylise Frecheville <strong>als</strong> Vialka eine brisante Mixtur<br />

aus Vodka-poetry, break-butoh & evil-jazz. Die Partnerin (nicht nur in<br />

der Musik) des virtuosen Baritongitarreros ist eine Krawallschachtel,<br />

genau die Richtige, um Noisejazzpunkcore mit Turbofolk aufzumischen.<br />

David Kerman nannte sie und ihr verqueres Schlagzeugspiel<br />

(in einem Interview für Ragazzi) eines der am meisten beeindruckenden<br />

Talente heutzutage. Man muss sie gesehen haben<br />

(zumindest auf YouTube), wie sie live in Istanbul im <strong>Bad</strong>emäntelchen<br />

oder in Kiew mit Brille und Schürzenkleid ihre krummen Takte fetzt.<br />

Vialka hat Tonight I Show You Fuck & Republic Of The Bored & Boring<br />

herausgebracht, die DVD Everywhere & Nowhere, sowie Curiosities<br />

Of Popular Customs, letzteres aufgenommen von Bob Drake in<br />

seinem Studio Midi-Pyrénées. Dort ist auch die neue Scheibe<br />

entstanden, Lieder über Verstopfung (‚Incacapable‘), über Drogen &<br />

Traumata, die einen <strong>als</strong> alte Freunde umtanzen (‚Opera Brut‘) und<br />

über das russische Kaff, nach dem sie sich benannten (‚Gulag<br />

Song‘). Verbunden mit Abgesängen auf den Profitwahn und den Racketverbund<br />

von Politik, Wirtschaft und Medien, der die Welt zugrunde<br />

richtet (‚Trop Tard‘, ‚Ménestrels‘), die selbst so schnell sich dreht,<br />

dass sie vom Plattenteller fliegt (das Titelstück). Hilft da nur der Terror<br />

von Selbstmordattentätern? I have nothing to lose. I will never<br />

win. Choice is an illusion. I am not afraid (‚Grenade‘). Dargeboten<br />

wird das <strong>als</strong> Etron Fou Leloublan-esker Avant-Rock und aufgekratzte<br />

Fakefolklore mit viel Hohohogesang. Im Mehrspurverfahren wird die<br />

Live-Roughness veredelt, mit perkussiven und elektronischen Finessen<br />

verziert. Vor allem serviert Drake Frechevilles temperamentvolle<br />

Zunge auf einem Sílbertablett, schneidet sie dabei aber von ihrem<br />

Körper ab und verwandelt das Paar in ein mehrköpfiges, vielarmiges<br />

Phantom. Vialkas Afro-Balkan-Postpunk-No Wave zeigt sich aber unverwüstlich,<br />

unverschämt agitativ, clownesk und vogelfrei. So findet<br />

man Freunde in Beijing (Xiao He), Leeds (That Fucking Tank), Montpellier<br />

(Dure-mère) oder Tel-Aviv (Kruzenshtern & Parohod) und<br />

macht sich einen neuen in Würzburg.<br />

70


FRANS DE WAARD<br />

Für eine Ausstellung mit dem Thema ‚Mijn Domein’ belauschte FdW, nicht nur bei<br />

seinen Landsleuten <strong>als</strong> „sleutelfiguur op het gebied van experimentele, elektronische<br />

muziek“ bekannt und anerkannt, im Auftrag der holländischen Hafenstadt Vlissingen<br />

die alte Königliche Marine-Werft, genauer, die Zware Plaatwerkerij, kurz vor<br />

der Schließung. Vlissingen lagert seine Industrieanlagen aus und strukturiert um auf<br />

Tourismus, ein Akzent, der durch die Betonburgen am so genannten Panorama<br />

Strand und Boulevard ins Auge sticht. “Toen ik de hal voor het eerst binnenliep,<br />

dacht ik: wow, fantastisch, wat een geluid. Die ventilatoren, slijptollen, snijbranders,<br />

de lift die door de lucht zweeft. Dat klonk erg goed.” Wie nun auf Vijf Profielen<br />

(Alluvial Recordings, A26) zu hören, lässt FdW in fünf abgestuften Produktionsschritten<br />

die industriale Szenerie deeskalieren. Von anfänglicher Aktivität, bei denen<br />

die Geräusche eines Lifts oder der Halle selbst die eingestellte Produktion<br />

nachhallen lassen, zu immer feinkörnigeren, immer ‚flacheren’ Drones, wie von<br />

Sprühstrahlen oder Gebläsen oder einem metallischen Schaben und feinen Klingeln,<br />

und schließlich der (Beinahe)-Stille der allein noch ‚arbeitenden’ Lüftung. Die<br />

Stahlplattenproduktion ist ausgezogen, Ruhe und Kunst kehren ein.<br />

Wortspielerisch im Titel versteckt, bestimmt Frans de Waard auch Z‘evs Forwaard<br />

(Korm Plastics, kp3029) gleich mehrfach mit, durch seine Feldaufnahmen,<br />

die Z‘ev <strong>als</strong> Ausgangsmaterial benutzte, und durch seine Fotokunst, die dem Release<br />

visuell ihren Stempel aufdrückt. Das Spiel, das Z’ev nun mit FdWs Klängen spielt,<br />

ist definitiv ein PLAY LOUD-Spiel. Was ansonsten permanent vom Verkehrslärm und<br />

anfänglich zusätzlich von meiner Kaffeemaschine übertönt wird, entfaltet LAUT Detailreichtum<br />

und damit die Dramatik dynamischer Modulationen. Es wird vor allem zu<br />

einer feuchten Angelegenheit, einem Gurgeln und Rauschen wie unter Wasser oder<br />

– die Phantasie wird hier unwillkürlich spekulativ - wie in einem Atlantikwallbunker<br />

im Gewitter. Von unten rumort hohles Dongen wie aus einem großen Metallkontainer,<br />

darüber wellt sich feinmotorisches Sirren, Schnurren und Brummen. Es gluckst<br />

und lappt wie aus einem tiefen Brunnen oder einer Zisterne oder schabt wie rollende<br />

Steine auf dem Grund eines Flusses. Dazu braucht man nicht gleich ein U-Boot-<br />

Bild zu bemühen, es genügt vielleicht, die Klangwelt eines Krebses oder sonstiger<br />

Bewohner des feuchten Elementes zu halluzinieren. Nur dass solche ‚naturnahen’<br />

Phantasien durch industriale oder abstrakte, sprich bildlose Geräuscheinschlüsse<br />

nicht durchzuhalten sind. Sonst könnte man ja gleich seine Schuhe schnüren und zu<br />

einem Spaziergang mit offenen Ohren losstiefeln.<br />

2004 war Sijis_rmx (sijis08) ausschließlich eine Sache von Frans de Waard gewesen,<br />

der damit den Sijis-Backkatalog in einer Remixversion komprimierte. Die expanded<br />

edition Freiband rmx (Sijis, siji08X, CD-R) bringt einen Alternativmix des Freiband-Tracks<br />

und fünf weitere, von den Sijis-Acts Sluggo, Scott Taylor, J Torrance<br />

und Mutton Deluxe sowie von Ex-Contrastate Srmeixner. Wobei ich nicht<br />

durchschaue, ob diese Mixe nun ebenfalls auf Sijis-Stoff basieren, oder ausschließlich<br />

auf der Viertelstunde von Freiband. FdW hat jedenfalls (nur) eine ambiente Küstenlinie<br />

gezogen, vielleicht eine niederländische, jedenfalls eine dröhnminimalistisch<br />

schwingende Kurve aus sonorem Summen und Gischt. Dass da Vogelstimmen,<br />

Froschgeknarre oder Insekten zu hören sind, das bilde ich mir vielleicht auch bloß<br />

ein. Flachland möchte ich <strong>als</strong> Stichwort aber festhalten. Mutton Deluxe geht seine<br />

4:12 opulenter an, mit orgelndem und schleifendem Auf und Ab, einem stimmhaften<br />

Halteton, der dramatisch zu mäandern beginnt. Meixners dreieinhalb Minuten tupfen<br />

den Raum mit dunklen aleatorischen Tupfen, dazu erfinden Gitarre und Bass melancholisch<br />

fast so etwas wie eine Melodie. J Torrance scheint dann tatsächlich den<br />

Freibandstoff neu aufzumischen, gewittriger, grollender, wummriger, gleichzeitig<br />

mulmiger und grobkörniger, durchswoosht von peitschenden Akzenten. Taylor betont<br />

das gischtige Element, ein zischendes Sprühen, das hin und her wandert wie<br />

der Strahl eines Spritzschlauches oder ein Windkanalfauchen, vor einem Hintergrund<br />

aus vage pulsierendem Gedröhn. Sluggo stapft mit kosmischen Gummistiefeln<br />

umher, peitscht und zischt und bohrt wie ein multifunktionaler Kampfroboter,<br />

der aber schnell ausfällt und nur noch ein klägliches Notsignal aussendet. Ein, na<br />

was schon, ein Dröhnen schwillt ganz allmählich an... - ein Pfeif-Wummer-Gemisch,<br />

das sich in Wohlgefallen auflöst. Zum Schluss dann nochmal Freiband, ähnlich wie<br />

gehabt (laienhaft ausgedrückt, rmx-Ohren hören das sicher anders).<br />

71


R L W<br />

A.M.T. Nmpering<br />

Riley Idea Fire Company<br />

Chion Gregorio<br />

Haino Hodell<br />

If, Bwana Tietchens<br />

Vrtacek Mirror<br />

Ikeda Asano<br />

Solid Eye Russell<br />

Toy Bizarre ErikM<br />

Scelsi<br />

Alptraum? An Archivist’s Nightmare<br />

(Beta-Iactam Ring Records,<br />

Black Series negro 2) ist<br />

pures Vergnügen, dem ich über<br />

die vollen 60 Minuten mit gespitzten<br />

Ohren lausche. RLW<br />

verliest nämlich eine Liste der<br />

Tonträger, die sich ‚in letzter<br />

Zeit’ bei ihm ansammelten. An<br />

die 1000 Stück! Und dabei lässt<br />

er in seiner Litanei noch die<br />

weg, die er für nicht erwähnenswert<br />

hält (was das wohl<br />

sein mag?). Zwischendurch liest<br />

Mrs. W in ungeübtem Englisch<br />

aus RLWs Korrespondenzen,<br />

gipfelnd in einem Call & Response-Duett<br />

mit W Jr., der<br />

nach Gehör ‚Muttersprache’ mit<br />

umwerfendem ‚Kinderklang’<br />

nachbrabbelt. RLWs chronologisches<br />

Sammelsurium wird Archäologen<br />

des 23. Jhdts. einige<br />

Rätselnüsse zu knacken geben,<br />

welche Kultur sie da wohl ausgegraben<br />

haben. Für mich sind<br />

die Namen und Titel, in ungeniertem<br />

‚Mutant Deutsch’ emotionslos<br />

aufgelistet und 2003<br />

<strong>als</strong> Radio Resonance-Stunde<br />

über den Äther verbreitet, die<br />

konkreteste Poesie. Was für<br />

eine Gold schürfende Auslese,<br />

an der sich jeder Connaisseur<br />

delektieren kann, dem der bloße<br />

Klang der polyglotten Namen<br />

Musik in den Ohren ist. Statt bekanntem<br />

Einerlei, füllt RLWs Archiv,<br />

<strong>als</strong> sei es das Norm<strong>als</strong>te<br />

auf der Welt, nur das, was im<br />

Ocean of Sound Willkommen in<br />

der Gegenwart und Mensch zu<br />

dir zu sagen versucht.<br />

The pleasure of burning down churches (Black Rose Recordings,<br />

BRCD 07-1009), Ralf Wehowskys zweiter Beitrag<br />

zu Stephen Meixners kleinem Labelprogramm, zeigt<br />

seine Dornen erst auf den zweiten Blick. Bei brennenden<br />

Kirchen denkt man unwillkürlich an Burzum und zündelnde<br />

Schwarzkutten. Mit etwas längerem Gedächtnis<br />

vielleicht auch an rassistische Feuerteufeleien im amerikanischen<br />

Bible Belt, die seit 1882 ‚Tradition’ haben<br />

und Mitte der 1990er sogar noch einmal epidemisch aufflammten.<br />

RLW begegnete den ‚Goblins of Hate’ in der<br />

banalen Gestalt eines ehemaligen US-Piloten, dem im<br />

Vietnamkrieg Kirchtürme ein attraktives Ziel geboten<br />

hatten. Immer noch stolz wies er RLW, der auf einer Vietnamreise<br />

Mitte der 90er seinen Nostalgietrip kreuzte,<br />

auf ‚seine’ Ruinen hin. "We were all orcs in the Great<br />

War", um es mit Tolkiens Worten zu sagen. RLW umkreist<br />

das Thema Vietnam mit dem Brummen von Flugzeugen,<br />

mit dem Erinnerungen, Alpträume und vielleicht die Luft<br />

selbst noch wie imprägniert zu sein scheinen, auch<br />

wenn in Hanoi längst Alltag eingekehrt ist. Als hektisches<br />

Verkehrsgehupe oder <strong>als</strong> Straßentheater. Eine andere<br />

Sorte von Orks fängt RLW mit ‚helplessly friendly’ ein. Ein<br />

querulantes Schandmaul hadert mit einer „Nazifotze“<br />

von Gerichtssekretärin (meist in Gestalt eines Anrufbeantworters),<br />

weil seine Strafanzeigen von dem<br />

„Verbrecher“ und „Kinderficker“ namens Klob unterschlagen<br />

werden und die „Mörderbande“ immer noch<br />

nicht vor Gericht gestellt wurde. In der Warteschleife<br />

pfeift der theatralische Troll rechthaberisch vor sich hin.<br />

‚Burning pianos’ sublimiert – in Anspielung an Fluxus-Aktionen<br />

von Al Hansen (Piano Drop), Maciunas & Corner<br />

(Piano Activities) oder Andrea Lockwood (Piano Transplant<br />

Series) und an die Monterey-Performance von<br />

Hendrix – die Lust am Zerstören in sublime Geräuschkunst,<br />

in ein Rumoren und sirrendes Pfeifen, inmitten<br />

dessen im Innenklavier geharft und gedongt wird. Broken<br />

Music, Kapotte Muziek, in der, wie immer bei Wehowsky,<br />

Ironie und Therapie, Sympathie und Akribie ein<br />

Ununterscheidbares bilden, das sich über das Lebensnotwendige<br />

erhebt und zu flüstern scheint: Es gibt ein<br />

richtiges Doppelleben im F<strong>als</strong>chen.<br />

72


* V/A Das Dieter Roth oRchester spielt kleine wolken, typische<br />

Scheiße und nie gehörte musik (intermedium rec. 026) hatte anno<br />

2006 seine Ursendung auf Bayern2Radio, wo die Hörspiel- und Medienkunst<br />

liebevoll gehegt und gepflegt wird. Dabei handelt es sich bei dieser Hommage<br />

an den bildenden Künstler Dieter Roth eher um eine Compilation liedhafter<br />

Interpretationen dessen literarischer Ergüsse, herausgegeben von<br />

Wolfgang Müller und Barbara Schäfer. Roth war auch auf dem schriftstellerischen<br />

Gebiet überproduktiv. Diese CD stellt <strong>als</strong>o eher ein Album von<br />

Neu-Interpretationen dar und kein Hörstück im eigentlichen Sinne. Die Idee<br />

hierzu stammt vom ebenfalls bildenden Künstler und Island-Fan Wolfgang<br />

Müller (alias Úlfur Hródólfsson, ex Die Tödliche Doris) der das Roth-Buch<br />

„Frühe Schriften und typische Scheiße“ irgendwann auf einem Berliner<br />

Wühltisch für 3 Mark entdeckte. Und damit wohl auch seine Geistesverwandtschaft<br />

– war der ebenfalls in Island wirkende Dieter Roth nicht auch<br />

irgendwie ein, äh, genialer Dilettant, ein Bruder im Geiste? Für sein Projekt<br />

holte sich Müller Unterstützung bei alten Bekannten wie Brezel Göring und<br />

Françoise Cactus (Stereo Total, Wollita), bei seinem Bruder Max Müller<br />

sowie dessen Band Mutter, aber auch bei Khan, Trabant (aus Island)<br />

oder NAMOSH. Wolfgang Müller, der solo zu trivialem Electro-Pop neigt,<br />

steckt wiederum hinter dem Walther von Goethe Quartett und den beiden<br />

schwulen Stoffpuppen Armand & Bruno, die sich mit der Häkelpuppe<br />

Wollita angefreundet hatten, <strong>als</strong> diese <strong>als</strong> sexistisches (Nicht-) Kunstwerk<br />

von der Berliner Boulevard-Presse angefeindet wurde (zu diesem Thema ist<br />

übrigens ein Taschenbüchlein mit 3“CD im Martin Schmitz Verlag erschienen).<br />

Überraschenderweise ließen sich die Texte von Dieter Roth auch zu<br />

wunderbaren Popsongs formen. Die Beiträge von Stereo Total oder Wollita<br />

sind in dieser Hinsicht zwei Meisterwerke. Andreas Dorau schafft es<br />

leider nicht, daran anzuknüpfen, ihm gelingt trotzdem ein für ihn typisches<br />

Electro-Groove-Stück. Überhaupt klingen viele Tracks typisch für ihre Erzeuger.<br />

Offensichtlich lassen diese Texte hierzu genügend Spielraum – im<br />

Gegensatz zu gängigen Musik-Tribute-Projekten. Ghostdigital (ein Projekt<br />

eines ehemaligen Sugarcubes-Musikers) erinnern mich irgendwie an<br />

Therofal von The Blech im bassbetonten Elektronikkleid, welches bei mir<br />

wiederum Assoziationen an Werke von Goebbels/Harth aus den 1980ern<br />

weckt. Nach 17 Beiträgen nicht ganz so vieler Künstler gibt es <strong>als</strong> Zugabe<br />

mit ‚doit again‘ noch ein verschroben groovendes Stück von Mouse On<br />

Mars. Insgesamt gilt: Typische Scheiße, interessant aufgearbeitet! GZ<br />

V/A Heizung Raum 318 (1000füssler 008): Eine Heizung <strong>als</strong> Klangkörper,<br />

sogar <strong>als</strong> Musikinstrument? Wenn man am Thermostat dreht, ändert sich<br />

die Tonhöhe der Pfeif- und Brummtöne, den speziell die drei Heizkörper im<br />

Raum 318 aussenden. Das ist ein Raum, in dem sich seit einigen Jahren<br />

Hamburger Geräuschkünstler treffen. Es war wohl nur eine Frage der Zeit,<br />

bis der musikalisch nutzbare Aspekt der schlecht funktionierenden Wärmespender<br />

erkannt wurde. Die Heizung an sich hört man <strong>als</strong> ‚Ausgangsmaterial‘.<br />

Daneben dann, eingerahmt von Stefan Funck, die Verarbeitungen<br />

von Gregory Büttner, Funcks Partner in Für Diesen Abend und<br />

1000füssler-Gründer, von Nicolai Stephan, der eigentlich und hauptsächlich<br />

Fotograf & Filmemacher ist, und von Asmus Tietchens, dessen<br />

Erfahrungsschatz mit Geräuschquellen Wasserhähne und Druckmaschinen<br />

mit einschließt. Entsprechend seiner spöttischen Warnung vor dem ‚Mythos<br />

Basismaterial‘ genügt den Vieren ein denkbar prosaischer Alltagsgegenstand,<br />

um damit alle gestalterischen Finessen von ‚Geräuschmusik‘, von<br />

Musique concrète <strong>als</strong> Kunst der feinen Modulationen, auszureizen. Das Material<br />

beginnt zu ‚sprechen‘, bei Büttners ‚heiz‘ fast wörtlich, mit paranormalen<br />

Zisch- und Labiallauten, feucht-dampfig und geisterhaft, von feinen<br />

Drähtchen oder Kristallen durchknistert. Tietchens überrascht mit munterer<br />

Rhythmisierung, bei fast noch ausgeprägterem Electronic Voice-Phänomen.<br />

Bei Stephan ‚spricht‘ kein Geist aus der Heizung, dafür klickert und tackert<br />

‚es‘ (sie?) stottrig impulsiv und äußerst heftig. Ein Morsecode? Aber<br />

eigentlich ist schon der O-Ton ausnehmend pfiffig.<br />

73


V/A Otherness: Curated by DAVID COTNER<br />

(Sonic Arts Network 05.07, CD + Booklet): Wer<br />

sich zum Ziel gesetzt hat, „to inspire by example,<br />

inform by design, incite by amazement“, wie der<br />

1970 in L.A. geborene Literalist und Hertz-Lion-<br />

Macher David Cotner, der bringt auch schon mal<br />

Backsteine oder Schuhe zu Klingen. Bekannt ist<br />

Cotner für seine Actions communiqué-E-Mails,<br />

eine erschöpfende Fleißarbeit, die einen ausgiebig<br />

mit Leftfield-Nachrichten versorgt über Avant-<br />

Aktivisten und Black Hole-Aktivitäten, die er akribisch<br />

vernetzt mit Hertz-Lion, einem Portal zu<br />

den ‚Grey Areas‘ des ‚eternal Now‘. Sein Beitrag<br />

zur Sonic Arts Network-Reihe, illustriert von<br />

Jeffrey Catherine Jones formerly known <strong>als</strong> der<br />

Fantasy- & SF-Illustrator Jeff Jones, dreht sich um<br />

‚das Andere‘. Cotner fasst Otherness, den zentralen<br />

Begriff in Emmanuel Lévinas Face-to-face-<br />

Ethik oder Michael Taussigs marxistischer Anti-<br />

Ethnologie, auf <strong>als</strong> „in-betweenness“ und „boundless<br />

imagination“, wobei er sich von Alterity <strong>als</strong><br />

Subjekt-Objekt-Konstrukt distanziert. Tina Manske<br />

schreibt dazu in www.titel-forum.de ganz treffend:<br />

“Wer an dieser Stelle denkt: Mist, da erwartet<br />

mich möglicherweise etwas, was meinen Horizont<br />

erweitert – der hat ganz bestimmt recht.“<br />

Als akustische Illustratoren von Otherness vernetzt<br />

Cotner Cluster & Eno, Faust, Roland<br />

Kayn, Conrad Schnitzler, Stockhausen, Lee<br />

Ranaldo und David Toop mit Robert Haigh,<br />

Mick Harris, Kallabris (Dr. phil. Michael Anacker<br />

räsoniert über die Blessuren, die einem das<br />

Unerwartete beschert), Eddie Prévost (mit flirrendem<br />

Solo-Tam-Tam), Michael Prime (mit<br />

hörbar gemachter Bioaktivität von Shiitakepilzen),<br />

Ramleh (Gary Mundy im Alleingang 1986),<br />

Rapoon (Robin Storey mit outsider-melancholischen<br />

Moments of Beauty), dem Beequeen-Nachfolgeprojekt<br />

Wander und Z‘ev. Und er sprenkelt<br />

diese kraut-akzentuierten ambienten Mysterien<br />

aus Elektronik, Ethno- und Xenophonie - Ranaldo<br />

belauschte Lautsprecherdurchsagen der Shibuya-U-Bahn-Station<br />

in Toyko, Toop einen zeremoniellen<br />

Dialog südvenezuelanischer Yanomamos -<br />

mit Dissonant Elephant (japanisch angehauchter<br />

Neofolk aus Frankreich), Ecclesiastical<br />

Scaffolding (Drone-bekannte australische<br />

Ambientelektronik von Blair Rideout), Kraig<br />

Grady (kalifornischer Outside- & In Between-<br />

Mikrotonalist und Anaphoria-Insulaner ehrenhalber<br />

-> www.anaphoria.com), Indian Jewelry<br />

(Swarm of Angels-verbundener Girlgang-Act aus<br />

Texas mit Invasive Exotics-Freakfolk), Lovely<br />

Midget (Ex-Fischmunt Rachel Shearer aus Neuseeland<br />

mit Kiwi-Drones), The Mystical Unionists<br />

(Duo der Lavender Diamond-Frontwoman<br />

Becky Stark) und Sedayne (Ex-Metgumbnerbone<br />

Sean Breadin, happily wandering the hinterlands<br />

mit seiner hermetisch-traditionellen Folklore).<br />

Wurm- und Karnickellöcher zuhauf, um durch zu<br />

rutschen zu Inseln und Hinterländern, in denen<br />

die verkehrte Welt upside down tanzt. Amazing.<br />

74


SOUND AND VISION<br />

Sehen mit Ohren? Das Auge hört mit? Wie auch immer. Die Film & Musik-Abteilung<br />

bescherte mir diesmal Schallundrauch (NurNichtNur 106 11 11, 3“ DVD, 22<br />

Min.), einen Flohhustwalzer von UTE VÖLKER mit Bildern von ERIKA ENDERS.<br />

Für Völkers Akkordeontönchen braucht man feine Ohren. Enders verbrennt<br />

dazu Streichholzheftchen und wer ganz feine Ohren hat, der hört das Feuer in<br />

ppp knistern. Die kleinen Zündelflämmchen verkohlten wie Kämme, verwandeln<br />

sich in schwarz verkrümmte Brandleichen mit grauen Köpfchen und machen<br />

dabei erstaunlichen Effekt. Dann sieht man die roten Streichholzköpfchenreihe<br />

von oben, die Flamme frisst sich von links und rechts darauf zu, die Opfer krümmen<br />

sich und entflammen. Die Musik ist nun etwas mehr in Schwung gekommen,<br />

ein Hauch von Beat sorgt für Bewegung, auch die Flämmchen selbst knistern<br />

und zischeln. Im dritten Akt stehn die Zündheftchen in roten Pantöffelchen Spalier,<br />

der Feuerteufel verkohlt sie erneut zu bizarren schwarzen Skulpturen, zu<br />

vielbeinigen, sich in stummer Agonie krümmenden ‚Spinnen‘. Dazu hört man erst<br />

nur ein Schaben, bis allmählich auch das Akkordeon wieder zu atmen anfängt.<br />

Schallundrauch ist eine heiße Sache, die hält, was sie verspricht.<br />

Fast möchte ich die düsteren Märchenbilder und melancholischen Klänge von<br />

Poca Luce, Poco Lontano (Noble Records, CXBL-1002, DVD, 36 Min.) für etwas<br />

durch und durch Alteuropäisches halten, eine Arbeit aus Tschechien etwa. Aber<br />

die blau oder braun getönen Szenerien und nächtlichen Visionen stammen von<br />

NA<strong>BA</strong>KAN, das ist Hisakazu Nakabayashi, ein Maler und Kinderbuchillustrator<br />

in Tokyo. Die kammermusikalische Stimmungsmalerei zu seinen langsam morphenden<br />

Laterna magica-Bildern von Häusern, Straßen, schattigen Landschaften,<br />

durch die sich dunkle Gestalten bewegen, von Vögeln, fallenden Blättern<br />

oder Wassertropfen, die schuf ATSUKO HATANO. Sie plonkt ihr Cello, spielt<br />

Geige, Einfingerpiano, Melodica(?), fast immer wie in Zeitlupe, simpel und ganz<br />

in Tristesse getaucht. Nakabans bewegte Gemälde nehmen ab und zu Farbtönungen<br />

an und erinnern dann an Malerei der 50er Jahre, Willi Baumeister z. B.<br />

Auf ‚Stone‘ folgt ‚Tree‘, auf ‚Tree‘ ‚Water‘, aufsteigende Blasen im Mitternachtsblau.<br />

Zum Abschluss singt Hatano mit Kinderstimme ein ganz wehmütiges, verhuschtes<br />

Lied. Happy Ends klingen anders. Hier bleibt alles Ton in Ton unheimlich<br />

und wie geträumt.<br />

Für Camera Lucida (L-NE, DVD Line 030) wurde ein physikalisches Phänomen<br />

genutzt, bei dem eine Flüssigkeit unter starken Druckschwankungen ultrakurze,<br />

hochenergetische Lichtblitze aussendet, seit seiner Entdeckung 1934 an der<br />

Universität Köln bekannt <strong>als</strong> Sonolumineszenz (von lat. sono „tönen“, luminesco<br />

„leuchten“). Dass die Video- & Installationskünstler EVELINA DOMNITCH &<br />

DMITRY GELFAND für das blau geisternde Bildschirmschonergeflimmer dabei<br />

tatsächlich physikalische Korrespondenzen zwischen den mikroelektronischen<br />

Sounds von Taylor Deupree + Richard Chartier, Alva Noto, Alexander<br />

Kaline, Asmus Tietchens, Kenneth Kirschner, Matmos, Coh und Carter<br />

Tutti sichtbar werden lassen, das verbreiten die sehr klein gedruckten Linernotes<br />

mit einiger Ausführlichkeit. Der ‚Mythos Basismaterial‘ siedelt das Geschehen<br />

an Physikalischen Instituten der Univ. Göttingen und in Japan an, nennt<br />

eine Reihe von Wissenschaftlern und ihr Rezept, per Ultraschall und einem Gemisch<br />

aus 97% Schwefelsäure und Xenongas, die implodierenden Mikrobläschen<br />

<strong>als</strong> blauen Dunst videografierbar zu machen. Ich kann in der reizvollen<br />

visuellen Chaotik zwar keinerlei dynamischen oder rhythmischen Zusammenhang<br />

zu den Klängen feststellen, was aber den psychedelischen Effekt der (auf<br />

schwarzer ‚Leinwand‘) ultramarin schimmernden und turbulent morphenden<br />

‚Wasserstrudel‘, gauloisblauen ‚Rauchkringel‘ und lumineszent tanzenden Glühwürmchen<br />

keineswegs mindert und der Schönheit der rasenden Lichtfäden und<br />

flüchtigen Leuchtspuren erst recht keinen Abbruch tut. Das zugehörige oder<br />

zumindest begleitende minimalistische Funkeln, sirrende Dröhnen, nadelspitze<br />

oder angeraute Pulsieren, kristalline Knistern, koboldige Zucken, sonore Tüpfeln,<br />

hauchdünne Schillern versetzt einen in synästhetische Verwirrung. Eine<br />

gutartige Verwirrung, die auf gutartige Klang- und Lichtgeister schließen lässt.<br />

75


Mit 23 ZOOMS (1000füssler, DVD-R, 60:24 + CD-R,<br />

<strong>55</strong>‘) vertiefte sich GREGORY BÜTTNER mit audiovisueller<br />

Akribie in Privatfotos, die er auf Flohmärkten<br />

gefunden hat. Die 23 Clips bestehen aus<br />

Zooms und Schwenks über Motive wie ‚junge mit<br />

flugzeug‘, ‚alter mann‘, ‚waldbank‘, ‚winterspaziergang‘,<br />

‚strandspiel‘, ‚frau auf schienen‘,<br />

‚<strong>als</strong>ter‘ oder ‚zimmer mit vase‘. Es sind Fotos in<br />

Schwarzweiß und in Farbe, manche verblasst,<br />

manche etwas unscharf, meist vermutlich aus<br />

den 50ern bis 70ern. Indem der Kamerablick ganz<br />

langsam die Bilder abtastet und erst allmählich<br />

von Details auf die Totale zurück fährt oder umgekehrt<br />

vom ganzen Motiv weg sich in Einzelheiten<br />

vertieft und darin à la Blow Up verliert, werden<br />

die Fotos zu riesigen Leinwänden, zu fotorealistischen<br />

Arbeiten von Gerhard Richter. Ausschnitte<br />

wirken dabei wie abstrakte Gemälde. Die<br />

Musik dazu ist kongenial unscharf, körnig oder<br />

weichgezeichnet, nostalgisch wie Philip Jeck, oft<br />

mit 40er Jahre-Touch. Mit patinierten Memories<br />

wie ‚Spanish Eyes‘ bei einem Senior, dem sein Kanarienvogel<br />

beim Briefschreiben über die Schulter<br />

blickt. Büttner scheint mit seinen Sounds &<br />

Visions die Fotos doppelzubelichten, mit einer<br />

psychologisierenden Einfühlsamkeit, die manchmal<br />

etwas geradezu Unheimliches in diesen eingefrorenen<br />

Momenten der Vergangenheit aufspürt.<br />

‚kinder im schnee‘ ist freiweg morbide,<br />

‚weihnachtsbaum‘, ‚schwestern‘ und ‚rote bowle‘<br />

gespenstisch, ‚gipfel‘ so erhaben erstarrt wie<br />

Caspar David Friedrichs Kreidefelsen und Eisschollen.<br />

Büttners Musik nimmt mehrm<strong>als</strong> Spieluhrcharakter<br />

an oder etwas Geisterhaftes, <strong>als</strong> ob<br />

sie aus dem Swedenborgraum herüber schallen<br />

würde, wie durch eine Membrane gefiltert. Sogar<br />

ein Dackel wird da zum Geisterhund, ein ‚zimmer<br />

mit vase‘ zu einem Stillleben verlorener Zeit. Ich<br />

selbst fand kürzlich auf dem Flohmarkt für 2 EUR<br />

ein schmales Buch von Wilhelm Genazino. Darin<br />

lese ich, wie er ebenfalls auf einem Flohmarkt auf<br />

eine Fotografie stieß, die ihn zu der Betrachtung<br />

‚Der gedehnte Blick’ anregte. Darin räsoniert er<br />

über die tragikomische Spiegelung der Melancholie<br />

der Welt im Blick der beiden Kinder auf dieser<br />

Fotografie. Über die Arbeit der Einbildungskraft.<br />

Über die Aporie, durch Spekulation die Welt verstehen<br />

zu können. Über den Umbau des kindlichen<br />

Verstehensoptimismus des Auges, das perplex<br />

ein Verstehenkönnen vertagen muss. Was<br />

sich niederschlägt <strong>als</strong> Melancholie oder zynische<br />

Erwachsenenvernunft. Vernunft heißt wissen,<br />

dass Bedeutung nur kurz <strong>als</strong> Epiphanie in einem<br />

Bedeutungstheater aufscheint. Ein erfahrener<br />

‚Konstrukteur des Schauens’ „bringt es fertig, aus<br />

stehenden Bildern bewegliche zu machen, weil er<br />

erfahren darin ist, sich etwas Totes <strong>als</strong> Lebendiges<br />

zu denken.“ Die 23 ZOOMS sind Übungen des<br />

‚gedehnten Blicks’. Und Büttner füllt zudem den<br />

blinden Fleck in Genazinos stummer Betrachtung<br />

– mit Musik, in der Erinnerungen und Sehnsucht<br />

gleichzeitig anklingen.<br />

76


LEST, IHR RATTEN<br />

Martin Schmidts kleines SURF BEAT-ABC (Ventil Verlag) kommt mir vor wie ein Mittelding<br />

zwischen der Sendung mit der Maus, allerdings mit Rat Fink <strong>als</strong> Maus, die einem<br />

erklärt, wer wer war (und ist) in der Surf- und Instromusik und wie die funktioniert, und<br />

einer Kochsendung – hier sind die Zutaten, für unser Rezept nimmt man seit 50 Jahren…<br />

Der Autor kennt sich in der Materie aus <strong>als</strong> Redaktionsmaus des Szenemagazins<br />

Banzai! und ist selbst Koch mit The Razorblades und <strong>als</strong> The Incredible Mr. Smith. Den<br />

Nachgeborenen muss man tatsächlich erst mal alles erklären: Was ne Danelectro ist,<br />

wozu man unbedingt ne Fender Stratocaster braucht, ne Gibson SG, Gretsch, Jazzmaster,<br />

einen Precision Bass und Fender Amps, welchen Stellenwert Glissandi einnehmen,<br />

Muted Picking oder der ‚Twang’ und wie der Surf Beat geht (durchgehende Achtel<br />

auf dem Ridebecken, Bassdrum auf der 1 und 3 und ein Snare-Doppelschlag auf dem 2.<br />

und -Einzelschlag auf dem 4. Beat). Die Rolle von Ikonen wie Batman und James Bond,<br />

von Biker- und Mafia-Movies, Italowestern, Tiki Culture, Goin’ Ape und dem ganzen Hawaii-Rave.<br />

Und die stilprägenden Hits der ersten Generation: ‚Rumble’ von Link Wray<br />

1958, ‚Apache’ von The Shadows, Henry Mancinis ‚Peter Gunn’ von Duane Eddy, ‚Walk,<br />

Don’t Run’ von The Ventures 1960, Joe Meeks ‚Telstar’ von The Tornadoes 1961, ‚Wipe<br />

Out’ von den Surfaris, ‚Miserlou’ von Dick Dale, ‚Pipeline’ von den Chanteys 1963. Wer<br />

wie ich 1954 geboren ist und <strong>als</strong> Kind mit Radio bedudelt wurde, der hat Instro-Schlüsselreize<br />

und -Prägungen intus vor allem durch Duane Eddys von Lee Hazelwood auf<br />

XXL aufgeblasene Twang-Monster, von ‚Rebel Rouser’ 1958 bis ‚Deep in the Heart of<br />

Texas’ und ‚Dance with the Guitar Man’ 1962. Mit Surfen hatte das selbst in Kalifornien<br />

nur am Rande zu tun. Was heute <strong>als</strong> skurriler Spleen erscheint, war, bevor es von der<br />

British Invasion weg gespült wurde, eine Hochzeit von Novelty-Sound, Style und Sophistication,<br />

mit dem Rumblin’ <strong>als</strong> Rebel-Credibilty und mit Mainstreamappeal nicht zuletzt<br />

durch die Lounge- und Exotica-Tunes <strong>als</strong> Traumkulisse, Lifestyledressing und Frostschutzmittel<br />

im Kalten Krieg.<br />

Die Beatles und die Stones waren nicht zuletzt deshalb so attraktiv, weil sie eine weit<br />

klarere Wasserscheide bildeten zwischen einer Youth Culture und bloßer Freizeitkultur.<br />

Was da nach 1963 passé gewesen war, erlebte zu Punk- und New Wave-Zeiten <strong>als</strong><br />

Zweite Welle und Surf Revival eine kaum bemerkte Wiederbelebung, mit Jon & The<br />

Nightriders <strong>als</strong> erfolgreichster Band und The Cruncher und Fenton Weills <strong>als</strong> Pionieren<br />

der deutschen Surf-Rezeption. All das wäre wohl kaum der Rede wert, gäbe es da nicht<br />

das Phänomen der 3rd Wave, das Schmidt <strong>als</strong> ‚Pulp Fiction und die Folgen’ überschreibt.<br />

Tarantinos Film und insbesondere der Soundtrack mit ‚Miserlou’, ‚Bustin’<br />

Surfboards’, ‚Comanche’ und ‚Surf Riders’ ließ Surf- und Instroaficionados wie Pilze<br />

sprießen und machte Surf Beats wieder zum internationalen Stil, mit Dutzenden von<br />

Bands von Belgien (Fifty Foot Combo) über Finnland (Laika & The Cosmonauts), Kanada<br />

(Shadowy Men on a Shadowy Planet) oder Kroatien (The Bambi Molesters) bis Norwegen<br />

(The Beat Tornados) und Schweden (Langhorns), mit The Mermen, Los Straightjackets,<br />

Man or Astro-man? und vor allem Slacktone in den USA selbst. Schmidt nutzt<br />

hier die Gelegenheit, die Krautsurf-Szene <strong>als</strong> eine besonders virulente zu präsentieren.<br />

Dass es sich tatsächlich um eine Szene handelt, vermittelt er mit ‚Surf Community – Labels,<br />

Fanzines, Websites, Radiowellen…’ Als ‚Artverwandtes’ mixt er dazu noch die B-<br />

52’s mit ihrem 50s-Flohmarkt-Pop, den Psychobilly von The Cramps, Brian Setzer mit<br />

seinem Neo-Rockabilly, den Trashfusel von The Turbo A.C.’s und Asbachspritzer wie<br />

John Barry, Martin Böttcher, Henry Mancini, Ennio Morricone, Peter Thomas zu einem<br />

Cocktail mit Green Onions von Booker T. & The MG’s, nach dem sogar Nichtschwimmer<br />

surfen könnten.<br />

Die lexikalische Darstellungsweise, die lauter einzelne Käsehäppchen an Plastikspießchen<br />

serviert, macht es schwer, sich eine Chronologie der Ereignisse zusammen zu<br />

reimen und popkulturelle Hall- und Echoeffekte im Zusammenhang & -klang zu erkennen.<br />

Als Appetizer und um Smalltalk-Kompetenz vorzugaukeln, reicht Schmidts Crashkurs<br />

aber locker aus. Wer den Geschmack intensivieren möchte, greift zu The Golden<br />

Age of Rock Instrument<strong>als</strong> von Steve Otfinoski, David Toops Exotica: Fabricated Soundscapes<br />

in a Real World und Elevator Music - A Surreal History of Muzak von Joseph<br />

Lanza oder hört sich an, wie Marc Ribot bei John Zorns The Gift seine Gitarre zum<br />

Surfbrett werden lässt.<br />

77


Unter extravagant versteht man das Gegenteil von edel und zurückhaltend, etwas<br />

Schrilles und Außergewöhnliches. Der <strong>als</strong> Veranstalter der Kieler ‚Sitzdisco’ Discohockern<br />

nicht ganz unbekannte Jens Raschke lädt unter dem Titel DISCO EXTRA-<br />

VAGANZA (Ventil Verlag) ein auf ‚Eine Reise ins Wunderland der sonderbaren Töne’,<br />

wobei ihm, wie schon Goethe erkannt hatte, Sonderbares hauptsächlich <strong>als</strong> das Unzulängliche<br />

und (nahezu) Unbeschreibliche entgegen schallt. Im angelsächsischen<br />

Raum ist dieses Sonderbare <strong>als</strong> ‚incredible strange’ bekannt. Seit V. Vales & A. Junos<br />

Incredible Strange Music (Re/Search, 1993/94) kann man sich sogar auf Jello Biafra<br />

berufen, wenn man etwa Klaus Beyer einem Nichtdeutschen begreiflich machen will<br />

– er ist ‚incredible strange’, seine Beatles-Lieder Songs in the Key of Z, wie Irwin Chusid,<br />

ein weiterer Kenner & Liebhaber von ‚Man muss es hören um es zu glauben-<br />

Musik’, das genannt hat. In der Disco Extravaganza tummeln sich Outsider neben Celebrities.<br />

Neben harmlosen Spinnern wie Alvin Dahn mit seinem Größenwahn oder<br />

dem paranoiden Marlin Wallace aka The Corillions, Menschen mit einem Draht zu höheren,<br />

zumindest extraterrestrischen Kräften, die ihnen den Floh ins Ohr setzen, unbedingt<br />

die Welt mit ihrer Musik beglücken zu sollen, findet man jene eitlen Tröpfe, die<br />

dem sprichwörtlichen Esel auf dem Eis noch die Schau stehlen wollen, indem sie zum<br />

Mikrophon greifen. Raschke kann in letzterer Kategorie mit mehr oder weniger mildem<br />

Spott Goldkehlchen vorführen wie William Shatner, Joseph Beuys, John Wayne<br />

und, etwas an den Rasputinhaaren herbei gezogen, Charles Manson. Die ‚Outsider’<br />

quellen gleich aus mehreren Schubladen: Als ‚Do It Yourself’ führt Raschke tragische<br />

Fälle vor wie den schwedischen Geek Anton Maiden (1980-2003) mit seinem Iron Maiden-Karaoke,<br />

Kuriosa wie die One Man Band Bob Vido (1915-1995) und das kultige<br />

The Langley Schools Project, bei dem der kanadische Lehrer Hans Fenger 1976/77<br />

seine Schüler Popsongs hatte singen und spielen lassen wie sie die Welt noch nicht<br />

gehört hatte. ‚Jenseits der Menopause’ begegnet man munteren Damen wie der<br />

Möchtegern-Operndiva Florence Foster Jenkins (1868-1944), die mit ihren Gejaule<br />

sogar die Carnegie Hall erschütterte, der neuseeländischen Krankenpflegerin Wing<br />

im Carpenters-, Elvis- und Abba-Delirium, das ihr einen Auftritt in South Park verschaffte,<br />

oder Lucia Pamela (1904-2002) und ihren Into Outer Space-Songs, für die<br />

auch schon Stereolab ein Faible entwickelte. Als ‚Joyful Noises’ präsentiert Raschke<br />

ein gewissermaßen spirituelles Sammelsurium (Anton Szandor LeVey, L. Ron Hubbard<br />

etc.) und <strong>als</strong> ‚Nicht von dieser Welt’ ein spiritistisches Völkchen vom EVP-Guru<br />

Friedrich Jürgenson (1903-1987), der bereits bei C. M. von Hausswolff wieder zu Ehren<br />

gekommen ist, über Rosemary Brown (1916-2001), der sämtliche Komponisten<br />

von Rang aus dem Swedenborgraum neue Kompositionen diktierten, bis zu Linda J.<br />

Polley, die einen entsprechenden Draht zu John Lennon hat. Das bunteste Völkchen<br />

rangiert ‚Draußen vor der Tür’ – der Urhippie Eden Ahbez (1908-1995), der den Nat<br />

King Cole-Hit ‚Nature Boy’ schrieb und dessen ‚Music of an Enchanted Isle’ schon von<br />

David Toop gewürdigt wurde; The Legendary Stardust Cowboy mit seinem enthusiastischen<br />

Rockabilly; die unvergleichlichen The Shaggs, deren ‚Philosophy of the World’<br />

natürlich auch meine Sammlung ziert; die von Gavin Bryars 1970 gegründete Portsmouth<br />

Sinfonia mit scratch-orchestralen Versionen von Popular Classics. Die schönsten<br />

Geschichten handeln von dem durch MT-Records hierzulande entdeckten John<br />

Trubee und der merkwürdigen Entstehung und dem Schicksal seines Song-Poems<br />

‚Peace & Lova’ aka ‚A Blind Man’s Penis’; von dem schwedischen Operettenkönig und<br />

Pornografen Johnny Bode (1912-1983), der 1968 mit ‚Bordell Mutters Songs’, gesungen<br />

von Lillemor Dahlqvist, ein ganzes Genre begründete; von der Space Lady, einer<br />

in den 70ern & 80ern mit ihrer ‚Amazing Thingz’-Kassette bekannt gewordenen Straßenmusikerin<br />

in San Francisco; und von The Golden Voyager Record, die, seit 1977<br />

unterwegs, mit Voyager 1 2004 unser Sonnensystem verlassen hat, um <strong>als</strong> musikalische<br />

Flaschenpost Zeugnis zu geben, dass Homo sapiens das Zeug hatte zum Homo<br />

ludens und Homo extravaganza. Raschkes launiger Ton, etwas zu cool, um tatsächlich<br />

zu staunen, hüpft hin und her zwischen Nerdiness, leicht herablassender Ironie<br />

und spöttischem Sarkasmus. Überhaupt können derartige Ablenkungsmanöver kaum<br />

vergessen machen, dass es Musiken gibt, vor denen man Herzen und Hirne tatsächlich<br />

besser bewahrt. Komischerweise landen die aber nur selten in den für ‚Outsider’<br />

reservierten Kuriositätensammlungen, sondern mit einem Konsens, der verschwörungstheoretische<br />

Neigungen in mir reizt, auf subventionierten Opernbühnen und in<br />

den Hitparaden. Daher merke: Zu wahrer Extravaganz gehört das Seltene und Unangemessene<br />

und ein gewisses Scheitern, dem dann eine Auferstehung und höhere<br />

Gerechtigkeit widerfahren kann (meist posthum <strong>als</strong> Sammlerpreis).<br />

78


Die #72, Juin 2007 von REVUE&CORRIGÉE, 48 S. stark und so<br />

französisch wie man linksrheinisch nun mal ist, stellt mich wie immer<br />

vor die Rätsel einer mir fremden Sprache. Was hat Adriano<br />

Celentano mit Robert Johnson zu tun? Wer ist Bernard Martin?<br />

Wer Französisch kann, erfährt es, ebenso wie er Interviews lesen<br />

kann mit dem Elektroakustiker Jean-Claude Risset, Overhang Party<br />

und ihrem Landsmann, dem Pianisten, Komponisten & Altmeister<br />

der Avantgarde Yuji Takahashi. In ‚On the Edge 2‘ folgen weitere<br />

Bestandsaufnahmen zum Tanztheater, wobei Mark Tompkins<br />

die Fragen in den Raum wirft. Dazu wurden wieder Disques belauscht<br />

von Acid Mothers Gong bis Windsleeper, wobei R&Cs Mann<br />

für das <strong>Bad</strong> <strong>Alchemy</strong>stische, Pierre Durr, wieder besonders große<br />

Ohren machte.<br />

Schaffhauser Jazzgespräche Edition 02 (Chronos Verlag)<br />

bündelt in Form von Vorträgen und Gesprächsrunden den Diskussionsstoff,<br />

der im Rahmen des Schaffhauser Jazzfestiv<strong>als</strong> das<br />

Selbstverständnis und den Stand der Dinge der Schweizer Jazzszene<br />

zum Gegenstand hatte. Intaktmacher Patrik Landolt hat<br />

2004-06 diese Veranstaltung organisiert, bei der Musiker, Veranstalter,<br />

Funktionäre, Multiplikatoren und Geldgeber sich die Köpfe<br />

zerbrachen über Swissness, Schweizer Kulturpolitik, Jazzförderung,<br />

Lobbying, Gagenelend etc. Der eine Komplex, der dabei umkreist<br />

wurde, ist der Paradigmenwechsel von Breiten- auf Spitzenförderung.<br />

Dass z.B. die Pro Helvetia nicht mehr nach Gießkannenprinzip<br />

verteilt, sondern statt dessen international vermarktbare<br />

Aushängeschilder von Jazz made in Switzerland beglückt wie<br />

Koch-Schütz-Studer und Lucas Nigglis Zoom. Dass Musiker sich<br />

mit 300 F-Gagen abspeisen lassen müssen, weil es einerseits ein<br />

Überangebot an Jazzschulabgängern und Doppelverdienern gibt<br />

und andererseits eine Nachfrage, die Events und bekannte Namen<br />

bevorzugt. Selbst im Zürcher Jazzclub Moods spielen unbekannte<br />

Schweizer Acts vor 12 Leuten. Omri Ziegele verlangt daher vehement<br />

Solidarität unter Kollegen, um sich für eine Umverteilung von<br />

Subventionen stark zu machen (wo Oper und Theater war, soll<br />

mehr Jazz werden). Das alte Lied. Jahrzehntelange ‚Geschmacks-<br />

Bildung‘ lässt gerade das zahlungskräftige Publikum, auf das das<br />

Sponsering etwa der Credit Suisse abzielt, nach biederer Unterhaltung<br />

in entspannter Atmosphäre oder nach Events verlangen,<br />

bei denen man dabei gewesen sein muss. Das Selbstverständnis<br />

von Musik, die mehr sein will <strong>als</strong> Entertainment, steht dadurch vor<br />

der Zerreißprobe, ob dieser Mehrwert zu einer Nachfrage passt.<br />

Dabei stehen Schweizer Jazzer bereits an sich vor der Frage, ob<br />

es sie überhaupt gibt. Sprechen sie etwas genuin (Afro)-Amerikanisches<br />

nur <strong>als</strong> Fremdsprache? Kopieren sie etwas, an dem ein<br />

Schweizer nicht wirklich ‚mit dem Herzen‘ dabei sein kann? Legt<br />

diese Exzentrität und ‚Fremdheit‘ nicht nahe, Wurzeln in der<br />

Schweizer Volksmusik zu schlagen, mit Gejodel und Alphorn an<br />

Heimatgefühle zu rühren und sich damit <strong>als</strong> Aushängeschild zu<br />

profilieren? Oder ist Swissness selbst bloß ein Konstrukt völkischer<br />

und nationaler Phantasmen des 19. Jhdts.? Aber ist dann<br />

der Jazz selbst nicht auch nur eine ‚kulturelle Konstruktion‘? Eine<br />

Transferleistung von Heimatlosen, für die nicht lange Wurzeln,<br />

sondern schnelle Lern- und Mischprozesse ausschlaggebend<br />

sind? Jazz ein „Zollgrenzenverspotter und Läufer, der überall ist“<br />

(J. Cortázar), ein Zigeuner, der in die Stadt kommt? ‚Suiza non<br />

existe‘ und ‚Beyond Swiss Tradition‘ springen über solche Fragen<br />

hinweg ins offene Überall, wie Christoph Merki bemerkenswert<br />

ausführt, wenn er den Jazz in der Schweiz <strong>als</strong> Teil einer globalen<br />

Lingua franca begreiflich macht. Joe Zawinul oder Irene Schweizer<br />

zeigen exemplarisch, dass individuelle Identitäten wichtiger<br />

sind, <strong>als</strong> dass die Ururoma aus Timbuktu kommt.<br />

79


Der 1951 in Den Haag geborene schrijver,<br />

zanger, filosoof & neerlandicus<br />

COR GOUT<br />

taugte mir in einem Beitrag zu Elend &<br />

Vergeltung bereits <strong>als</strong> ein Modell für<br />

‚Sophistication’. Den Stoff dafür liefert er<br />

mit dem speziellen Zuschnitt seiner Poesie.<br />

Er schreibt seine Songs überwiegend<br />

Englisch, vieles andere (Noirette, 2003, 78-<br />

45-16-33, de toerentallen van de pop,<br />

2005) in Niederländisch. Sophisticated daran<br />

ist nicht allein, wie Gout mit politischen<br />

Themen, literarischen Anspielungen, persönlichen<br />

Neigungen jongliert. Zu ‚Sophistication’<br />

gehören die Ausstrahlung von<br />

Geist, eine gewisse Eleganz und Empfindsamkeit<br />

für Feminines. Bei Gout geht sie<br />

soweit, sogar schwule Fußballer zu besingen.<br />

Ebenso unverzichtbar ist aber auch<br />

der Kurzschluss zwischen High und Pop<br />

Culture, wenn man so will zwischen Europa<br />

und Amerika. Die Problemsicht eines<br />

Alteuropäers, aber in 1000 populären Gestalten.<br />

Der ganze Horizont seiner Poesie<br />

ist nun aufgefächert in<br />

T r e s p a s s e r s W -<br />

l’intégrale 1984 à 2006:<br />

22 ans de chansons (RytRut),<br />

in französischer Übersetzung, für die Gout<br />

selbst zusammen mit Ladzi Galai gesorgt<br />

hat. Derart komprimiert, wird überdeutlich,<br />

mit welchem Stoff Gout seine Trespassers<br />

W-Songs fütterte – Spanischer Bürgerkrieg,<br />

Nation<strong>als</strong>ozialismus, Apartheid, Nicaragua,<br />

Jugoslawienkrieg -, welche Figuren<br />

ihn faszinieren – Artemesia Gentileschi,<br />

Ferdinand Domela Niewenhuis, Van<br />

Gogh, Mahler, Munch, Beckett, Saint-Exupery,<br />

Houdini, Carmen Miranda, Rock Hudson,<br />

Jacques Brel. Geschichte, Personen,<br />

Orte, Worte und wie sie in einem späteuropäischen<br />

Kopf herum rumoren. In einem<br />

‚Melancholy Man’, den nicht nur die<br />

‚Tränen eines Dodo’ trübsinnig stimmen,<br />

sondern die Veränderungen, die er an Den<br />

Haag (Flucht Over Den Haag, 2000) und<br />

Scheveningen (Scheveningen, op locatie,<br />

2001) beobachtet. ‚Nostalgie’ ist sein Leitmotiv<br />

von Dummy (1988) über Aimez-vous<br />

Trespassers W? (1990) und die Kinder EP<br />

(1991) bis The Drugs We All Need (2005).<br />

80


Seine Verehrer in St Mury-Monteymond<br />

glaubten, Gouts Anspielungsreichtum mit<br />

Fußnoten verständlich(er) machen zu<br />

müssen. [1984 ist von Huxley? Slapp Happy<br />

eine 1978 in Australien gegründete Band?<br />

Mon Dieu! Der in ‚Domela dans Het Bilt’ angesprochene<br />

Strauß ist nicht Ervin, sondern<br />

David Friedrich 1808-74] Mir wird dabei<br />

bewusst, mit wie vielen deutschen Motiven<br />

Gout sein Oeuvre gespickt hat. Mit<br />

Macht Kaputt und Kinder hat er gleich 2<br />

EPs deutsch getauft, erstere nach Ton<br />

Steine Scherben, letztere nach Bettina<br />

Wegner, von der er auch noch ‚Ikarus’ gecovert<br />

hat (zusammen mit ‚Sehnsucht’ zu<br />

finden auf Fly Up In The Face Of Life,<br />

1996). Auch das ‚Einheitsfrontlied’ (Brecht<br />

/ Eisler) hat sich Gout zu eigen gemacht.<br />

Auf der Punt-EP gibt es ‚Nussfarben’ und<br />

sogar ‚Deutsches Städtchen’. Auch tauchen<br />

deutsche Brocken wie ‚Wäschezettel’<br />

und „Zimmer frei“ (wobei sich das spöttisch<br />

auf die 1944 aus Paris abrückenden<br />

Wehrmachtstruppen bezog), Biedermeier,<br />

Sturm & Drang und Weimar bei Gout auf,<br />

Ludwig Feuerbach, Schopenhauer, Goethe,<br />

Gropius und die Comedian Harmonists<br />

explizit, Eichendorff, ETA Hoffmann und<br />

Storm implizit. Die ‚Reichsstraße 1’ zieht<br />

sich von Aachen nach Königsberg durch<br />

The Drugs We All Need (2005). Hitler, Göring<br />

und der Reichstagsbrand 1933 (für<br />

den ein Holländer hingerichtet wurde)<br />

geistern umher, ohne dass das Reich der<br />

Mäuse- und Erlkönige darauf reduziert<br />

wird. Wolfgang Staudtes Film Die Mörder<br />

sind unter uns (1946) wird erwähnt in<br />

‚Space for Thoughts’ (auf Leaping the<br />

Chasm, 2000). Doch im Grunde ist jedes<br />

Gout-Gedicht ein Raum für Gedanken. Die<br />

vor allem bei ‚Riefenstahl’ (auf 5, 4, 3, 2,<br />

1… 0, 1993) um Hybris und Blindheit kreisen:<br />

Ruf nach Authentizität, Ruf nach Vollkommenheit,<br />

Ruf nach Vernichtung der<br />

Veränderlichkeit des Zeitraums. Raum…<br />

dem Zorn… des Schimmelreiters. Denn<br />

Gout weiß, Nostalgie ist nichts anderes <strong>als</strong><br />

der ‚Ruf nach Vernichtung der Veränderlichkeit<br />

des Zeitraums’, daher: Go away,<br />

you’re not the kind of drug i need anyway.<br />

81


Cor Gout ist ein Word Artist, he fills Space with thoughts. Wie<br />

Chris Cutler oder Scott Walker reflektiert er Geschichte und Mythen<br />

in poetischen, oft scheinbar ephemeren, nicht selten witzigen<br />

Splittern. In ihnen fängt er die Nachwehen von Sturm & Drang<br />

und Biedermeier ein und das, was uns die Furie des Verschwindens<br />

raubt. Überspitzt gesagt, ist er ein exzentrischer deutscher<br />

Dichter, voller Wehmut und Sehnsucht, wie sie im Buche steht,<br />

aber gegengepolt mit der Sophistication, die hierzulande 1933<br />

die Koffer packen und Englisch lernen musste.<br />

Als Vorschlag für eine Rezeption ins Deutsche hab ich einfach<br />

mal versucht, ‚Save the Dormouse’ (aus 'The Ex-Yu-Single', 1998 /<br />

'Textuur') zu übersetzen. Gouts Collage aus Alice im Wunderland<br />

und Hamlet ist exemplarisch für seine Methode, Geschichte und<br />

Träume, Literatur, Phantasie und die Much-too-muchness der<br />

Realität anspielungsreich und wortspielerisch zu mischen.<br />

Save The Dormouse Schützt die Schlafmaus<br />

There was a table set out under a tree Da unter ‘nem Baum war ein Tisch gedeckt<br />

In front of a house which recently Vor einem Haus das kürzlich erst<br />

Had been shattered by a curtain fire Von Kugelhagel erschüttert gewesen<br />

Caused by militia who couldn't decipher Durch Miliz die den Namen nicht konnte lesen<br />

The name of the house painted on a sign Von dem Haus, gemalt auf ein Schild<br />

So they committed this senseless crime Das machte sie wohl so blindwütig wild<br />

There was a table set out under a tree Da unter ‘nem Baum war ein Tisch gedeckt<br />

A Hare and a Hatter were having tea at it Ein Märzhas’ und ein Hutmacher nippten dort Tee<br />

A Dormouse was sitting between them, sleeping Zwischen den beiden saß ‘ne Haselmaus und schlief<br />

And the other two had their elbows resting on it Und die beiden stützten ihre Ellbogen darauf<br />

Which to the Dormouse may have been unkind Für die Schlafmaus war das vermutlich ‘ne Qual<br />

But as it was asleep I think it wouldn't mind Aber da sie schlief war es ihr glaub ich egal<br />

But then to be or not to be, Doch Sein oder Nichtsein,<br />

In other words to die, to sleep, to dream, Anders gesagt, Sterben, schlafen, träumen<br />

that … is the question das … ist die Frage<br />

It's either taking arms against Entweder sich waffnen gegen<br />

A sea of troubles or suffering from them Eine See von Plagen oder daran leiden<br />

In frightening dreams which we would gladly In Schreckensträumen die wir viel lieber<br />

Farm out to the Dormouse Der Schlafmaus überlassen<br />

So let it guard our secret fears Sie soll unsre heimlichen Ängste hüten<br />

It will suppress them in its dreams Sie wird sie verdrängen in ihren Träumen<br />

And if it wakes up, it will be only Und wacht sie auf, dann nur um<br />

To sing 'Twinkle, twinkle, twinkle' ‘Funkel, funkel, funkel’ zu singen<br />

Or to tell you a senseless story Oder mit einem Schmarrn zu kommen<br />

About sisters drawing everything Von Schwestern die alles zeichnen<br />

That begins with an M, like 'muchness' Das mit M anfängt, wie ‘Manches Mal’<br />

So let's save the glorious Dormouse Lasst uns die prächtige Schlafmaus schützen<br />

Let's not put it away in a teapot, Wir wollen sie nicht in ne Teekanne stecken<br />

Because teapots will fly away to Denn Teekannen fliegen davon und<br />

Leave us behind with our nighmares Lassen uns mit unseren Alpträumen allein<br />

Let's put our trust in the Dormouse Wir wollen der Schlafmaus vertraun<br />

Let us place our fate in his dreams Unser Schicksal ihren Träumen überlassen<br />

Save the Dormouse, let's pay the Dormouse Schützt die Schlafmaus, zahlt an die Schlafmaus<br />

Our life insurance premiums Unsre Lebensversicherungsprämien<br />

82


- Miliz und Namensschild evozieren einen Schauplatz in Ex-Jugoslavien - Sein oder<br />

Nichtsein in konkretester Form<br />

- Vor dem Hause stand ein gedeckter Teetisch, an welchem der Märzhase und der<br />

Hutmacher saßen; eine Haselmaus saß zwischen ihnen, fest eingeschlafen, und die<br />

beiden Andern benutzen es <strong>als</strong> Kissen, um ihre Ellbogen darauf zu stützen... "Sehr<br />

unbequem für die Haselmaus" dachte Alice; "nun, da sie schläft, wird sie sich wohl<br />

nichts daraus machen."<br />

(Alice im Wunderland Die tolle Teegesellschaft)<br />

- Apropos Türschild: Neben dem Haus von Winnie-The-Poohs bestem Freund Piglet<br />

steht ein kaputtes Schild auf dem steht: "Trespassers W". Ferkel sagt, das wäre der<br />

Name seines Großvaters, und sei die Kurzform zu "Trespassers Will", was wiederum<br />

die Kurzform von "Trespassers William" sei. Übrigens hat auch A.A. Milne die Haselmaus<br />

poetisch verewigt: What shall I call My dear little dormouse? His eyes are small,<br />

But his tail is e-nor-mouse...<br />

- Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: / Ob's edler im Gemüt, die Pfeil’ und<br />

Schleudern / Des wütenden Geschicks erdulden, oder, / Sich waffnend gegen eine<br />

See von Plagen, / Durch Widerstand sie enden... Sterben – schlafen - Schlafen! Vielleicht<br />

auch träumen!<br />

- Twinkle, twinkle, little bat! / How I wonder what you’re at! / Up above the world you<br />

fly, / Like a tea-tray in the sky. Die Alice-Übersetzungen parodieren ersatzweise ‚O<br />

Tannenbaum’ mit O Papagei, o Papagei! Wie grün sind deine Federn! oder singen<br />

Tanze, tanze, Fledermaus. Das Original-Lullabye wurde eingedeutscht <strong>als</strong> ‚Funkle,<br />

funkle kleiner Stern, was du bist, das wüßt ich gern.’ Die Verwirrung komplett macht<br />

unser Hymnendichter Hoffmann v. Fallersleben, der zur gleichen Melodie ‚Morgen<br />

kommt der Weihnachtsmann‘ getextet hat, wobei auch hier die 1. Strophe nicht mehr<br />

gesungen wird. Der aus Alicens Wunderland entflogene ‚Flying Teapot‘ landete bekanntlich<br />

bei Gong.<br />

- …they drew all manner of things—everything that begins with an M—’…, such as<br />

mouse-traps, and the moon, and memory, and muchness— you know you say things<br />

are “much of a muchness“… (dt. ...und sie zeichneten Allerlei -; Alles was mit M anfängt<br />

-…wie Mausefallen, den Mond, Mangel, und manches Mal -, wobei ‚much of a<br />

muchness’ so viel wie ‚eins wie‘s andere’ heißt und das eigentlich gemeinte M-Wort<br />

‚mustard’ ist, Senf, dessen Schärfe bei Shakespeare schon die Augen wässerte und<br />

dadurch Titania so blind machte wie die Liebe blind macht, der bei Carroll jedoch <strong>als</strong><br />

verdauungsfördernder Traumarbeiter fungiert, <strong>als</strong> Gegengift gegen den Schlafmohn<br />

und die Pilzoptik, die Alice gefangen halten.<br />

83


Einen Moment, sagte der Fuchs zum Hasen<br />

2002 war schon? Na und? Ich kenne dieses aus der Bahn geradene<br />

Einmannorchester erst seit Kurzem. Und bin nach einem verwirrten<br />

Telefonat mit dem Künstler im unterfränkischen Euerhausen<br />

doppelt verwirrt. Statt wirrer und sonderbarer Töne eines Dilettanten<br />

auf der Suche nach Genialität sind UDO MADER mit seinen<br />

Fuchsbaumelodien (2002, Selbstverlag) im Mehrspurverfahren<br />

Songs & Instrument<strong>als</strong> gelungen mit soviel Lo-Fi-Charme und<br />

musikalischem Einfallsreichtum, dass sich Ironie und f<strong>als</strong>che<br />

Rücksicht erübrigen. Mader ist kein völlig unbeschriebenes Hinterwaldblatt.<br />

Der Dylan- und Dunaj-Fan mit Neigungen, seinen inneren<br />

Zengarten zu rechen, gleichzeitig aber die Verhältnisse, die<br />

nicht so sind, mit Kaurismäkiblick zu registrieren, hat in der Berliner<br />

Volksbühne und im Club der Polnischen Verlierer gespielt, Musik<br />

für internationale Modeschauen geschrieben und an der Musik<br />

für die ARD/BR-Doku Unter Deutschen Dächern (2000) mitgewirkt.<br />

Er ist Multiinstrumentalist mit einem Faible für Sperrmüllfunde<br />

oder Sammlerstücke, speziell für eine Naturfellrahmentrommel,<br />

ein kaputtes Hohner E-Piano und ein Knopfakkordeon mit klemmenden<br />

Knöpfen, die er neben Melodica, klassischer Gitarre, Kontrabass<br />

und Percussion verwendet. Für seine Bosselei bezeichnend<br />

ist z. B., dass er die Drumparts separat spielt und overdubt.<br />

So entstanden mit viel Liebe zum Detail eine Reihe von Stücken, zu<br />

straight für Antivolk, zu schräg für irgendwas Gängiges. Die<br />

Fuchsbaumelodien sind versponnen-fantasyhaft bei ‚Ice Palace‘,<br />

wüstenhaft-verdaddelt bei ‚Desert Desperado‘, mit schmachtendem<br />

Akkordeon bei ‚Na <strong>als</strong>o, es geht doch!‘, schnurrendem bei<br />

‚The Big Move‘, marschgetrommeltem bei ‚Karfreitag‘, gleichzeitig<br />

unamerikanisch und undeutsch, so dass sich schwer sagen lässt,<br />

wo dieser Fuchs sein Revier hat. Wäre ‚1-2-3 und nocheinmal‘<br />

nicht die perfekte Folklore für Heckenwirtschaftsgemütlichkeit?<br />

‚Fuchs‘ selbst und ‚Einen Moment‘ sind asiatisch getüpfelt, mit<br />

Gong und plonkiger Minimalpercussion, nur dass dazwischen<br />

‚Freiheit auf unserem Schiff‘ gegröhlt wird. Scherz? Ironie? Höherer<br />

Blödsinn? Was wäre dann das jazzige Schubidu von ‚Schoki<br />

Boki‘? Namen wie Karl Valentin oder Wolfgang Neuss nennt Mader<br />

mit mehr <strong>als</strong> nur Respekt. Seit Melchior (Aufmarsch der Schlampen)<br />

von H.N.A.S. war Germany selten so seltsam. ‚Lonesome Space‘<br />

pfeift sich eins in seiner Einsamkeit und auch der Vogel beim<br />

‚Konzert für einen ...‘ ist Mader selbst, der ‚Trickster‘ all dieser<br />

ausgefuchsten Melodien, der den Kragen hoch schlägt und pfeifend<br />

von dannen schlendert, während ENDE über die Leinwand<br />

flimmert.<br />

Seit 2003 feilt Mader an seinem Live-Programm „Ausser der Bahn<br />

is alles ausser der Bahn“ mit markanten Details wie einer Werksglocke<br />

beim Shanty ‚Freiheit auf unserem Schiff‘, das er mit Achim<br />

Reichel-Gusto vorgeträgt, oder Jagdhorn und Treibertrommel<br />

beim kindergeburtstagssimplen ‚Lied der Elefanten‘. ‚Lied für meine<br />

Schwestern und Brüdern‘ nutzt wieder die gespitzten Lippen<br />

<strong>als</strong> Melodieinstrument wie auch das zu einem Mader-Standard gewordene<br />

‚Konzert für einen Vogel‘, ein Prachtstück von Musica<br />

Nova im New Simplicity-Stil. ‚Karen‘ wiederum, mit dunklem Timbre<br />

direkt von Herz zu Herz gesungen, kann mit jedem Singer / Songwriter-Lovesong<br />

konkurrieren. Obwohl vertraut mit Aera-, Missus<br />

Beastly-, Embryo-Urgestein wie Freddy Setz, Jürgen Benz und Locko<br />

Richter, stellen sich keinerlei Kraut-Düfte ein. Mader ist auf<br />

seine eigene Weise eigen. Kein Wunder, dass er auf Kriegsfuß<br />

steht mit den normierten Freiheiten des Supermarktes, der sogar<br />

Individualität schon abgepackt zur Auswahl stellt.<br />

84


K O N T A K T A D R E S S E N<br />

12k/LINE - 63 Old Stone Hill Rd, Pound Ridge, NY 10576, U.S.A.; www.12k.com<br />

23five - www.23five.org<br />

7272 Music - 182 Mt. Tom Road, Northamton, MA 01060-4270, U.S.A.; www.7272music.com<br />

1000füssler c/o Gregory Büttner, T<strong>als</strong>tr.16, 20359 Hamburg, Germany; www.1000fussler.com<br />

Absinth Records - www.absinthrecords.com<br />

All About Jazz - www.allaboutjazz.com<br />

Alluvial Recordings - www.alluvialrecordings.com<br />

AltrOck - www.myspace.com/altrockproductions<br />

Ambiances Magnétiques - www.actuellecd.com<br />

A-Musik ( + Laden + Mailorder) - Kleiner Griechenmarkt 28-30, 50676 Köln, Germany; www.a-musik.com<br />

Antiinformation - www.0000-anti.info<br />

Aposiopèse Rec. - www.aposiopese.org<br />

Auf Abwegen - P.O. Box 100152, 50441 Köln; www.aufabwegen.com<br />

Avantgarde History / Rock History / Encyclopedia of New Music - www.scaruffi.com<br />

Ayler Records – www.ayler.com<br />

Bagatellen (Online-Magazin) - www.bagatellen.com<br />

Benbecula Records - www.benbecula.com<br />

Beta-Iactam Ring Records - www.blrrecords.com<br />

Bip_Hop - www.bip-hop.com<br />

CIMP/Cadence - www.cimprecords.com / www.cadencejazzrecords / www.cadencebuilding.com<br />

Collection cq - www.actuellecd.com<br />

Confront - www.confront.info<br />

Creative Sources Recordings - www.creativesourcesrec.com<br />

Cut - http://cut.fm<br />

D‘Autres cordes - Voie Romaine, 48100 La Monastier, France; www.myspace.com/dautrescordes<br />

Discographien - www.discogs.com<br />

Distile Records - www.distilerecords.com/<br />

Drone Records (+ Mailorder) c/o S.Knappe, Celler Str. 33, 28205 Bremen, Germany; www.dronerecords.de<br />

Editions Mego - www.editionsmego.com<br />

Empreintes Digitales - www.empreintesdigitales.com<br />

Euphonium - www.euphoniumrecords.com<br />

European Free Improvisation - http://www.shef.ac.uk/misc/rec/ps/efi/<br />

Extreme - PO Box 147, Preston VIC 3072, Australia; www.xtr.com<br />

Experimental Music Chronicled Hertz-Lion YIELD - www.hertz-lion.com<br />

Farai-Records - Stargarderstr.38, 10437 Berlin; www.farai-records.com<br />

Firework Edition Records - Sigfridswägen 6, 126 50 Hägersten, Sweden; www.fireworkeditionrecords.com<br />

For 4 Ears - Paradiesweg 10c, CH-4419 Itingen; www.for4ears.com<br />

Foxy Digitalis (Online-Magazin) - www.digitalisindustries.com/foxyd/index.php<br />

Geometrik Records - www.geometrikrecords.com<br />

Hausmusik - Waltherstr.1, 80337 München, Germany; www.hausmusik.com<br />

High Mayhem - www.highmayhem.org<br />

Honest Jons Records - www.honestjons.com<br />

Hux Records - www.huxrecords.com<br />

Intakt Records - Postfach 468, 8024 Zürich, Schweiz; www.intaktrec.ch<br />

Jazzland - www.jazzlandrec.com<br />

Korm Plastics - www.kormplastics.nl<br />

Last Visible Dog Records - PO Box 2631, Providence, RI 02906, U.S.A.; www.lastvisibledog.com<br />

The Leaf Label - www.theleaflabel.com<br />

Leo Records - 16 Woodland Avenue, Kingskerswell, Newton Abbot TQ12 5BB, UK; www.leorecords.com<br />

Lumberton Trading Company - www.lumbertontrading.com<br />

Marsh -Marigold Records - www.marsh-marigold.de<br />

Noble Records - www.noble-label.net<br />

No Man's Land (+ Mailorder) - Straßmannstr. 33, 10249 Berlin, Germany; www.nomansland-records.de<br />

NurNichtNur - Gnadenthal 8, 47533 Kleve, Germany; www.nurnichtnur.com<br />

Open Door (Mailorder) - Lauterbadstr. 12, 72250 Freudenstadt, Germany; www.open-door.de<br />

Ouie/Dire Production - 11 Rue St Louis, F-24000 Périgueux; http://ouiedire.com<br />

Own Records – PO Box 135, 4002 Esch/Alzette, Luxembourg; www.ownrecords.com<br />

Paris Transatlantic (Online-Magazin) - www.paristransatlantic.com/magazine<br />

pfMentum - www.pfmentum.com<br />

Pingipung c/o Dittberner, Bertha-von-Suttner-Str.10, 21335 Lüneburg; wwwpingipung.de<br />

PNL Records - www.paalnilssen-love.com<br />

Psi Records - www.emanemdisc.com/psi.html<br />

Quatermass - www.myspace.com/quatermassrecords<br />

Ragazzi Website für erregende Musik (Online-Reviews) - www.ragazzi-music.de<br />

RecRec (Laden + Mailorder) - Rotwandstr.64, 8004 Zürich, Schweiz; www.recrec.ch / www.recrec-shop.ch<br />

RéR Megacorp (+ Mailorder) - 79 Beulah Road, Thornton Heath, Surrey CR7 8JG; www.rermegacorp.com<br />

85


"revue & corrigée - 17, rue Buffon, 38000 Grenoble, Frankreich; revue-corrigee@caramail.com<br />

RytRut – http://rytrut.free.fr<br />

Der Schöne-Hjuler-Memorial-Fond - www.asylum-lunaticum.de<br />

Seven Things - www.seventhings.com<br />

Sijis Records - 2A Ropery Street, Mile End, London E3 4QF, UK; www.sijis.com<br />

Smalltown Superjazz - www.smalltownsupersound.com<br />

Soleilmoon Recordings- www.soleilmoon.com<br />

Sonic Arts Network - www.sonicartsnetwork.org<br />

Terrascope Online - www.terrascope.co.uk<br />

Third Ear Recordings - www.third-ear.net<br />

Tinstar Creative Pool - www.tinstarcreativepool.com<br />

Tocado-Records - www.tocado.com; www.myspace.com-tocadorecords<br />

Tosom Records - www.tosom.de<br />

Touch - www.touchmusic.org.uk<br />

Transacoustic Research - www.transacoustic-research.com<br />

Type Records - www.typerecords.com<br />

Tzadik - www.tzadik.com<br />

Unhip Records - www.unhiprecords.com<br />

Ventil Verlag - www.ventil-verlag.de<br />

VIA - www.vialka.com<br />

Victo - www.victo.qc.ca<br />

Vital Weekly (Online-Reviews) - www.vitalweekly.net<br />

club W71 - www.clubw71.de; http://de.wikipedia.org/wiki/Club_W71<br />

HERAUSGEBER UND REDAKTION:<br />

Rigo Dittmann [rbd] (VISDP)<br />

REDAKTIONS- UND VERTRIEBSANSCHRIFT:<br />

R. Dittmann, Franz-Ludwig-Str. 11, D-97072 Würzburg<br />

E-mail: bad.alchemy@gmx.de • www.badalchemy.de<br />

<strong>BA</strong>D ALCHEMY # <strong>55</strong> (p) Juli 2007<br />

MITARBEITER DIESER AUSGABE:<br />

Guido Zimmermann, Michael Zinsmaier<br />

Fotos:: Schorle Scholkemper 3, 5, 6, Gerard Anderson 22, Caroline Forbes 36,<br />

Anna van Kooji 43, Claudio Casanova 47, GZ 56<br />

Illustrationen: Jeffrey Cathrine Jones 73, John Tenniel 1, 81, Ror Wolf 88<br />

Alle nicht näher gekennzeichneten Texte sind von rbd, alle nicht anders bezeichneten Tonträger sind<br />

CDs, was nicht ausschließt, dass es sie auch auf Vinyl gibt<br />

<strong>BA</strong>D ALCHEMY erscheint ca. 3 mal jährlich und ist ein Produkt von rbd<br />

Zu <strong>BA</strong> <strong>55</strong> erhalten Abonnenten die Fuchsbaumelodien von UDO MADER<br />

Für <strong>BA</strong> 56 geplant ist eine Rmx-CD-R des Memminger Labels TOSOM<br />

Als back-issues noch lieferbar -Magazin mit 7" EP: <strong>BA</strong> 32, 33, 35 bis 42<br />

nur Magazin: <strong>BA</strong> 43, 45, 46, 52 - 54<br />

Einige Leseproben findet man unter http://stefanhetzel.de/esszumus.html,<br />

die <strong>vergriffen</strong>en Nummern <strong>BA</strong> 44, 47, 48, 49, 50 <strong>als</strong> pdf-download auf www.badalchemy.de<br />

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Preise inklusive Porto<br />

Inland: <strong>BA</strong> Mag. only = 3,85 EUR Back-issues w/CD-r = 7,45 EUR Abo: 4 x <strong>BA</strong> w/CD-r = 27,80 EUR*<br />

Europe: <strong>BA</strong> Mag only = 5,- EUR Back-issues w/CD-r = 10,50 EUR Abo: 4 x <strong>BA</strong> w/CD-r = 40,- EUR **<br />

overseas: <strong>BA</strong> Mag only = 5,- EUR Back-issues w/CD-r = 12,- EUR Abo: 4 x <strong>BA</strong> w/CD-r = 46,- EUR***<br />

[* incl. 5,80 EUR / ** incl. 18,- EUR / *** incl. 24,- EUR postage]<br />

Payable in cash or i.m.o. oder Überweisung auf nachstehendes Konto:<br />

R. Dittmann, Sparkasse Mainfranken, Konto-Nr. 2220812, BLZ 790 500 00<br />

I<strong>BA</strong>N: DE08 7905 0000 0002 2208 12 SWIFT-BIC: BYLADEM1SWU<br />

86


I N H A L T:<br />

3 PAAL NILSSEN-LOVE<br />

5 THE THING vs ZU: LIVE IM W71<br />

7 JOHN ZORNS POSSESSIONS<br />

10 BELGIAN SOUNDSCAPES: HALF ASLEEP - IGNATZ (Michael Zinsmaier)<br />

49 DAS POP-ANALPHABETH: BEINS - RLW<br />

56 DER PROVOKATEUR UND DIE DAME: KOMMISSAR HJULER UND FRAU<br />

75 SOUND AND VISION<br />

77 LEST, IHR RATTEN: DISCO EXTRAVAGANZA - SURF-BEAT ABC<br />

80 COR GOUT: SAVE THE DORMOUSE<br />

84 UDO MADER: FUCHS<strong>BA</strong>UMELODIEN<br />

ALTrOCK 15 - CIMP/CADENCE 16 - CREATIVE SOURCES 19 - CUT 20 - EMPREINTES<br />

DIGITALES 21 - EXTREME 22 - FARAI 23 - FIREWORK EDITION 24 - HIGH MAYHEM 25<br />

INTAKT 26 - LAST VISIBLE DOG 27 - LEO 30 - pfMENTUM 34 - PSI 35 - RUNEGRAMMO-<br />

FON 38 - 7HINGS 40 - TOCADO 42 - TOSOM 44 - TOUCH 45 - VICTO 46<br />

ALLEN, MARSHALL 18 - ALOG 38 - AREA C 28 - ASHEIM, NILS HENRIK 45 - ATOMIC 3 - <strong>BA</strong>LANESCU,<br />

ALEXANDER 33 - <strong>BA</strong>RK! 36 - BEINS, BURKHARD 49 - BERTHIAUME, ANTOINE 49 - BESSER, JO-<br />

NATHAN 34 - BISIO, MICHAEL 17 - BORBETOMAGUS 48 - BRAXTON, ANTHONY 32 - THE BRILLIANT<br />

DULLARDS 25 - BROWN, CHRIS 19, 26 - BRZYTWA, MARYCLARE 49 - BÜTTNER, GREGORY 73, 76 -<br />

CAN_OF_BE 42 - CARROLL, ROY 30 - CASSERLEY, LAWRENCE 35 - CATLIN, TIM 49 - CHISHOLM, HAY-<br />

DEN 64 - CLINE, NELS 46 - COPELAND, DARREN 21 - DAS SYNTHETISCHE MISCHGEWEBE 50 - DEL-<br />

BECQ, BENOIT 35 - DESORGHER, SIMON 35 - DOMNITCH, EVELINA 75 - DÖRNER, AXEL 50 - DOW-<br />

LING, PETER 40 - EASTLEY, MAX 66 - EGLE SOMMACAL 51 - DIETER EICHMANN ENSEMBLE 31 - ELEC-<br />

TRIC MASADA 7 - ELGGREN, LEIF 24 - ELLIS, BRIAN 51 - ENDERS, ERIKA 75 - ERGO PHIZMIZ 61 -<br />

EYES LIKE SAUCERS 29 - FAGO SEPIA 51 - FENNESZ 45 - FERRARI, LUC 41 - FILIANO, KEN 16 -<br />

fORCH 37 - FORMICATION 52 - FRITH, FRED 26 - SATOKO FUJII MIN-YOH ENSEMBLE 47 - FULLMAN,<br />

ELLEN 20 - FUNCTION 52 - GAUCI, STEPHEN 17 - GELFAND, DMITRY 75 - GENARO 53 - GIES, JOA-<br />

CHIM 30, 31 - GRASSI, LOU 18 - GRATKOWSKI, FRANK 31 - GRID MESH 23 - GRIENER, ULRICH 26, 31,<br />

68 - GROSSE ABFAHRT 19 - GUILLAMINO 53 - GUMPERT, ULRICH 26 - GUY, <strong>BA</strong>RRY 37 - HALF ASLEEP<br />

11 - HANEY, DAVID 16 - HANNAFORD, MARC 22 - HARRY MERRY 42 - HATANO, ATSUKO 75 - HAUSS-<br />

WOLFF, CM v. 24 - HIJOKAIDAN 48 - HOLMES, A.J. 54 - HOULE, FRANÇOIS 35 - HUHTA, JEAN-LOUIS<br />

53 - THE IDLE SUITE 27 - IGNATZ 13 - IRVINE, ZOE 40 - KATAMINE 54 - KELSEY, CHRIS 17 - KEUNE,<br />

STEFAN 19 - KOMMISSAR HJULER 57 - KRÄMER, ACHIM 19 - KTL <strong>55</strong> - KYRIAKIDES, YANNIS 40 - LANE,<br />

ADAM 18 - THE LATE SEVERA WIRES 25 - LES KLEBS <strong>55</strong> - LEWIS, GEORGE 37 - STEUART LIEBIG MI-<br />

NIM 34 - LILJENBERG, THOMAS 24 - LOPEZ, RAMON 33 - LUSHUS 43 - LYTTON, PAUL 37 - MACHINE-<br />

FABRIEK 58 - MANDERSCHEID, DIETER 31 - MARHAUG, LASSE 4, 45 - MARTIN, AARON 58 - MARUCCI,<br />

MAT - 16 - MATTIN 41 - MEEHAN, SEAN 20 - MERKEL, CLEMENS 58 - MIKHAIL 59 - MOHA! 39 - MOOR,<br />

ANDY 40 - MOORE, ADRIAN 21 - MORGENSTERN, JÜRGEN 59 - MURCOF 60 - NA<strong>BA</strong>KAN 75 - NA<strong>BA</strong>-<br />

TOV, SIMON 31 - NAD SPIRO 60 - NAMCHYLAK, SAINKHO 30 - NEWTON, LAUREN 30, 31 - NMPERING<br />

40 - SEAN NOONAN BREWED BY NOON 61 - OPSVIK & JENNINGS 38 - ORIGINAL SILENCE 4 - PALES-<br />

TINE, CHARLEMAGNE 40 - PARKER, EVAN 35, 36, 37 - PARKINS, ANDREA 46, 47 - PASK, ANDREW 34 -<br />

PEOPLE LIKE US 61 - PETROVA, EVELYN 33 - PHONO 62 - PINX 23 - PJUSK 62 - PRIESTER, JULIAN<br />

16 - PURE SOUND 63 - PUSH THE TRIANGLE 63 - RAINEY, TOM 46 - RATIONAL DIET 15 -<br />

REVUE&CORRIGÉE 79 - RIBOT, MARC 7, 61 - RICHTER, MAX 41 - RLW 72 - ROBERTSON, HERB 31 -<br />

RST 28 - SAKAMOTO, RYUICHI 45 - SAUNDERS, JAMES 64 - SCHMICKLER, MARCUS 64 - SCHNEIDER,<br />

HANS 19 - SIGNAL QUINTET 20 - SIGNAL TO NOISE 65 - SIX TWILIGHTS 65 - SOFT MOUNTAIN 66 -<br />

SPACEHEADS 66 - THE STILETTOS 43 - STÖMA 43 - THE STUMPS 28 - SUICIDAL BIRDS 43 - SVENS-<br />

SON, PER 24 - SWIMS 67 - TARAB 67 - THE TERMINALS 29 - THIEKE, MICHAEL 68 - THE THING 5 -<br />

THIS YEARS‘S MODEL 68 - TROYER, ULRICH 69 - ULTRALYD 39 - UNDERGROUND JAZZ TRIO 33 - V/A<br />

CAMERA LUCIDA 75 - V/A CROWS OF THE WORLD VOL.1 27 - V/A DAS DIETER ROTH ORCHESTER<br />

SPIELT KLEINE WOLKEN, TYPISCHE SCHEISSE UND NIE GEHÖRTE MUSIK 73 - V/A DESERT SPACE<br />

44 - V/A FREE ZONE APPLEBY 2006 36 - V/A FREI<strong>BA</strong>ND RMX 71 - V/A HEIZUNG RAUM 318 73 - V/A LEO<br />

RECORDS 25TH ANNIVERSARY LOFT, KÖLN 31 - V/A OTHERNESS 74 - V/A SCHAFFHAUSER JAZZGE-<br />

SPRÄCHE 79 - V/A STAINLESS 42 - VIALKA 70 - VINCS, ROBERT 22 - VINTAGE 909 41 - VÖLKER, UTE<br />

75 - WAARD, FRANS DE 71 - WEBB, DOUG 16 - WEBER, CHRISTIAN 20, 65, 68 - WESTON, MATT 69 -<br />

WHITE, SIMONE 69 - YUGEN 15 - Z‘EV 71, 74 - ZORN, JOHN 7 ff - ZU 5

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